Al-Andalus - ein Mythos der Toleranz oder Wirklichkeit?

Artikel 08.08.2016 Redaktionsteam

Der vorliegende Artikel befasst sich mit al-Andalus, dem islamischen Herrschaftsgebiet auf der Iberischen Halbinsel von 710 bis 1492 nach Christus und der Frage, ob diese Zeit des Zusammenlebens von Muslimen, Christen und Juden von einer Toleranz geprägt war, die uns auch heute noch im interreligiösen und interkulturellen Dialog als Vorbild dienen könnte.


"Der Reiz Spaniens ist es, der Ort zu sein, wo Orient und Okzident einander begegnet sind."1
Émile Mâle2

Der Islam hat in Europa vielerorts Wurzeln geschlagen und ist in Russland und Südosteuropa bis heute präsent. Der größte Einfluss, den die islamische Welt auf Europa ausgeübt hat, ist in Spanien zu finden. Spanien war unter allen südeuropäischen Ländern am längsten unter arabischer Herrschaft und dort konnte sich eine Symbiose zwischen Muslimen, Christen und Juden entwickeln.3

Al-Andalus war ursprünglich die arabische Bezeichnung für die Iberische Halbinsel, wurde dann aber zu einem Namen für den islamischen Herrschaftsbereich in diesem Gebiet, für das islamisch beherrschte Hispanien.4 Dieses Gebiet umfasste auch das heutige Andalusien, dessen Name sich von al-Andalus ableitet. Die islamische Herrschaft auf der Iberischen Halbinsel dauerte von 710 bis 1492 an, fast achthundert Jahre. Al-Andalus war aber nicht nur islamisch-arabisch geprägt. Die Besonderheit des maurischen Spaniens war das Zusammenleben von Angehörigen der drei monotheistischen Religionen. Diese Gemeinschaft, die zwar nicht konfliktfrei, aber doch kooperativ war, hat die Geschichte Spaniens sehr geprägt.5

Im Jahre 710 n. Chr. landete der Berber Ṭarīf ibn Mālik mit einer kleinen Erkundungstruppe in Spanien. Der südspanische Ort Tarifa erinnert noch heute an ihn. Den Muslimen wurde kaum Widerstand entgegengebracht und sie konnten mit reicher Beute nach Hause zurückkehren. Dieses Ereignis ließ eine größere Militärexpedition folgen. 711 n. Chr. überquerte der Berber Tāriq ibn Ziyād mit seinen Truppen die Meerenge von Gibraltar. Der Name Gibraltar stammt aus dem Arabischen (Jabal Ṭāriq "Berg des Tarik"). Er konnte mit circa 12.000 Soldaten die Iberische Halbinsel einnehmen, die damals von den Westgoten beherrscht wurde. Sein Erfolg war so beachtlich, dass er gegen ausdrücklichen Befehl die Eroberung des Landes fortsetzte und Toledo einnehmen konnte. In der Folge kam der Gouverneur Nordafrikas, Mūsā ibn Nuṣair, mit neuen Truppen ins Land und innerhalb weniger Jahre konnte die gesamte Halbinsel erobert werden.6 Ausgenommen waren nur kleine Gebiete im Norden und Nordwesten. In diesen Rückzugsgebieten der Christen begann die Gegenreaktion, die "Reconquista".7

Neben den militärischen Auseinandersetzungen wird die muslimische Präsenz in Spanien auch mit einem kulturellen und wissenschaftlichen Aufschwung und einem für die damalige Zeit relativ fortschrittlichen Umgang mit Andersgläubigen in Verbindung gebracht.

Der Höhepunkt dieses Aufschwunges fällt in die Herrschaftszeit des Umayyaden ʿAbd ar-Raḥmān III. (gest. 961 n. Chr.). Die Moschee von Córdoba, die zu dieser Zeit vollendet wurde, wird als das eindrucksvollste Beispiel maurischer Baukunst angesehen.8 Córdoba war zu dieser Zeit sowohl in kultureller als auch wirtschaftlicher Hinsicht einzigartig, mit tausenden Läden, Moscheen, Bädern und fließendem Wasser, gepflasterten Straßen mit Beleuchtung und nicht zu vergessen der Bibliothek des Kalifen (nur eine von 70) mit 400 000 Büchern.9

