Auf gute Nachbarschaft! Vom Recht des Nachbarn/der Nachbarin aus islamischer Perspektive

Artikel 09.08.2016 Redaktionsteam

Dieser Beitrag befasst sich mit der Bedeutung der nachbarschaftlichen Beziehungen aus islamischer Sicht. Ausgehend von einem diesbezüglich relevanten Koranvers wird mithilfe von Prophetenworten zunächst allgemein auf den Umgang mit den Mitmenschen eingegangen und im Anschluss konkret das Verhältnis zu den NachbarInnen untersucht. Sodann wird der Bezug zu den gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnissen hergestellt.


"Wer an Allah und den Jüngsten Tag glaubt, der soll seinen Nachbarn ehren."1

Der rechte Umgang mit den Mitmenschen ist für gläubige MuslimInnen ein Gebot Gottes. So fordert Allah in Sure 4:36 dazu auf, Eltern, Verwandten, Waisen und einer Reihe weiterer Menschen, denen wir im Leben begegnen können,2 Gutes zu tun. Konkret werden auch die NachbarInnen genannt, und zwar unabhängig von der Religionszugehörigkeit.3

"Behandele deinen Nachbarn mit deinem besten Benehmen, dann wirst du es wert sein, ein Muslim zu sein."4 Diesen Rat gab der Prophet Muhammad (gest. 632) seinem Gefährten Abū Huraira (gest. um 680), einem wichtigen Überlieferer prophetischer Aussprüche. Dieser Zusatz – des Muslimseins "wert zu sein" – stellt einen besonderen Ansporn dar, sich seinen NachbarInnen gegenüber "bestens zu benehmen" und erhebt diese dadurch in einen hohen Rang. Angesichts der menschlichen Natur eine weise und offensichtlich notwendige Art der Motivation, bedenkt man die – gerade auch im Hier und Heute – Häufigkeit von Streitereien und Gerichtsfällen, die Nachbarschaftskonflikte betreffen. Etwa 188.000 Ergebnisse liefert Google bei der Websuche nach "Nachbarschaftsstreit"!5

Doch wenden wir uns der Theorie zu und beleuchten zunächst die allgemeinen islamischen Richtlinien für den Umgang der Menschen untereinander: Ein Muslim soll die Menschen genauso behandeln, wie er sich wünscht von ihnen behandelt zu werden.6 Oder ähnlich ausgedrückt: "Wähle für andere das, was dir selber gefällt, dann wirst du ein wahrer Gläubiger werden."7 Und weiter: "Jemand, der kein Mitempfinden mit jungen Menschen hat und die Rechte der Älteren nicht anerkennt, gehört nicht zu uns."8 Hier wird speziell auf das Verhalten gegenüber Kindern und Jugendlichen sowie älteren Menschen eingegangen, also besonders schutzbedürftigen Gruppen in einer Gesellschaft, damals wie heute. Und was die Behandlung von Frauen angeht, erklärte der Prophet: "Die besten unter euch sind jene, die am besten zu ihren Frauen sind."9

In den zwischenmenschlichen Beziehungen spielt die Kommunikation eine wichtige Rolle. Jedoch neigen Menschen dazu, nicht nur miteinander, sondern auch übereinander zu reden. Hier mahnt der Prophet eindringlich zur Vorsicht, denn die "meisten Fehler des Menschen entstehen seiner Zunge wegen."10 Der sogenannte Klatsch und Tratsch spielt auch in Nachbarschaftsbeziehungen eine besondere Rolle, gerade dann, wenn nur zwischen Tür und Angel bzw. über den Gartenzaun hinweg miteinander gesprochen wird. Auch unter Arbeitskolleginnen und -kollegen ist der Informationsaustausch über andere gängige Praxis. Diese Art von Kommunikation begünstigt Gerüchte, im schlimmeren Fall üble Nachrede und stellt somit eine Gefahr für das harmonische Miteinander dar. Also warnt Muhammad eindringlich: "Es ist Grund genug einen Menschen als Lügner zu bezeichnen, der jedes Wort, das er hört, weitererzählt."11

