Antisemitismus und Islam
Mit dem Thema Antisemitismus und Islam betritt man dem österreichischen Politikwissenschaftler Thomas Schmidinger zufolge ein "politisches Minenfeld"1, denn eine sachliche Debatte sei angesichts der "politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen [...] fast unmöglich"2. Es besteht ein starker Zusammenhang mit dem israelisch-palästinensischen Konflikt, der zur "Projektionsfläche verschiedenster Ideologien, Wünsche, Hoffnungen und Ressentiments"3 geworden sei. Eine Untersuchung der Thematik Antisemitismus und Islam ohne Bezugnahme auf diesen Konflikt scheint daher nahezu unmöglich bzw. nicht sinnvoll.
Der Begriff 'Antisemitismus' wurde gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Europa konstruiert4 und im Lauf der Geschichte unterschiedlich verwendet und definiert.5 Die deutsche Historikerin Juliane Wetzel spricht von Antisemitismus als "Feindschaft gegen Juden".6 Für den aus Wien stammenden jüdischen Sozialpsychologen und Konfliktforscher Herbert C. Kelman – er engagiert sich bereits seit 1971 für eine friedliche Lösung im israelisch-palästinensischen Konflikt auf Ebene der sogenannten Track 2 diplomacy7 – beginnt Antisemitismus dort, wo sich Kritik nicht (legitimerweise) gegen Politik und Behörden Israels, sondern gegen "die Juden" im Allgemeinen richtet, und wenn diese Kritik "explizit oder implizit jahrhundertealte Stereotype von Juden [...] hervorruft.8
Ein Beispiel für solche Stereotype ist die Behauptung, Juden würden enorme Macht innehaben und Medien, Finanzmärkte u.a. kontrollieren.9 Das Thema Antisemitismus im islamischen Kontext wirft die Frage auf, wie man diesen benennen soll: als muslimischen, islamischen, islamistischen oder islamisierten Antisemitismus? Betrachtet man die aktuelle Präsenz antisemitischer Stereotype in der Bevölkerung mit arabischem, nordafrikanischem oder türkischem Hintergrund in europäischen Ländern,10 könnte man den MuslimInnen generell eine antisemitische Einstellung unterstellen. Man kann diese Einstellung aber auch primär als Ausdruck einer antizionistischen bzw. antiisraelischen Haltung im Zusammenhang mit dem israelisch-palästinensischen Konflikt sehen,11 wobei dennoch nicht übergangen werden darf, dass die verwendeten Stereotype auch mit islamischen Quellen in Zusammenhang gebracht werden können, was eine nähere Untersuchung derselben erfordert.
Der deutsche Islamwissenschaftler Stefan Wild beurteilt den "Antisemitismus in der arabischen Welt als Folge, nicht als Ursache des Nahost-Konflikts."12 Rezipierte europäische Antisemitismen waren "gegen das zionistische Siedlungsprojekt in Palästina"13 gerichtet und wurzeln Wild zufolge nicht in einer koranisch oder prophetisch vermittelten "Tradition des Judenhasses."14 Der ägyptische Historiker Omar Kamil ortet in der arabisch-islamischen Welt einen "historischen Bruch bezüglich der Wahrnehmung von Juden"15, der in Zusammenhang mit dem europäischen Kolonialismus steht, als dessen Teil sie nun empfunden wurden, während sie bis ins 19. Jahrhundert als "Schutzbefohlene" gegolten hatten. Holocaustleugnung, Antisemitismus und "die Wahrnehmung des Zionismus sind als eine Fortsetzung des europäischen Kolonialismus"16 ein Resultat davon.17 Historisch betrachtet gab es in islamischen Gesellschaften keinen einheitlichen Umgang mit Juden. Zeiten von Diskriminierung kamen ebenso vor wie solche von großer Toleranz.18
Der deutsche Islam- und Politikwissenschaftler Michael Kiefer stellt jedoch fest, dass es insgesamt gesehen "in der vormodernen islamischen Geschichte keine tiefverwurzelte Feindseligkeit gegen die Juden gab, die mit dem vormodernen europäischen Antijudaismus vergleichbar wäre."19 Judenfeindlichkeit sei nicht "theologischer Natur"20 gewesen, antijüdischen Koranstellen mit Bezug auf Muhammads Konflikt mit den Juden in Medina wurde seiner Einschätzung nach "in den traditionellen islamischen Gesellschaften keine sehr hohe Bedeutung beigemessen."21
Dies änderte sich im 20. Jahrhundert im Kontext des israelisch-palästinensischen Konflikts mit Autoren wie Mohammed Tantawi und Sayyid Qutb.22 Schmidinger zufolge lieferte Qutb mit seiner Schrift "Unser Kampf mit den Juden" "den entscheidenden Beitrag für die Verbindung antijüdischer Stereotype aus der islamischen Tradition mit modernem Antisemitismus,"23 indem dieser dem modernen Antisemitismus "eine historische Tradition gab und das Judentum zum Feind des Islam seit dessen Beginn erklärte."24
In diesem Kontext spielen Berichte über den militärischen Konflikt der jungen muslimischen Gemeinde mit den jüdischen Stämmen in Medina eine vieldiskutierte Rolle, wobei alle männlichen Stammesmitglieder der Banū Quraiẓah getötet und Frauen und Kinder versklavt worden sein sollen. Als Quelle dient hierbei hauptsächlich die Prophetenbiographie nach Ibn Ishāq (gest. 768), deren historische Verlässlichkeit zwar umstritten ist, die aber dennoch als "Standardversion der Prophetenvita"25 zum "Gemeingut"26 der muslimischen Kultur aufstieg. Der Bericht über die kollektive Hinrichtung von Juden, also eines von Muhammad verantworteten Massakers, gilt heute vielen als vermeintlicher Beweis für einen dem Islam immanenten Judenhass.27
