Apostasie im Islam
In den ersten Jahrhunderten des Islams haben Gelehrte Regelungen herausgearbeitet, die sich auf den Rechtsstatus von Musliminnen und Muslimen beziehen, die ihre Religion ablegen bzw. Apostasie betreiben. Diese Regelungen wurden zunächst Teil des Strafgesetzes, waren jedoch nicht länger gültig als bis zur zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als dann die Bestrafung für Apostasie entweder außer Gebrauch gekommen oder schlichtweg in Vergessenheit geraten war. Nichtsdestotrotz gibt es keine Beweise für eine offizielle Abschaffung. Außerdem wurde zu dieser Zeit auch das Prinzip der Freiheit der Religion in der muslimischen Welt zentrales Thema, was Anlass dazu gab, die bestehenden Regelungen zu Apostasie zu überdenken sowie das Prinzip der Freiheit der Religion neu zu interpretieren.1
Apostasie nach traditioneller Auffassung
Apostasie – arabisch ridda – wird als "Abwendung vom Islam" oder als "Trennung vom Islam" definiert. Das bedeutet, eine Muslimin oder ein Muslim legt ihre oder seine Religion ab und drückt somit Unglauben aus, unabhängig davon, ob ein neuer bzw. anderer Glauben angenommen wird oder nicht. Unglaube kann sowohl durch Wörter, Handlungen oder nach schāfiʿitischer Auffassung durch die bloße Absicht explizit sowie implizit ausgedrückt werden. Spezielle Kriterien für solche Handlungen oder Wörter sind nicht definiert, jedoch gibt es dafür diverse Beispiele.2 So hat der hanafitische Gelehrte Shaikh-Zādeh (gest. 1667) in seinem Werk Majma` al-Anhur eine Sammlung einiger Beispiele in vier verschiedene Kategorien unterteilt.3 Zunächst nennt er die Apostasie in Bezug auf Gott, die sich u. a. durch Leugnen der Allmächtigkeit Gottes oder durch Anerkennen Jesu als Gottes Sohn äußert. Zweitens gebe es die Apostasie, die sich auf die Propheten und Engel bezieht. So seien diejenigen Apostaten, welche die Prophetie Muhammads leugnen oder aber wer sich selbst als Prophetin oder Propheten bezeichnet. In Bezug auf den Koran, religiöse Formeln sowie das Gebet sei es Apostasie, Teile der Heiligen Schrift zu leugnen und Koranverse auszulassen oder hinzuzufügen. Außerdem seien Abtrünnige, welche die bismiʾllāh-Formel sprechen, wenn sie dies tun, während sie das Weinglas erheben oder Glücksspiele betreiben. Unter wissenschaftlichen Aspekten betrachtet sei es viertens nicht toleriert, sich über Gelehrte lustig zu machen. Ebenso sei eine Person, die zu einem gewissen Zeitpunkt die Absicht hat, später Apostat oder Apostatin zu werden, dies bereits ab dem Zeitpunkt der Verkündigung dieses Vorhabens. Auch scherzhafte Aussagen, die nicht den inneren Willen widerspiegeln, sollen Apostasie beinhalten.4
Nicht nur die Handlungen unterlagen gewissen Voraussetzungen, sondern auch für die Apostaten selbst galten gewisse Bedingungen. Diese müssten aus freiem Willen und freien Stücken handeln, d. h. frei von jeglichem Zwang oder jeglicher Erpressung. Außerdem müssten sie das Erwachsenenalter erreicht haben und bei ihrer Verkündigung – sei es explizit oder implizit – bei vollem Bewusstsein sein ohne irgendeine Beeinträchtigung des Verstandes durch z. B. Rauschmittel oder Ähnliches. Zudem sei selbsterklärend, dass Apostasie auch nur diejenigen betreffen könne, die den Islam zuvor wirklich und eindeutig angenommen hatten.5
Offiziell war die gesetzliche Maßnahme bei Apostasie die Todesstrafe, zumindest in der Theorie; in der Praxis wurden jedoch vor allem vier Gruppen davon befreit. So wurden Frauen stattdessen als Geiseln genommen; es wurde versucht, sie wieder vom Glauben zu überzeugen. Um dies zu rechtfertigen, betonten hanafitische Gelehrte eine Tradition über den Propheten, die besagt, dass Muhammad das Töten von Frauen nicht duldete. Zudem schienen sie damals durch ihre physische Unterlegenheit keine Bedrohung für die islamische Gemeinde darzustellen, was als hanafitisches Hauptargument für die Begründung der Todesstrafe galt. Sowohl ihre physische Unterlegenheit als auch die damalige Unterlegenheit gegenüber ihrem Mann ließ die