Al-Muḥāsibī, der Gewissenserforscher auf der Suche nach der Gottesliebe

Artikel 04.08.2016 Redaktionsteam

Der vorliegende Artikel beschäftigt sich mit dem bedeutenden frühislamischen Theologen al-Muḥāsibī, der den Grundstein für die irakische Schule der Mystik legte. Ihm und seinen Werken verdanken die Sufis eine differenzierte Seelenkunde und Terminologie.1


Einführung

Der religiöse Höhepunkt der islamischen Mystik wird von al-Muḥāsibī (gest. 857 n. Chr.) und seinen Zeitgenossen Dhū n-Nūn al-Misrī (gest. 859 n. Chr.) sowie al-Ǧunaid (gest. 910 n. Chr.) gekennzeichnet. Während dieser Zeit wird die asketische Frömmigkeit mit ihrem strengen und düsteren Diesseitsglauben durch eine lebendige und brennende Gottesliebe beseelt.2

Al-Muḥāsibī schreibt in seinem Werk Ḥilya:

"Das erste in der Liebe zu Gott ist der Gehorsam, und der geht von Gott selbst aus und hat seinen Ursprung in Ihm. Er ist es, der seine Auserwählten lehrt, Ihn zu kennen, und Er leitet sie an, Ihm zu gehorchen. Er schließt einen Liebesbund mit ihnen, obwohl nicht Er es ist, der ihrer bedarf, sondern sie, die Seiner bedürfen. Dann legt Er die Liebe zu Ihm selbst als ein Pfand in ihr Herz und bekleidet sie selbst mit dem Licht, das aus ihren Worten durch die Kraft dieser ihrer Liebe ausstrahlt. Wenn Er dies getan hat, führt Er sie in Seiner Freude Seinen Engeln vor, auf dass diese, die Er für würdig erachtete, Seine Himmel zu bewohnen, sie lieben möchten. Bevor Er Seine geliebten Geschöpfe geschaffen hat, preist Er sie, und ehe sie Ihn gepriesen haben, dankt Er ihnen. Denn Er weiß in Seiner Voraussicht, dass Er sie einmal zu dem hohen geistlichen Grad führen wird, den Er ihnen bestimmt und vorausgesagt hat."3

Abū ʿAbdallāh al-Harith Ibn Asad al-ʿAnazī al-Muḥāsibī ist einer der bedeutendsten Vertreter frühislamischer Theologie und Frömmigkeit. Er wurde gegen Ende des 8. Jahrhunderts in Basra im Süden des Irak geboren. Das genaue Datum ist uns nicht bekannt, es wird in der Literatur aber häufig das Jahr 781 n. Chr. als Geburtsjahr angegeben.4 Er kam in jungen Jahren nach Bagdad und starb dort im Jahre 857 n. Chr. Eine große Anzahl seiner Werke ist uns erhalten geblieben und beeinflusste seine Zeitgenossen und die Nachwelt. Dabei ist die Kunst der Gewissenserforschung das ihn Kennzeichnende, welche ihm auch zu seinem Beinamen al-Muḥāsibī, der "Gewissenserforscher", verhalf. Die Sufis des 9. Jahrhunderts wetteiferten darum, sich möglichst gewissenhaft zu verhalten und es heißt, al-Muḥāsibī habe einen Nerv in seinem Finger gehabt, der zuckte, wenn er etwas nicht moralisch Einwandfreies tun wollte.5

Al-Muḥāsibī war ein Rechtsgelehrter, der der schafiitischen Rechtsschule nahestand und den Gebrauch des Vernunftschlusses (ʿaql) vertrat. Der dialektischen Terminologie der Muʿtazila bediente er sich, um deren Argumente mit ihren eigenen Methoden zu widerlegen. Al-Muḥāsibī führte ein bescheidenes Leben nach einer moralischen Bekehrung, die gründlich überlegt war und die in seinem Werk "Waṣāya" beschrieben ist.6 Er wurde von Ibn Ḥanbal verurteilt, weil er die Kalam-Methoden im Allgemeinen akzeptierte, welche für Ibn Ḥanbal die Quelle allen Übels waren.7 Infolge dieser Auseinandersetzung musste al-Muḥāsibī 846 n. Chr. seine Lehrtätigkeit aufgeben und starb in völliger Abgeschiedenheit.8

Einer der Schüler al-Muḥāsibīs war der berühmte al-Ǧunaid, der uns Folgendes über seinen Lehrer berichtet:9

"Al-Harith b. Asad al-Muḥāsibī pflegte zu meinem Haus zu kommen und zu sagen, "Komm mit mir nach draußen und lass uns hart arbeiten." Ich würde zu ihm sagen, "Warum schleppst du mich aus meiner Abgeschiedenheit und spirituellen Sicherheit in die Straßen und zu den Verlockungen, dass ich Wollüstiges erblicke." Er würde sagen, "Komm mit mir nach draußen, da gibt es nichts, was du fürchten musst." Und wenn ich mit ihm zu einem bestimmten Platz gegangen wäre, wo er sich niederlassen würde, würde er zu mir sagen. "Frag mich etwas." Ich würde antworten, "Ich habe keine Frage an dich." Dann würde er sagen, "Frag mich, was immer dir in den Sinn kommt." Dann würden sich mir Fragen aufdrängen, und ich würde ihn fragen, und er würde dementsprechend unverzüglich antworten; dann würde er zu seiner Wohnstätte zurückkehren und es in einem Buch festhalten."10