Doch abgesehen von radikal-islamistischen Gruppen lehnt "ein zeitgenössisches islamisches Selbstverständnis [...] eine kategorische Feindschaft gegenüber Juden und anderen Nichtmuslimen als unislamisch"28 ab. Üblicherweise wird die kollektive Hinrichtung von muslimischer Seite im historischen Kontext betrachtet, wobei der Vertragsbruch durch die Juden und die existentielle Bedrohung der jungen muslimischen Gemeinde im Vordergrund stehen. Weniger häufig ist ein anderer, traditionskritischer Zugang, wie er auch vom deutschen Islamwissenschaftler Marco Schöller vertreten wird. Dieser stellt die fragliche Überlieferung aufgrund nicht gesicherter Überliefererketten und Datierung in Frage und weist auf den Kontrast zwischen einer kollektiven Hinrichtung am Kampf Unbeteiligter und der "Betonung der Individualität von Verantwortung und Strafe (vs. Kollektivstrafe) und der Gerechtigkeitsverpflichtung des Islams (vs. unverhältnismäßige Bestrafung)"29 hin. Bezüglich der Gegenwart herrscht mehrheitlich die Meinung vor, dass wir es heute mit einem "islamistisch übertünchten"30 oder "islamisierten Antisemitismus"31 zu tun haben, der "kaum religiöse Wurzeln hat, jedoch politische Ziele verfolgt."32
In der Frage nach Antisemitismus unter österreichischen MigrantInnen plädiert auch der österreichische Rechtsextremismusexperte Andreas Peham dafür, anstatt von einem islamischen oder muslimischen Antisemitismus von einem islamisierten Antisemitismus zu sprechen. Seinen Erfahrungen mit Jugendlichen zufolge werden antisemitische Einstellungen eher von solchen (übrigens zu über 90 Prozent männlichen) Jugendlichen religiös begründet, die selbst wenig Ahnung von ihrer eigenen Religion haben. Vielmehr bezögen sich diese auf salafistische Internetseiten, die die Jugendlichen mittels "kleiner Häppchen" ködern würden33 – Peham spricht von "Instant-Islam".34 Der Salafismus ist nach Peham "eine politische Sekte, die mit dem Rechtsextremismus aufgrund der antidemokratischen, frauenfeindlichen und antisemitischen Positionen Parallelen aufweist."35
Aufgrund seiner Arbeit mit Schulklassen sieht Peham keinen generellen Unterschied zwischen muslimischen und nichtmuslimischen Jugendlichen bezüglich einer antisemitischen Haltung, doch stellt er eine Zunahme offener antisemitischer Äußerungen sowie eine antisemitische Radikalisierung unter MigrantInnen mit türkischem Hintergrund fest. Er bringt dies mit der direkten türkischen Beteiligung an der Gaza-Hilfsflotille im Jahr 2010 in Zusammenhang. Dennoch warnt er im Diskurs über antisemitische Einstellungen unter MigrantInnen davor, neben dem religiös-kulturellen andere Kriterien wie Geschlecht, Alter und soziale Schichtzugehörigkeit außer Acht zu lassen. Diese hätten nämlich entscheidenden Einfluss auf die Ausbildung antisemitischer und rassistischer Einstellungen. Er verweist etwa auf den positiven Einfluss einer längeren Verweildauer von Jugendlichen in Bildungseinrichtungen über den Pflichtschulabschluss hinaus. Der Migrationshintergrund stelle hier allerdings ein Zugangshemmnis dar.
In der Bekämpfung des sehr wohl aggressiven Antisemitismus unter MigrantInnen in Österreich sei es wichtig, einerseits diesen auch als Produkt einer marginalisierten, angefeindeten Gruppe zu sehen, andererseits aber, beispielsweise im Zusammenhang mit Aussagen der FPÖ, jene Kräfte nicht außer Acht zu lassen,36 "denen es nicht um den Kampf gegen den Antisemitismus geht", sondern die "den Antisemitismus nur als Vorwand nehmen, um Fremdenfeindlichkeit zu schüren."37 Neben den eingangs bereits von Herbert C. Kelman angeführten Beispielen gab und gibt es eine Reihe weiterer Aktivisten und Aktionen sowohl für eine friedliche Lösung des Nahostkonflikts als auch gegen Antisemitismus. In den 1970er Jahren betrieb beispielsweise der Israeli Abie Nathan von einem Schiff aus einen Piratensender namens Voice of Peace.38 Ein weiteres Beispiel aus jüngerer Zeit ist die gemeinsame "Reise nach Jerusalem" (aufgezeichnet im gleichnamigen Buch) des Rabbiners Schlomo Hofmeister und des Imams Ramazan Demir, die beide in Wien leben. Ziel ihrer Reise war es zu zeigen, "dass sie als Vertreter zweier unterschiedlicher Konfessionen, die durch politische Machenschaften über die Jahrhunderte hinweg bis heute immer wieder zu Feindbildern deklariert worden sind, nicht nur freundschaftlich miteinander verbunden sein, sondern - unter strikter Bewahrung ihrer Standpunkte - auch in religiösen Belangen durchaus einen Konsens finden können."39 Der Dialog als "Fundament für ein friedliches Miteinander"40 muss eine zentrale Rolle spielen, sowohl im Bemühen um eine Lösung des Nahostkonflikts als auch in der Bekämpfung von Antisemitismus unabhängig welcher Färbung und welchen Ursprungs. MuslimInnen sind aufgefordert, entschieden gegen antisemitische Haltungen und Äußerungen aufzutreten bzw. diesbezügliche eigene Positionen zu hinterfragen.