Gelehrten außerdem darauf schließen, dass Frauen nicht aus absolut freiem Willen handelten. Neben Frauen blieben Hermaphroditen ebenso verschont. Da die Apostasie von Jugendlichen ohnehin nicht anerkannt wurde, drohten jenen keine vergleichbar drastischen Maßnahmen, geschweige denn die Todesstrafe. Schließlich galten auch Sonderregelungen für diejenigen Apostaten, die den Islam erst später angenommen hatten und vorher konfessionslos oder Anhänger einer anderen Religion waren, wenn Zweifel an ihrem tatsächlichen Wunsch der Annahme des Islams bestanden, da sie z. B. im Kindesalter gezwungen worden oder aber ihre Zeugen unzuverlässig gewesen waren. Insgesamt wurde jedoch auch trotz der offiziellen Regel die Todesstrafe mit einigen Ausnahmen nicht sofort vollzogen. So wurde dem Apostat viel Zeit gelassen und durch ausführliche und intensive Aufklärung versucht, ihn dazu zu bringen, seine Meinung zu ändern.6
Apostasie nach moderner Auffassung
Auch für die moderne Auffassung ist zunächst wichtig zu klären, wer ein Apostat oder eine Apostatin ist. Die Antwort darauf ist simpel: Wer sich explizit vom Islam abkehrt, gilt als Apostat; wenn die Apostasie nicht offensichtlich ist, so gelten die früheren Voraussetzungen in Bezug auf Gott, den Koran und Muhammad. Das Aufkommen von Ideologien wie Sozialismus und Kommunismus oder aber "islamischer" Sekten führte zu der Frage, ob die AnhängerInnen generell noch als MuslimInnen angesehen werden könnten oder nicht; deshalb blieben die alten Voraussetzungen weiterhin relevant. Viele Gelehrte waren sich z. B. einig, dass KommunistInnen als keine wirklichen MuslimInnen mehr galten, da ihre ideologischen Vorstellungen mit dem Islam nicht kompatibel waren.7
Zudem bereitet die Frage Schwierigkeiten, ob jemand, der es ablehnt oder verweigert, über Apostaten zu urteilen, selbst ein Abtrünniger sei. Diese Frage kam auf, da im Koran in Sure 5:44 steht, dass diejenigen, die nicht so urteilen, wie Gott es geoffenbart hat, "Leugner der Wahrheit" bzw. Ungläubige seien.8 Viele waren der Ansicht, dieser Vers dürfe nicht zu wortwörtlich interpretiert werden und somit sei ein Richter oder Gesetzgeber erst dann Apostat, wenn dieser entgegen koranischer Bestimmungen urteilt oder gar handelt.9 Genau diese Frage wurde zu einem ernsten politischen Thema in Tunesien. 1923 bestand für die tunesische Bevölkerung die Möglichkeit, die französische Staatsbürgerschaft zu erhalten und somit französisches Recht zu erlangen. Daraufhin startete eine nationalistische Bewegung in Tunesien 1932 eine Kampagne gegen dieses Recht und bezeichnete die Bevorzugung eines "nicht-schariakonformen" Rechts als Apostasie. Die Uneinigkeit unter den Rechtsschulen nahm folglich noch weiter zu. Umgang mit
Umgang mit Apostasie in der Gegenwart
Heute gibt es keine handfesten Beweise dafür, dass die Todesstrafe für Apostasie in islamischen Ländern noch immer gültig ist. Selbst in Saudi-Arabien, wo offiziell nach "Scharia-Recht" geurteilt wird, gibt es keine Berichte über Exekutionen von Apostaten, was jedoch auch ein Indiz darauf sein kann, dass die Apostasie nicht kundgetan wird. Im letzten Jahrhundert hat es vereinzelte Fälle in Afghanistan gegeben. 1903 und 1925 wurde jeweils ein Muslim verurteilt und gesteinigt, der zu einer Sekte übergetreten war. Im Dezember 1962 wurde ein Lehrer in Marokko, der sich ebenfalls als ein Anhänger einer Sekte bekannte, aufgrund von "Rebellion" und "Gründung krimineller Banden" sowie "Unheilstiftung innerhalb von Religionsgemeinschaften" zunächst zwar verurteilt, kurz darauf jedoch freigesprochen, und das Urteil als nichtig erklärt, da keine dieser Anschuldigungen bewiesen werden konnte.10 Doch nicht alle dieser vereinzelten Fälle liegen weit zurück. Im September 2010 wurden im Iran der Pastor Yousef Nadarkhani wegen Apostasie und in Pakistan Aasia Bibi wegen Blasphemie zum Tode verurteilt.11 Die Verurteilungen wurden zwar nicht vollzogen, doch zeigen sie, dass die Idee der Todesstrafe für Apostasie in der Theorie noch immer weiterbesteht.