Die Mehrheit der Christen bekehrte sich sehr bald zum Islam, sie wurden "Muwalladūn" genannt. Das Wort "Mulatte" geht über das spanische "Muladí" auf "Muwalladūn" zurück. Der andere Teil der Christen in al-Andalus blieb zwar der Religion treu, nahm aber immer mehr arabische Einflüsse auf. Der islamische Staat gab den Christen und Juden das Recht, ihre Religion weiter auszuüben und ihre kirchliche Organisation auszuführen, allerdings mit gewissen Einschränkungen.10 Die arabisch-islamische Kultur übte auf viele Christen einen großen Reiz aus, sodass sie sich freiwillig in das arabisch geprägte Umfeld einfügten. Ihre Bezeichnung "Mozaraber" leitet sich von dem arabischen Wort "Musta'rib" ab, was "arabisiert" bedeutet. Viele von ihnen waren in der Verwaltung tätig und spielten im kulturellen Leben eine große Rolle. Besonders die gehobenen Kreise lernten Arabisch als Zweitsprache.11 Vereinzelt konvertierten auch Juden zum Islam. Insgesamt gesehen erging es den Juden unter der muslimischen Herrschaft besser als unter der Herrschaft des Christentums, des Römischen und des westgotischen Reiches. Dies hat mehrere Gründe, wie den eindeutigen Monotheismus der Juden und Muslime, ähnliche Reinheits- und Speisegebote, die Verwandtschaft des Hebräischen mit dem Arabischen, aber auch die allgemein verbindliche Rechtspraxis mit gesicherten Rechten im islamischen Reich.12

Die Historiker sind sich nicht einig, was die Qualität des Zusammenlebens der Angehörigen der drei monotheistischen Religionen betrifft. Für den spanischen Kulturhistoriker Américo Castro (gest. 1972 n. Chr.) war es ein goldenes Zeitalter, während der in Madrid lebende Arabist Serafín Fanjul dieser Sichtweise gänzlich widerspricht.13 Castro prägte den Begriff der "Convivencia" für das Zusammenleben der muslimischen, jüdischen und christlichen Kultur auf der Iberischen Halbinsel während des Mittelalters. Seiner Meinung nach wurde diese Zeit von Toleranz geprägt. Die Araber gestatteten den Christen und Juden die Ausübung ihrer Religion, auch wenn ihnen öffentliche religiöse Veranstaltungen sowie Bekehrungsversuche untersagt waren.14

Hispanien wurde tiefgreifender vom Islam durchdrungen als alle anderen Gebiete Westeuropas. Diese oft als "Maurisches Spanien" bezeichnete Zeitspanne ist von großer Wichtigkeit sowohl für die Geschichte Spaniens als auch für Europa. Es war eine Zeit voller Glanz und auch Tragik und die Auswirkungen reichen bis in unsere Gegenwart.15 Al-Andalus war der Ort, an dem die Ideen des arabischen Denkens an Europa weitergegeben und die großen Traditionen der Philosophie und Wissenschaft weiterentwickelt worden sind. Einige der berühmtesten Denker und Wissenschaftler der islamischen Welt kommen aus al-Andalus,16 wie zum Beispiel der bedeutende Dichter Ibn Zaydūn (gest. 1070 n. Chr.), die Philosophen Ibn Ḥazm al-Andalusī (gest. 1064 n. Chr.), Ibn Bāǧa (gest. 1138 n. Chr.) und der bekannteste Ibn Rušd (gest. 1198), auch bekannt als Averroes, der Astronom Maslama al-Maǧrīṭī (Der Madrilene, gest. 1007 n. Chr.), der Mathematiker az-Zarqālī (gest. 1087 n. Chr.) oder der Arzt Ibn al-Ḫaṭīb (gest. 1374 n. Chr.), um nur einige zu nennen.17 Der Dichter und Gelehrte ʿDer D Ibn Firnās (gest. 887 n. Chr.) führte das Dezimalzahlensystem in al-Andalus ein und in weiterer Folge damit auch in Europa. Viele weitere Errungenschaften wurden außerdem von al-Andalus an das mittelalterliche Europa weitergegeben, neben der Papiertechnik Techniken der Metall- und Keramikherstellung, des Bauwesens, der Weberei und insbesondere der Landwirtschaft.18

