Barmherzigkeit und Liebe im Islam und in der islamischen Mystik

Artikel 08.08.2016 Redaktionsteam

Der vorliegende Beitrag befasst sich mit der Barmherzigkeit, der herausragenden Eigenschaft Gottes nach islamischem Verständnis, und der Liebe in der islamischen Mystik. Trotz ihrer großen Bedeutung kommen diesen Begriffen im islamischen Denken bislang keine Schlüsselpositionen zu. Dabei würden sie auch im Christentum und Judentum eine zentrale Rolle spielen und könnten dabei helfen, eine Brücke zwischen den Religionen zu bauen.


"Nachdem Allah die Schöpfung vollbracht hatte und ihr ihre Bestimmung gab, schrieb Er in seinem Buch nieder – und dieses befindet sich bei Ihm auf dem Thron: 'Wahrlich, Meine Barmherzigkeit überwiegt Meinen Zorn.'"1

In der islamischen Theologie und der Volksfrömmigkeit steht die Barmherzigkeit Gottes in der Regel nicht im Vordergrund. Oft herrscht das Bild eines restriktiven Gottes vor, das dem koranischen Bild des barmherzigen Gottes diametral gegenübersteht. Dies hat einerseits mit den Stammesgesellschaften zu tun, in denen Gehorsam eine zentrale Tugend war, es dient aber auch als Instrument, um Menschen gefügig zu machen. Leider müssen auch viele Kinder und Jugendliche in ihrer religiösen Sozialisation die Erfahrung machen, dass ihnen mit Gott und seinen Strafen gedroht wird, da Erzieher und Eltern glauben mithilfe dieser schwarzen Pädagogik schneller ans Ziel zu kommen. Dieses Phänomen gibt es natürlich auch in anderen Religionen.

Obwohl die Barmherzigkeit eine zentrale Rolle im Koran und in den Hadithen einnimmt und die Liebe vor allem für die islamische Mystik maßgeblich ist, wird diesen Begriffen im islamischen Denken bislang zu wenig Bedeutung beigemessen. Der Glaube an die Barmherzigkeit Gottes verbindet auch alle drei monotheistischen Religionen in ihrem Kernbereich und kann dabei helfen, eine Brücke zwischen den Religionen zu bauen.

"Im Namen Gottes des Allerbarmers, das Allbarmherzigen bismi ʾllāhi ʾr-raḥmāni ʾr-raḥīmi." Mit diesen Worten, der Basmala (islamische Anrufungsformel), wie dieser Vers kurz genannt wird, beginnen der Koran und 113 der insgesamt 114 Suren des Koran. Dieser erste Vers nennt gleich doppelt die herausragende Eigenschaft Gottes - seine Barmherzigkeit. Und am Beginn jeder Sure, außer der neunten, werden die Gläubigen an die Barmherzigkeit Gottes, seine am häufigsten genannte Eigenschaft, erinnert. Das arabische Wort raḥma (Barmherzigkeit), lässt sich von raḥim (Mutterleib) ableiten. Dort werden das Mitleid und die Barmherzigkeit angesiedelt. Im Koran werden ar-raḥmān und ar-raḥīm verwendet, um die Barmherzigkeit Gottes auszudrücken. Ar-raḥmān wird in der Regel mit "der Allbarmherzige" übersetzt und ar-raḥīm mit "der Allerbarmer".

Die meisten Gelehrten sind sich darüber einig, dass die beiden Begriffe nicht die gleiche Bedeutung haben, sondern dass sich die Barmherzigkeit von ar-raḥmān auf die gesamte Schöpfung bezieht, während ar-raḥīm die Barmherzigkeit Gottes den Gläubigen gegenüber meint. Ar-raḥmān ist also ein umfassenderer Begriff und es gibt weder einen Dual noch einen Plural davon.2
Ar-raḥīm wird im Zusammenhang mit Gnade und Vergebung verwendet, es wird damit die erbarmende Liebe Gottes beschrieben, seine grenzenlose Bereitschaft, menschliche Sünden zu verzeihen. Ar-raḥmān ist, wie schon erwähnt, ein umfassenderer Begriff, er drückt Gottes bedingungslose und fürsorgliche Liebe zum Menschen aus. Diese Allbarmherzigkeit kann als Wesenseigenschaft Gottes verstanden werden.3