Alles bisher Gesagte bezieht sich nicht speziell auf das Verhalten gegenüber den NachbarInnen. Beleuchten wir nun die explizite koranische Aufforderung, dem Nachbarn/der Nachbarin Gutes zu tun. Auch diesbezüglich können wir aus einer Reihe von Aussprüchen des Propheten schöpfen, der die moralische Verpflichtung der Gläubigen ihren NachbarInnen gegenüber oftmals betonte.12 So berichtete etwa Abū Huraira, dass der Gesandte Allahs sagte:

"Wer an Allah und den Jüngsten Tag glaubt, der soll Gutes sprechen, oder er soll schweigen. Wer an Allah und den Jüngsten Tag glaubt, der soll seinen Nachbarn ehren. Wer an Allah und den Jüngsten Tag glaubt, der soll seinen Gast ehren."13

Nach ʿAbdallāh ibn ʿAbbās (gest. um 688) sagte Muhammad auch: "Ein Gläubiger darf nicht satt werden, während sein Nachbar hungrig ist."14 Und schließlich: "Gabriel empfahl mir so oft gute Behandlung des Nachbarn, dass ich dachte, er würde ihn vielleicht zum Erben und Nachfolger erklären."15 Erbberechtigt wurden NachbarInnen zwar nicht, jedoch haben in muslimischen Gesellschaften die nachbarschaftlichen Beziehungen bis heute einen besonderen Stellenwert.

Der Begriff NachbarIn wird in den Hadithen nicht speziell definiert und so haben Hadithwissenschaftler die folgenden Arten von NachbarInnen aufgezählt: Muslim – Nichtmuslim, Gottanbetender – Nichtgottanbetender, Freund – Feind, Inländer – Ausländer, Wohlwollender – Nichtwohlwollender, Nahestehender – Nichtnahestehender. Alle diese haben, aufgrund ihres Status als NachbarInnen, ein Recht auf gute Behandlung, ohne in irgendeiner Weise be- oder verurteilt zu werden.16

Was bedeutet dies nun auf unsere heutige Zeit bezogen? Unser städtisches Leben ist mit jenem zu Zeiten des Propheten Muhammad nicht zu vergleichen. In der Anonymität der Großstädte kennen viele ihre NachbarInnen nicht einmal vom Sehen und besonders alte Menschen leben oft allein und sozial isoliert. Würden MuslimInnen ihre Verpflichtung zur guten Behandlung aller NachbarInnen – auch jener, die nicht der eigenen muslimischen Community angehören – ernst nehmen, könnte hier viel Positives geschehen. Fasst man den Begriff NachbarIn weiter, lässt er sich auch ausdehnen auf jene, mit denen wir täglich im Alltag, in Beruf und Schule zu tun haben.
In Innsbruck gibt es ein Projekt namens "Nachbarn helfen Nachbarn", bei dem Freiwillige ihre Mitmenschen im Stadtteil unterstützen. Angefangen von Einkaufengehen, der Erledigung kleinerer Arbeiten im Haushalt bis hin zu Vorlesen oder Spazierengehen umfasst diese ehrenamtliche Nachbarschaftshilfe ein breites Spektrum.17 Projekte dieser Art sollten gerade auch von muslimischer Seite unterstützt oder initiiert werden. Solch ein aktiver Beitrag in der Gesellschaft würde auch das Image der MuslimInnen hierzulande verbessern helfen.

Gerade in Zeiten, in denen der gesellschaftliche Zusammenhalt durch Hassparolen gefährdet wird, sind starke und gute Nachbarschaftsbeziehungen ein wichtiges Instrument, um das friedliche Miteinander in einer multikulturellen und multireligiösen Gesellschaft zu stärken.
Zusammenfassend kann man festhalten, dass die Pflege der Nachbarschaftsbeziehungen einen Teil gelebten muslimischen Glaubens darstellt. Dabei wird nicht negiert, dass der Umgang mit den Mitmenschen sich auch schwierig gestalten kann. Hier bedarf es dann einer weiteren islamischen Tugend, der Geduld: "Der Muslim, der mit den Menschen verkehrt und den Schaden davon geduldig erträgt, ist besser als der, welcher nicht mit ihnen verkehrt und den Schaden davon nicht geduldig erträgt."18

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