Al-Ġazzālī – Zwischen Anmerkung und Kritik

Artikel 09.08.2016 Redaktionsteam

Der vorliegende Artikel beschäftigt sich mit dem muslimischen Theologen al-Ġazzālī, der wie kein anderer einerseits als Erneurer verehrt, anderseits jedoch als Galionsfigur des Niederganges in der islamischen Philosophie kritisiert wurde.


Al-Ġazzālī wurde 1058 in Ṭūs, in der Nähe des heutigen Maschhad im Iran, geboren. Er genoss eine klassische Ausbildung und studierte islamisches Recht und Mystik in ğurğān bzw. Nīšāpūr und war Schüler des berühmten Enzyklopädisten Imām al-ḥaramayn Abu al-Maʿālī al-ğuwaynīs. Der sehr bedeutsame Rechtswissenschaftler, Theologe und Philosophiekenner wurde im Alter von dreiunddreißig Jahren (1091) zum Professor an der neu gegründeten Niẓāmīya Akademie in Bagdad ernannt, jedoch musste er diese Stelle nach vier Jahren aufgrund einer seelischen Erkrankung aufgeben.1 Nach diesem Ereignis schien ihm seine Lehrtätigkeit bedeutungslos geworden zu sein, so zog er sich zurück und widmete sich der Spiritualität.2 Im Zuge dieser inneren Krise und auf der Suche nach Wahrheit begab er sich daraufhin auf eine Reise nach Damaskus, Jerusalem sowie Hebron und pilgerte letztlich nach Mekka. Nach etwa zehn Jahren, geprägt durch unzählige Erlebnisse, kehrte al-Ġazzālī nach Ṭūs zurück und fand den inneren Frieden bei den mystischen Derwischen. So lautet sein berühmtes Zitat: "Wo das Denken an seine äußerste Grenze geführt werde, beginne die Wahrheit der Mystik."3 In den zehn Jahren voller Einsamkeit schrieb er außerdem zwei wichtige Werke, nämlich Iḥyāʼ ʿulūmu d-dīn (Die Wiederbelebung der Religionswissenschaften) und Tahāfut al-falāsifat (Die Widerlegung der Philosophen).4 Im ersteren behandelt er Themen wie beispielsweise gottesdienstliche Handlungen, Liebe, Dankbarkeit sowie den Propheten Muhammad und seine Eigenschaften. Insbesondere der Prophet Muhammad spielte für sein mystisches Leben eine sehr wichtige Rolle, wonach die Lichtnische der Prophetie, wodurch einzig und allein eine Erleuchtung erlangt werden könne, die Sufis zu Allah führe.5

Kritisiert wurde al-Ġazzālī vor allem für sein bereits genanntes Werk Die Widerlegung der Philosophen, worin er die rationalistisch-dogmatischen Lehren der Philosophen, insbesondere die von Ibn Sīnā (auch Avicenna genannt, gest. 1037) widerlegt. Nach Auffassung mancher Wissenschaftler hat er damit die Philosophie an den Rand gedrängt und so deren Aufstieg in der islamischen Welt verhindert.6 Hassan Hassan, ein Kolumnist bei The National, lehnt diesen Vorwurf jedoch ab und begründet die Stagnation in der islamischen Welt ab dem 11. Jahrhundert mit den Niẓāmīya-Schulen von Niẓām al-Mulk (gest. 1092), einem Großwesir des seldschukischen Herrschers. Nach Hassan zielte die Kritik von al-Ġazzālī vielmehr darauf ab, die Muslime statt einer bloßen Nachahmung (arab. taqlīd) zum kritischen Denken und Nachforschen anzuregen. So sollte nach al-Ghazālī weder der Glaube vor der Wissenschaft geschützt noch die Wissenschaft dem Glauben überstellt werden.7 Nach Obermann verurteilte al-Ġazzālī gerade deshalb die großen Schulen, wie Mu'tazila und Aš'ariten als auch die Philosophen auf das Schärfste, da er in ihnen Potential zur Irreführung sah.8 Al-Ġazzālī, der unermüdlich nach Wissen strebte und nur das akzeptierte, was er kritisch überprüft hatte, verstarb 1111 nach dem Morgengebet und wurde in seiner Heimatstadt Ṭūs bestattet.9 Einige seiner Werke wurden nach seinem Ableben von Ibn Rušd (auch Averroes genannt, gest. 1198) widerlegt. Nach Smith könnten diese Vorwürfe möglicherweise daran liegen, dass seine Werke von Ibn Rušd missverstanden wurden, da al-Ġazzālī nach Eintritt in die Mystik den philosophischen Begriffen einen mystischen Sinn zu verleihen versuchte und diese Erkenntnis eine genaue Analyse seiner Werke erfordere.10 Daher sollten seine Werke auch heute wie viele andere Werke der Historie vor dem Hintergrund der erfassten Zeit kontextbezogen gelesen werden.