"[...] Euer Herr hat Sich selbst Barmherzigkeit vorgeschrieben. Wenn einer von euch im Unverstand etwas Schlechtes tut und es danach bereut und sich bessert, so ist Er der unübertrefflich Vergebende, der Barmherzige." (Sure 6:54)4

Gott selbst hat sich zur Barmherzigkeit verpflichtet, auf sie können die Menschen zählen. Dem islamischen Gottesverständnis zufolge gehört die Barmherzigkeit zu der herausragenden Eigenschaft Gottes und in der Theologie wurde sie als erstes Handlungsprinzip Gottes anerkannt. Aus Barmherzigkeit hat sich Gott den Menschen offenbart und seine Propheten und Schriften gesandt.
Auch der Koran wird als Barmherzigkeit bezeichnet, so heißt es im Koran: "Und Wir haben ihnen gebracht eine Schrift, die wir mit Wissen darlegten, als Rechtleitung und Barmherzigkeit für die Leute, die glauben." (Sure 7:52)5
Der Glaube an die Barmherzigkeit Gottes verbindet den Islam mit dem Christentum und dem Judentum.

Die Liebe ist ebenfalls eine der maßgeblichen Eigenschaften Gottes. Gott wird sowohl im Koran als auch in den Hadithen "der Liebende" genannt. Ibn ʿArabī (gest. 1240 n. Chr. in Damaskus) war einer der größten Liebeslyriker.6 Er schreibt: "Aus der Liebe sind wir hervorgegangen. Der Liebe entsprechend sind wir gemacht. Nach der Liebe streben wir. In der Liebe gehen wir auf."7

Für Ibn ʿArabī spielt die Liebe Gottes für den Ursprung und das Gefüge der Welt eine zentrale Rolle. Die Liebe Gottes bringt das Universum in die Existenz. Diese Liebe, die diese Trennung hervorbringt, führt schlussendlich auch wieder zur Vereinigung. Gottes Liebe für die Schöpfung führt zur Liebe der Schöpfung zu ihm und diese Liebe bleibt nicht unerfüllt.8
Die islamischen Mystiker gehen also davon aus, dass die gesamte Schöpfung auf der Grundlage der Liebe erschaffen worden ist. Jede Lebendigkeit und das Licht in der Schöpfung resultieren aus den Strahlen der Liebe. Aus diesem Grund suchen sie die Vollkommenheit in und durch die Liebe.9
Die Mystikerin Rabia von Basra (Rābiʿa al-ʿAdawiyya al-Qaysiyya) ist die zentrale Figur des frühen Sufismus. Sie widmete sich ganz der selbstlosen Gottesliebe und diese Liebe um der Liebe willen wurde zum Mittelpunkt des Sufismus. Rabias Gottesliebe war absolut und ließ keinen Raum mehr für andere Gedanken oder eine andere Liebe.10

"O Allah, wenn ich Dich aus Furcht vor der Hölle verehren sollte, dann verbrenne mich in der Hölle, und wenn ich Dich in Hoffnung auf das Paradies verehren sollte, dann schließe mich aus dem Paradies aus; aber wenn ich Dich um Deiner eigenen Selbst Willen verehre, dann verbirg vor mir nicht Deine immerwährende Schönheit."11

Für den Mystiker ist die Liebe eine göttliche Anziehung, die den Liebenden zu Gott zieht. Die Liebe kommt herab und wird oft mit einer hereinbrechenden Flut verglichen. Sufis freuen sich auf ihr Kommen und darauf, von ihr weggetragen zu werden.12 "Die Liebenden (Gottes), gefallen in eine reißende Flut, haben sich dem Willen des Geliebten gefügt." (Rumi)13

Auf welche Art die Liebe auch beschrieben wird, ihr Wesen kann in Wirklichkeit nicht erfasst werden:
"Wie auch immer ich die Liebe erklären will - Komm` ich zur Liebe, schweig` beschämt ich still. Erläut`rung mit der Zunge leuchtet sehr - Doch Liebe ohne Zunge leuchtet mehr. Die Feder eilt zum Schreiben, kaum zu halten - Kommt sie zur Liebe, wird sie gleich gespalten." (Rumi, Übersetzung nach Annemarie Schimmel)14
Für Rumi (gest. 1273 n. Chr. in Konya) stellte die Liebe den Mittelpunkt seines Lebens dar. In seinem ausführlichen Versepos Matnawī besingt er die mystische Liebe zu Gott. "Der Verstand ist unfähig zum Ausdruck der Liebe. Die Liebe allein ist imstande, die Wahrheit der Liebe zu offenbaren und was es ist, ein Liebender zu sein. Wenn du leben willst, so stirb in Liebe; stirb in Liebe, wenn du lebendig bleiben willst." (Rumi)15