Auch wenn die Experten über die Qualität der damaligen Toleranz gegenüber Andersgläubigen uneinig sind, und diese ohnehin dem gegenwärtigen Verständnis von religiöser Toleranz nicht gerecht werden kann, so steht fest, dass al-Andalus für die damalige Zeit der toleranteste und fortschrittlichste Teil Europas war und seine Errungenschaften von welthistorischer Bedeutung sind.19 Das Bewusstsein, dass Europa zu einem Teil muslimisch war und zum zivilisatorischen Aufbau Europas beigetragen hat, kann zu einer Verwurzelung und Integration der Muslime in Europa beitragen und das Zusammenleben in religiöser und weltanschaulicher Pluralität fördern.20

1 André Clot: Al Andalus. Das maurische Spanien, Düsseldorf: Artemis & Winkler 2002, S. 305.

2 Émile Mâle (gest. 1954 n. Chr.) war ein französischer Kunsthistoriker.

3 Vgl. Annemarie Schimmel: West-östliche Annäherungen. Europa in der Begegnung mit der islamischen Welt, Stuttgart: Kohlhammer 1995, S. 20.

4 Hispanien war in der Antike der lateinische Name für die Iberische Halbinsel.

5 Vgl. Georg Bossong: Das maurische Spanien. Geschichte und Kultur (= Beck'sche Reihe C.H.Beck Wissen, Band 2395), München: C.H.Beck 2007, S. 9.

6 Vgl. Alfred Schlicht: Die Araber und Europa. 2000 Jahre gemeinsamer Geschichte (= Europa), Stuttgart: Kohlhammer 2008, S. 29.

7 Vgl. ebd., S. 30.

8 Vgl. A. Schimmel, S. 20.

9 Vgl. Hans Küng: Der Islam. Geschichte, Gegenwart, Zukunft (= Serie Piper, Band 4709), München: Piper 2006, S. 461.

10 Vgl. A. Schlicht, S. 31.

11 Vgl. ebd., S. 32.

12 Vgl. H. Küng, S. 459.

13 Vgl. ebd., S. 461.

14 Eduardo M. Moreno: "Al-Andalus: Austausch und Toleranz der Kulturen. Das Islamische Zeitalter der Iberischen Halbinsel in Ideologie, Mythos und Geschichtsschreibung", in: Martina Fischer (Hg.), Fluchtpunkt Europa. Migration und Multikultur, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998, S. 93-120, hier S. 104.

15 Vgl. G. Bossong, S. 7.

16 Vgl. ebd., S. 79.

17 Vgl. Bacem Dziri: "Al-Andalus: Wurzeln einer europäisch-islamischen Kultur", in: Bülent Ucar (Hg.), Islam im europäischen Kontext. Selbstwahrnehmung und Außensichten, Frankfurt: Peter Lang Verlag 2013, S. 419-436, hier S. 429ff.

18 Vgl. ebd. S. 434.

19 Vgl. G. Bossong, S. 420.

20 Vgl. B. Dziri, S. 435.

Bossong, Georg: Das maurische Spanien. Geschichte und Kultur (= Beck'sche Reihe C.H.Beck Wissen, Band 2395), München: C.H.Beck 2007.

Clot, André: Al Andalus. Das maurische Spanien, Düsseldorf: Artemis & Winkler 2002.

Dziri, Bacem: "Al-Andalus: Wurzeln einer europäisch-islamischen Kultur", in: Bülent Ucar (Hg.), Islam im europäischen Kontext. Selbstwahrnehmung und Außensichten, Frankfurt: Peter Lang Verlag 2013, S. 419-436.

Lowney, Chris: A Vanished World. Muslims, Christians, and Jews in Medieval Spain, Oxford: Oxford University Press 2006.

Menocal, María R./Bloom, Harold/Thies, Henning: Die Palme im Westen. Muslime, Juden und Christen im alten Andalusien, Berlin: Kindler 2003.

Moreno, Eduardo M.: "Al-Andalus: Austausch und Toleranz der Kulturen. Das Islamische Zeitalter der Iberischen Halbinsel in Ideologie, Mythos und Geschichtsschreibung", in: Martina Fischer (Hg.), Fluchtpunkt Europa. Migration und Multikultur, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998, S. 93-120.

Schimmel, Annemarie: West-östliche Annäherungen. Europa in der Begegnung mit der islamischen Welt, Stuttgart: Kohlhammer 1995.

Schlicht, Alfred: Die Araber und Europa. 2000 Jahre gemeinsamer Geschichte (= Europa), Stuttgart: Kohlhammer 2008.

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