Ambiguität – "eine Gnade Gottes"

Artikel 09.08.2016 Redaktionsteam

Der vorliegende Artikel gibt einen Einblick in das gelungene Werk von Thomas Bauer Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams. Nach einer allgemeinen Begriffsdefinition wird der historische Wandel des Begriffes Ambiguität aufgezeigt und dabei werden die wichtigsten Thesen des Islamwissenschaftlers dargestellt.


Thomas Bauer, Professor für Islamwissenschaft und Arabistik in Münster, führt in seinem Werk Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams die Ursachen für die verzerrte Wahrnehmung des Islams in der heutigen Zeit auf und versucht mit dem Begriff der Ambiguität eine kulturgeschichtliche Erklärung zu geben.1 Ambiguität beschreibt demnach die Mehrdeutigkeit von Phänomenen. Dabei kann eine Äußerung, Handlung oder Situation mindestens zwei oder mehrere verschiedene Bedeutungen haben.2 In diesem Zusammenhang betont Bauer in einem Interview, dass einige Menschen diese Mehrdeutigkeit sowohl positiv empfinden und sogar bewusst hervorheben können, während andere im Umgang damit Schwierigkeiten haben, Widersprüche und Diskrepanzen vermeiden möchten sowie stets nach einer eindeutigen Antwort suchen.3 Anknüpfend an diesen Begriff versucht Bauer anhand ausgewählter Epochen zu zeigen, dass die Toleranz gegenüber Mehrdeutigkeit jahrhundertelang ein wesentlicher Teil der islamischen Tradition gewesen sei. Das ist auch der Grund, warum Bauer in seinem Werk die Übertragung des Begriffes aus der Sprachwissenschaft in die Kulturgeschichte des Islams und damit in die Kulturwissenschaft für unerlässlich hält.4 Im Zentrum steht dabei die arabische Kultur Syriens und Ägyptens in der Zeit zwischen dem 10. und dem 16. Jahrhundert, die von einer hohen Ambiguitätstoleranz geprägt war, wohingegen die Moderne ab dem 19. Jahrhundert durch die Verwestlichung eine Ambiguitätsintoleranz erzeugt hat.5 Beginnend mit einer etymologischen Begriffsdefinition stellt der vorliegende Artikel nachfolgend die wichtigsten Thesen aus dem Werk von Bauer dar.

Ambiguität wurde nach Ansicht von Thomas Bauer bisher vorwiegend in der Sprachwissenschaft verwendet, wonach ambig die Mehrdeutigkeit eines Begriffes ausdrückt. Er konstatiert jedoch, dass es Situationen gibt, die nonverbal durch Gesten stattfinden, die er als ambige Gesten bzw. Praxis bezeichnet, die keine eindeutige Interpretation zulassen.6 Demzufolge wird der Begriff auf die kulturelle Ambiguität ausgeweitet, die sowohl die Sprache als auch die außersprachlichen Handlungen umfasst und von Bauer wie folgt definiert wird:

Ein Phänomen kultureller Ambiguität liegt vor, wenn über einen längeren Zeitraum hinweg einem Begriff, einer Handlungsweise oder einem Objekt gleichzeitig zwei gegensätzliche oder mindestens zwei konkurrierende, deutlich voneinander abweichende Bedeutungen zugeordnet sind, wenn eine soziale Gruppe Normen [...] aus gegensätzlichen [...] Diskursen bezieht [...], wobei keine dieser Deutungen ausschließliche Geltung beanspruchen kann.7

Vor allem das gleichzeitige Existieren von diametral gegensätzlichen Bedeutungen zeichnet die kulturelle Ambiguität aus, die der Mensch nach Bauer braucht und nicht vollständig eliminieren kann. Daher darf die Ambiguität auch nicht als Schaden oder Störung angesehen werden.8 In seinem Werk stellt vor allem die Literatur eine besondere Domäne von Ambiguität dar, bei welcher Bauer sich auf die klassische arabische Literatur bezieht und dabei zwei sehr essenzielle Thesen aufstellt, die nachfolgend in einem vereinfachten Überblick beschrieben werden.