Unser Ziel sollte eine Theologie sein, die von Liebe und Barmherzigkeit geprägt ist. Das Verhältnis zu Gott sollte nicht von Angst bestimmt sein, sondern der Gläubige sollte aus Liebe zu Gott und seinen Mitmenschen versuchen sein Menschsein zu vervollkommnen, um auf diese Weise Gott und sich selbst näherzukommen.

1 Muḥammad I.-I. a. Buḫārī/Muhammad Rassoul: Auszüge aus dem Ṣaḥīḥ al-Buḫāryy, Düsseldorf: Islamische Bibliothek 2012, S. 342.

2 Vgl. Mouhanad Khorchide/Milad Karimi/Klaus v. Stosch (Hg.): Theologie der Barmherzigkeit? Zeitgemäße Fragen und Antworten des Kalām (= Schriftenreihe Graduiertenkolleg Islamische Theologie, Band 1), Münster: Waxmann 2014, S. 17.

3 Vgl. Mouhanad Khorchide: Islam ist Barmherzigkeit. Grundzüge einer modernen Religion, Freiburg: Herder 2012, S. 32.

4 Ahmad M. Karimi/Bernhard Uhde (Hg.): Der Koran, Freiburg im Breisgau: Herder 2009, S. 108.

5 Ebd., S. 127.

6 Vgl. Johannes Boldt: Gotttrunkene Poeten. Juan de la Cruz und die Sufi-Mystik (= Interreligiöse Perspektiven, Band 5), Berlin: Lit Verlag 2013, S. 97.

7 Ebd., S. 100.

8 Vgl. William C. Chittick: Ibn 'Arabi. Erbe der Propheten, Herrliberg: Edition Shershir 2012, S. 45f.

9 Vgl. Javad Nurbakhsh: Der Pfad. Sufi Praxis, Köln: Khaniqah-i Nimatullahi e.V. 2010, S. 72.

10 Vgl. Annemarie Schimmel: Mystische Dimensionen des Islam. Die Geschichte des Sufismus, Köln: Diederichs 1992, S. 66f.

11 Fariduddin Attar: Muslimische Heilige und Mystiker (= Diederichs Gelbe Reihe, Islam, Band 173), Kreuzlingen, München: Hugendubel 2002, S. 50.

12 Vgl. J. Nurbakhsh, S. 75.

13 Ebd., S. 75.

14 Vgl. ebd., S. 75f.

15 J. Boldt, S. 97.

Attar, Fariduddin: Muslimische Heilige und Mystiker (= Diederichs Gelbe Reihe Islam, Band 173), Kreuzlingen, München: Hugendubel 2002.

Boldt, Johannes: Gotttrunkene Poeten. Juan de la Cruz und die Sufi-Mystik (= Interreligiöse Perspektiven, Band 5), Berlin: Lit Verlag 2013.

Buḫārī, Muḥammad I.-I. a./Rassoul, Muhammad: Auszüge aus dem Ṣaḥīḥ al-Buḫāryy, Düsseldorf: Islamische Bibliothek 2012.

Chittick, William C.: Ibn 'Arabi. Erbe der Propheten, Herrliberg: Edition Shershir 2012.

Karimi, Ahmad M./Uhde, Bernhard (Hg.): Der Koran, Freiburg im Breisgau: Herder 2009.

Khorchide, Mouhanad: Islam ist Barmherzigkeit. Grundzüge einer modernen Religion, Freiburg: Herder 2012.

Khorchide, Mouhanad/Karimi, Milad/Stosch, Klaus v. (Hg.): Theologie der Barmherzigkeit? Zeitgemäße Fragen und Antworten des Kalām (= Schriftenreihe Graduiertenkolleg Islamische Theologie, Band 1), Münster: Waxmann 2014.

Nurbakhsh, Javad: Der Pfad. Sufi Praxis, Köln: Khaniqah-i Nimatullahi e.V. 2010.

Schimmel, Annemarie: Mystische Dimensionen des Islam. Die Geschichte des Sufismus, Köln: Diederichs 1992.

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