In muslimischen Kreisen ist die Frage, ob Apostasie verurteilt bzw. bestraft werden sollte leider noch heute ein relevantes Diskussionsthema, auch wenn sie nicht mehr offiziell Teil des Strafgesetzes ist. Modernisten argumentieren vor allem gegen die Todesstrafe, da kein Koranvers eine derartige Bestrafung für Apostaten aufgrund ihrer Apostasie verlangt. Zudem bauen modernistische Argumente darauf auf, dass die Bestrafung für Apostasie auf Tradition fußt. Da Tradition nicht höhere Gültigkeit zugeschrieben werden dürfe als den Aussagen des Korans, der in Sure 2:256 besagt, dass es keinen Zwang in der Religion gebe, müsse die Bestrafung für Apostasie schließlich nichtig sein.12 In seinem Buch Al-Hurriyyah al-Diniyyah fi al-Islam (dt. Religiöse Freiheit im Islam) bringt 'Abd al-Muta'al al-Sa'idi einen ausführlichen Einwand gegen die Todesstrafe als Bestrafung für Apostasie hervor.13 In seinem Werk bezieht er sich auf den Gelehrten Ibrahim al-Nakhai (gest. 717), der sagte, Apostaten sollen für den Rest ihres Lebens Reue zeigen. Demnach zieht er die Schlussfolgerung, dass Apostaten nicht getötet werden dürfen, da sie ihre Entscheidung sonst nicht bis zum Ende ihres Lebens bereuen könnten. Al-Sa'idi schreibt außerdem, es solle nicht unterschieden werden zwischen einem geborenen Andersgläubigen und einem Apostaten. Zwar hätten MuslimInnen die Pflicht, die Menschen zum Islam einzuladen, jedoch dürften sie nichts tun, was darüber hinausgeht, da dies sonst Zwang gleichen würde, der im Koran explizit verboten wird. Ebenfalls gliche es Zwang, wenn diese Reue oder die Rückkehr zum Islam aufgrund der Angst vor der Todesstrafe oder einer Gefängnisstrafe - womit al-Sa'idi analog die Gefängnisstrafe ablehnt - eintritt.
Auch wenn sich der moderne Ansatz Großteils durchgesetzt hat, teilen nicht alle diese Ansicht, was dazu geführt hat, dass noch immer viele Gelehrte an der klassischen Doktrin festhalten. Das häufigste Argument für die Todesstrafe ist, dass der "Islam" nicht nur eine Religion sei, sondern auch die Basis für eine soziale und politische Ordnung ausmache. Somit könne einem Gegner der Gesellschaft nur die Option bleiben, das Land zu verlassen; alternativ würden ihm all seine Rechte entzogen werden, was schlimmer sei als der Tod.14 Es ist offensichtlich, dass ein solches Argument am besten untergraben werden kann, wenn für die Gesellschaft eine säkulare Staatsordnung infrage kommt und eine auf die veränderten Gegebenheiten angepasste Interpretation des Korans, aber auch der Traditionen erfolgt.