Al-Ǧunaid zeichnet hier das Bild eines typischen Sufilehrers, der auf die Fragen seiner Schüler antwortet und aus diesen Dialogen seine Schriften zusammenstellt. Der Aufbau von al-Muḥāsibīs Meisterwerk al-Riʻāya li-Huqūq Allāh, das Buch der Wahrung der Rechte Gottes, bekräftigt dies.11 Dies ist sein umfangreichstes und bedeutendstes Werk und den darin verwendeten Argumentationsstil finden wir später in Qūt al‐qulūb von Abū Tālib al‐Makkī und in Iḥyāʾ ʿulūm ad-dīn von al-Ġazzālī wieder.12

Al-Muḥāsibī leitet die Sufis an, alle Regungen ihrer Seele genau wahrzunehmen und das Zurschaustellen von Frömmigkeit und die damit verbundene Heuchelei zu vermeiden.13 Sufismus ist für ihn ein ständiger Kampf zur Reinigung der Seele. Seiner Meinung nach gibt es einen spirituellen und einen niederen Teil der Seele. Der erste hat schon vor der Geburt bestanden und Gott hat ihm einen Anteil seines Wesens mitgegeben, deshalb kann er zur Vereinigung mit Gott zurückkehren. Der niedere Teil der Seele wird als Sitz allen Übels angesehen. Der mystische Weg gliedert sich seiner Lehre nach in drei Stufen. Die erste Stufe beinhaltet Selbsterkenntnis, Demut, Bereitschaft zu leiden, Armut, Bedürfnislosigkeit, Weltabkehr und Askese. Nach der Reinigung der Seele in der ersten Stufe folgt die zweite, die mystische Versenkung durch Meditation. Die dritte Stufe ist die Vereinigung mit Gott.14

Sufismus bedeutet, alle Trübsal zu ertragen und auf alles zu verzichten außer auf Gott. (Al-Muḥāsibī)15

Al-Muḥāsibī ist einer der ersten islamischen Mystiker, dessen Werke eine umfangreiche theologische Bildung erkennen lassen. Sie vereinen eine große Sorgfalt in der exakten Auswahl philosophischer Definitionen, eine Hochachtung vor den Traditionen und ein ständiges Streben nach einer moralischen Reinigung.16

1 Vgl. Hans Küng: Der Islam. Geschichte, Gegenwart, Zukunft (= Serie Piper, Band 4709), München: Piper 2006, S. 406.

2 Vgl. Andrae Tor: Islamische Mystik (= Urban-Taschenbücher, Band 46), Stuttgart: Kohlhammer 1980, S. 11.

3 Ebd., S. 130; Hilja X, 76.

4 Vgl. Josef van Ess: Die Gedankenwelt des Ḥārit̲ārit al-Muḥāsibī anhand von Übersetzungen aus seinen Schriften dargestellt und erläutert (= Bonner orientalistische Studien. Neue Serie, Band 12), Bonn: Selbstverlag des Orientalischen Seminars der Universität Bonn 1961, S. 1.

5 Vgl. Annemarie Schimmel: Sufismus. Eine Einführung in die islamische Mystik (= Beck'sche Reihe, 2129), München: C.H.Beck 2015, S. 18.

6 Vgl. Arent J. Wensinck/Johannes H. Kramers (Hg.): Handwörterbuch des Islam, Leiden: E. J. Brill 1941, S. 541.

7 Vgl. Michael Marmura/William M. Watt: Der Islam II (= Die Religionen der Menschheit, Band 25, 2), Stuttgart: Kohlhammer 1985, S. 280.

8 Vgl. A. J. Wensinck / J. H. Kramers , S. 541.

9 Vgl. Arthur J. Arberry: Sufism. An account of the mystics of Islam (= Ethical and Religious Classics of East and West, Volume 2), London: George Allen & Unwin 1972, S. 46-47.

10 Übersetzung aus dem Englischen, siehe ebd., S. 46-47.

11 Vgl. ebd., S. 47.

12 Vgl. J. v. Ess, S. 13.

13 Vgl. Eleonore Bock: Meine Augen haben dich geschaut. Mystik in den Religionen der Welt, Zürich: Benziger 1991, S. 282.

14 Vgl. ebd., S. 283.

15 Inayat Khan Hazrat: Ein Sufi-Brevier, Heilbronn: Verlag Heilbronn 1991, S. 126.

16 Vgl. A. J. Wensinck/ J. H. Kramers, S. 541.

Arberry, Arthur J.: Sufism. An account of the mystics of Islam (= Ethical and Religious Classics of East and West, Volume 2), London: George Allen & Unwin 1972.

Picken, Gavin: Spiritual Purification and Islam. The life and works of al-Muḥāsibī (= Routledge Sufi Series), Hoboken: Taylor & Francis 2011.

Smith, Margaret: An early mystic of Baghdad; A study of the life and teaching of Ḥārith b. Asad al-Muḥāsibī, A.D. 781-A.D. 857, New York: AMS Press 1973.

Ess, Josef van: Die Gedankenwelt des Ḥārit̲ārit al-Muḥāsibī anhand von Übersetzungen aus seinen Schriften dargestellt und erläutert (= Bonner orientalistische Studien. Neue Serie, Band 12), Bonn: Selbstverlag des Orientalischen Seminars der Universität Bonn 1961.

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