Hohe Ambiguitätstoleranz in der Kultur des klassischen Islam der nachformativen Zeit

Wie bereits in der Einleitung erwähnt, steht im Zentrum des bahnbrechenden Werks die arabische Kultur Syriens und Ägyptens zwischen dem 10. und dem frühen 16. Jahrhundert – eine bewusst ausgewählte Epoche in der islamischen Geschichte, welche die Pluralität von Diskursen akzeptierte.9 Demzufolge sind nämlich die Ergebnisse dieser Zeit ein Kompromiss von einander gegenüberstehenden Diskursen, die miteinander koexistieren konnten, ohne die ursprünglichen Positionen annulliert zu haben. Als Bereiche werden hierzu das islamische Recht, Politik, Sexualität sowie das Bild genannt.10 Einen zentralen Bereich nimmt auch der Koran, den Bauer als ambigen Text bezeichnet, ein. Infolgedessen ist die Mehrdeutigkeit der Koranverse ein genuiner Bestandteil göttlichen Ursprungs, der die Menschen zur laufenden Auseinandersetzung mit dem Text herausfordert. In diesem Zusammenhang betont Bauer, dass diese gottgewollte Mehrdeutigkeit jedoch durch Übersetzungen eingeschränkt werde, da sich der Übersetzer zwangsläufig für eine Bedeutung entscheiden müsse. Das sei auch der Grund, weshalb dem Islamwissenschaftler zufolge die Übersetzungen nur den Kommentar bzw. die Interpretation des Übersetzers wiedergeben.11 So haben sich im Laufe der Geschichte zunächst zehn Lesearten etabliert und die Pluralität der Lesearten, die sogar inhaltliche Unterschiede aufzeigten, wurde bewusst verschwiegen, wie es am Beispiel von Ibn ʽUthaimīn (gest. 2001) veranschaulicht wird, oder gänzlich abgelehnt.12 Auch bei der Interpretation des Korans kam es ab dem 19. Jahrhundert zu deutlichen Einschränkungen. Während die klassischen Gelehrten, wie al-Māwardī (gest. 1058), auch nicht den geringsten Versuch unternahmen, ihre eigene Interpretation als einzig richtige darzustellen, versuchen insbesondere salafistische Gelehrte seit dem 19. Jahrhundert diese Deutungsvielfalt zu schwächen, um ihre eigenen Ideologien zu legitimieren. Al-Māwardī sowie Gelehrte wie as-Suyūṭī (gest. 1505) hingegen plädierten für die Untersuchung von mehreren unterschiedlichen Deutungen des Korans, um die göttliche Botschaft in ihrer Gesamtheit erfassen zu können und sahen dies als Bereicherung für die Gemeinschaft.13