1 Vgl. Gerhard Schweizer: Die Derwische. Heilige und Ketzer des Islam, Salzburg: Verlag Das Bergland-Buch 1980, S. 131f; Thorsten G. Schneiders: "Die Vertreibung der Philosophie aus dem Islam. Der muslimische Gelehrte al-Ghazali auf dem Prüfstand", in: deutschlandfunk.de vom 09.02.2012, www.deutschlandfunk.de/die-vertreibung-der-philosophie-aus-dem-islam.886.de.html, abgerufen am 14.03.2016.

2 Vgl. Abū-Ḥāmid Muḥammad Ibn-Muḥammad al Ġazzālī: Der Erretter aus dem Irrtum. al-Munqiḏ min aḍ-ḍalāl. Aus d. Arab. übers., mit e. Einl., mit Anm. u. Indices hrsg. von ʿAbd-Elṣamad ʿAbd-Elḥamīd Elschazlī (= Philosophische Bibliothek, Band 389), Hamburg: Felix Meiner Verlag 1988, S. XIIIf.

3 Derwisch Ghasali zit. n. G. Schweizer, S. 139.

4 Vgl. Abū-Ḥāmid Muḥammad Ibn-Muḥammad al Ġazzālī, S. XIVf.

5 Vgl. ebd., S. 46.

6 Vgl. Hassan Hassan: "How the decline of Muslim scientific thought still haunts", in: The National vom 09.02.2012, www.thenational.ae/thenationalconversation/comment/how-the-decline-of-muslim-scientific-thought-still-haunts, abgerufen am 23.03.2016.

7 Vgl. Güneş Merdan: al-Ġazālī und der Sufismus. Zugl.: Heidelberg, Univ., Diss., 2009 (= Arabisch-islamische Welt in Tradition und Moderne, Band 8), Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2011, S. 95; Julian Obermann: Der philosophische und religiöse Subjektivismus Ghazālīs. Ein Beitrag zum Problem der Religion, Wien, Leipzig: Wilhelm Braumüller Universitäts-Verlagsbuchhandlung GmbH 1921, S. 13-15.

8 Vgl. Obermann, S. 13.

9 Vgl. Abū-Ḥāmid Muḥammad Ibn-Muḥammad al Ġazzālī, S. XVf.

10 Vgl. Margaret Smith: Al-Ghazālī. The Mystic. A Study of the Life and Personality of Abu Hamid Muhammad al-Tusi al-Ghazali, together with an Account of his Mystical Teaching and an estimate of his Place in the History of Islamic Mysticism, Lahore: Hijra International Publishers Mian Chambers 1983, S. 199.

Hendrich, Geert: Arabisch-islamische Philosophie. Geschichte und Gegenwart (= Campus Einführungen), Frankfurt am Main: Campus Verlag 2005.

Obermann, Julian: Der philosophische und religiöse Subjektivismus Ghazālīs. Ein Beitrag zum Problem der Religion, Wien, Leipzig: Wilhelm Braumüller Universitäts-Verlagsbuchhandlung GmbH 1921.

Rudolph, Ulrich: Islamische Philosophie. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, München: C.H.Beck 2013.

Schimmel, Annemarie: Mystische Dimensionen des Islam. Die Geschichte des Sufismus (= insel taschenbuch, Band 1715), Frankfurt am Main, Leipzig: Insel Verlag 1995.

Watt, William Montgomery: Muslim Intellectual. A Study of al-Ghazali, Edinburgh: Edinburgh University Press 1963.

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