Al-Ġazzālī – Zwischen Anmerkung und Kritik
Al-Ġazzālī wurde 1058 in Ṭūs, in der Nähe des heutigen Maschhad im Iran, geboren. Er genoss eine klassische Ausbildung und studierte islamisches Recht und Mystik in ğurğān bzw. Nīšāpūr und war Schüler des berühmten Enzyklopädisten Imām al-ḥaramayn Abu al-Maʿālī al-ğuwaynīs. Der sehr bedeutsame Rechtswissenschaftler, Theologe und Philosophiekenner wurde im Alter von dreiunddreißig Jahren (1091) zum Professor an der neu gegründeten Niẓāmīya Akademie in Bagdad ernannt, jedoch musste er diese Stelle nach vier Jahren aufgrund einer seelischen Erkrankung aufgeben.1 Nach diesem Ereignis schien ihm seine Lehrtätigkeit bedeutungslos geworden zu sein, so zog er sich zurück und widmete sich der Spiritualität.2 Im Zuge dieser inneren Krise und auf der Suche nach Wahrheit begab er sich daraufhin auf eine Reise nach Damaskus, Jerusalem sowie Hebron und pilgerte letztlich nach Mekka. Nach etwa zehn Jahren, geprägt durch unzählige Erlebnisse, kehrte al-Ġazzālī nach Ṭūs zurück und fand den inneren Frieden bei den mystischen Derwischen. So lautet sein berühmtes Zitat: "Wo das Denken an seine äußerste Grenze geführt werde, beginne die Wahrheit der Mystik."3 In den zehn Jahren voller Einsamkeit schrieb er außerdem zwei wichtige Werke, nämlich Iḥyāʼ ʿulūmu d-dīn (Die Wiederbelebung der Religionswissenschaften) und Tahāfut al-falāsifat (Die Widerlegung der Philosophen).4 Im ersteren behandelt er Themen wie beispielsweise gottesdienstliche Handlungen, Liebe, Dankbarkeit sowie den Propheten Muhammad und seine Eigenschaften. Insbesondere der Prophet Muhammad spielte für sein mystisches Leben eine sehr wichtige Rolle, wonach die Lichtnische der Prophetie, wodurch einzig und allein eine Erleuchtung erlangt werden könne, die Sufis zu Allah führe.5
Kritisiert wurde al-Ġazzālī vor allem für sein bereits genanntes Werk Die Widerlegung der Philosophen, worin er die rationalistisch-dogmatischen Lehren der Philosophen, insbesondere die von Ibn Sīnā (auch Avicenna genannt, gest. 1037) widerlegt. Nach Auffassung mancher Wissenschaftler hat er damit die Philosophie an den Rand gedrängt und so deren Aufstieg in der islamischen Welt verhindert.6 Hassan Hassan, ein Kolumnist bei The National, lehnt diesen Vorwurf jedoch ab und begründet die Stagnation in der islamischen Welt ab dem 11. Jahrhundert mit den Niẓāmīya-Schulen von Niẓām al-Mulk (gest. 1092), einem Großwesir des seldschukischen Herrschers. Nach Hassan zielte die Kritik von al-Ġazzālī vielmehr darauf ab, die Muslime statt einer bloßen Nachahmung (arab. taqlīd) zum kritischen Denken und Nachforschen anzuregen. So sollte nach al-Ghazālī weder der Glaube vor der Wissenschaft geschützt noch die Wissenschaft dem Glauben überstellt werden.7 Nach Obermann verurteilte al-Ġazzālī gerade deshalb die großen Schulen, wie Mu'tazila und Aš'ariten als auch die Philosophen auf das Schärfste, da er in ihnen Potential zur Irreführung sah.8 Al-Ġazzālī, der unermüdlich nach Wissen strebte und nur das akzeptierte, was er kritisch überprüft hatte, verstarb 1111 nach dem Morgengebet und wurde in seiner Heimatstadt Ṭūs bestattet.9 Einige seiner Werke wurden nach seinem Ableben von Ibn Rušd (auch Averroes genannt, gest. 1198) widerlegt. Nach Smith könnten diese Vorwürfe möglicherweise daran liegen, dass seine Werke von Ibn Rušd missverstanden wurden, da al-Ġazzālī nach Eintritt in die Mystik den philosophischen Begriffen einen mystischen Sinn zu verleihen versuchte und diese Erkenntnis eine genaue Analyse seiner Werke erfordere.10 Daher sollten seine Werke auch heute wie viele andere Werke der Historie vor dem Hintergrund der erfassten Zeit kontextbezogen gelesen werden.