Modernisierungsprozess der islamischen Kulturen als Prozess der Disambiguierung

Verfolgt man nun den historischen Wandel im Islam, so stellt Bauer fest, dass wir heute einem Islam begegnen, der verwestlicht wurde, indem er die westlichen Ideologien und Strukturen übernommen habe und demzufolge ambiguitätsintolerant, sogar ambiguitätsfeindlich sei.14 Kritisiert wird er jedoch für seine unzureichende Behandlung der Frage, wie gegenwärtig mit dieser Ambiguitätsintoleranz umgegangen werden solle. Der vorgeschlagene Lösungsansatz zur Wiederbelebung, indem man mehr zulässt, bedarf daher einer genaueren Erläuterung.15 Dessen ungeachtet führt Bauer noch weitere wichtige Erkenntnisse an und erwähnt beispielsweise, dass den klassischen Gelehrten und ihren Werken heutzutage kaum Aufmerksamkeit geschenkt werde. Die modernen Gelehrten seien davon überzeugt, dass sie die genaue Bedeutung der Koranverse kennen würden, womit sie indirekt die Mehrdeutigkeit ablehnen, sehr präzise zwischen den authentischen und erfundenen Hadithen unterscheiden können und damit in der Lage seien, zu einer einzig und allein wahren Deutung des Islam zu gelangen, die eine universelle Gültigkeit beanspruche. Davon abweichende Meinungen seien lediglich auf mangelnde Kenntnis und Fehler des Subjekts zurückzuführen.16 Infolgedessen konnte nach Bauer die ursprünglich ambiguitätstolerante Kultur des Islam diesem Anspruch des Westens, der insbesondere seit der Aufklärung durch eine Ambiguitätsintoleranz geprägt sei, kaum etwas entgegensetzen.17 Folglich verlange die gegenwärtige Kultur eindeutige Antworten und könne die Deutungsvielfalt nicht akzeptieren.18 Dieser Modernisierungsprozess hat somit das klassisch-islamische Verständnis, bei dem Ambiguität als unvermeidlicher und notwendiger Bestandteil in allen Lebensbereichen akzeptiert war, beträchtlich beeinflusst.19 Gerade aus diesem Grund wies Bauer bei einem Vortrag am Wissenschaftskolleg zu Berlin im Jahre 2011 auf die Wiederbelebung der Ambiguität auch in der heutigen Zeit hin, die unter anderem die Adaption religiös begründeten Rechts an das sich wandelnde Alltagsleben erleichtern würde. Kritik übte er dabei gegenüber der Individualisierung des Islam durch sogenannte Cyber-Muftis20, die im Internet kursieren und plädierte zur Entideologisierung.21 In seinen abschließenden Worten führte er an, dass der Islam derzeit eine Wende erlebe, die Europa Anfang des 17. Jahrhunderts vollbracht hätte und in diesem Kontext stellte sich für ihn die grundlegende Frage, ob ein Demokratisierungsprozess, der zwar nicht zwangsläufig zur Ambiguitätstoleranz führe, jedoch das Nebeneinanderstehen von gegensätzlichen Meinungen erlaube, sich in Zukunft durchsetzen werde oder ob es den ideologischen Mächten, wie den Salafisten, gelingen werde, durch Erzeugen von Unsicherheiten die Ambiguität weiterhin zu vermeiden und folglich die Oberhand zu gewinnen.22 In Anbetracht dessen kann Bauer dahingehend zugestimmt werden, dass der Islam stets Vielfalt bedeutet und es demnach den einzig wahren Islam nicht gibt und diese Erkenntnis für ein kontextuelles Islamverständnis in Europa unumgänglich ist. Ob die Stagnation jedoch durch die sogenannte Verwestlichung des Islam durch westlich orientierte Intellektuelle begründet werden kann, bedarf einer gesonderten historisch-kritischen Abhandlung der islamischen Geschichte.

1 Vgl. Thomas Bauer: Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams, Berlin: Verlag der Weltreligionen 2011a, S. 11.

2 Vgl. ebd., S. 26f.

3 Vgl. Stephan Kosch: "Vieldeutigkeit ist eine Gnade Gottes. Gespräch mit dem Islamwissenschaftler Thomas Bauer über Ambiguitätstoleranz in der muslimischen Geschichte", in: Zeitzeichen vom 04.03.2013, zeitzeichen.net/no_cache/interview/2013/vieldeutigkeit-im-islam/, abgerufen am 24.05.2016.

4 Vgl. T. Bauer, S. 13.

5 Vgl. ebd., S. 15.

6 Vgl. ebd., S. 26.

7 Ebd., S. 27.

8 Vgl. ebd., S. 29.

9 Vgl. ebd., S. 24.

10 Vgl. ebd., S. 42.

11 Vgl. ebd., S. 47.

12 Vgl. ebd., S. 62.

13 Vgl. ebd., S. 123.

14 Vgl. ebd., S. 52.

15 Vgl. Ralf Lange-Sonntag: Eine andere Geschichte des Islam. Rezension. Evangelische Kirche von Westfalen, Bielefeld, islam-dialog.ekvw.de/rezensionen/eine-andere-geschichte-des-islam.html, abgerufen am 07.06.2016; T. Bauer, S. 404.

16 Vgl. T. Bauer, S. 44.

17 Vgl. ebd., S. 53.

18 Vgl. ebd., S. 125.

19 Vgl. ebd., S. 35.

20 Vgl. Saminaz Zaman: "From Imam to Cyber‐Mufti: Consuming Identity in Muslim America", in: The Muslim World, Volume 98, Issue 4 (2008), S. 465-474.

21 Vgl. Thomas Bauer: Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams. Werksvorstellung vom 06. Dezember 2011. In Kooperation des Wissenschaftskollegs zu Berlin, Verlag der Weltreligionen und Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, Berlin 2011b, vimeo.com/35009659, abgerufen am 24.05.2016.

22 Vgl. T. Bauer, S. 388.

Bauer, Thomas: Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams, Berlin: Verlag der Weltreligionen 2011.

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