Beiträge der Muslime in der Wissenschaft (Teil I)
Die Lehre des Islam legte besonderen Stellenwert auf den Wissenserwerb. In vielen Koranversen und Aussagen des Propheten Muhammad werden die Musliminnen und Muslime dazu aufgerufen, nachzudenken, zu lesen und sich Wissen anzueignen. Dies hat dazu beigetragen, dass wir heute über ein 800 Jahre altes wissenschaftliches Erbe verfügen, welches im muslimischen Kulturkreis1 produziert wurde und noch nicht gänzlich rezipiert worden ist.
Im vorliegenden Artikel soll diese Thematik behandelt werden.
Übersetzungen
Mit vereinzelten Beiträgen begann die Geschichte der Wissenschaften im muslimischen Kulturkreis bereits im 7. Jahrhundert. Mit der Dynastie der Abbasiden (750-1258) wurde Wissenschaft staatlich gefördert und institutionalisiert. Es kam zu einer Übersetzungsbewegung, die vom 8. bis zum 10. Jahrhundert alle wichtigen Texte (aus den Bereichen Medizin, Astronomie, Mathematik und Philosophie) ins Arabische tradierte. Dies wurde durch die Begeisterung der ersten Abbasidenkalifen für die Gelehrsamkeit und großzügige Mäzene, die einen praktischen Nutzen davon hatten, möglich. Zum Teil gehörte es auch zur kulturellen Tätigkeit dieser Zeit, die Wissenschaft zu fördern und so kamen die Finanzmittel für die Übersetzungen aus allen Teilen der Gesellschaft.2 Viele versuchen, die Entstehung dieser Übersetzungsbewegung mit religiösen Motiven des Islam zu begründen. Jim al-Khalili hingegen nennt in seinem Buch Im Haus der Weisheit folgende Gründe für die Übersetzungsbewegung: die Versessenheit der Abbasiden auf die persische Kultur, die Leidenschaft der Kalifen für die Astrologie, insbesondere der sassanidischen Kultur und der zoroastrischen Mythen sowie neuentstehende Technologien (Wasserräder, Kanäle, Zeitmessung, Buchhaltung3. Obwohl das Wissen im Islam einen hohen Stellenwert hat und der Islam zu dieser Zeit zweifelsohne "einen allgemeinen Geist der Wissbegier und der Neugier auf die Welt"4 förderte, waren religiöse Motive für die Entstehung der Übersetzungsbewegung eher von sekundärer Natur. Diese spielten später für die Entstehung der verschiedenen theologischen Denkschulen, für die Philosophie und die exakten Naturwissenschaften eine wichtige Rolle.5
In der Übersetzungsbewegung wurden Texte aus dem Griechischen, Syrischen, Persischen und Indischen ins Arabische übertragen. Große Teile des griechischen Wissens kamen auch über die christlichen Städte Antiochia (heutige Türkei - Antakya) und Edessa (heutige Türkei - Şanlıurfa) in die arabische Welt. Auch die indische Mathematik, die chinesische Papierherstellungstechnik und die persische Kultur waren von großer Bedeutung. Zu den bedeutendsten Übersetzern der Anfangszeit gehörten Ḥunayn ibn Isḥāq (gest. 873), ein christlicher Arzt, Ṯābit ibn Qurra (gest. 901), ein Sabier aus der Stadt Ḥarran, und Qusṭā ibn Lūqā (gest. 912), ein byzantinischer Grieche.6
Mathematik
Ganz oben in der Hierarchie der Wissenschaften, denen eine große Rolle beigemessen wurde, steht die Mathematik. Dementsprechend haben muslimische Wissenschaftler und Mathematiker in diesem Bereich sehr viel geleistet. Im Folgenden wird nur auf al-Ḫwārizmī (gest. 850) eingegangen, da sein Einfluss noch heute spürbar ist. Als wichtigste Errungenschaft ist in diesem Zusammenhang die Einführung der Dezimalschreibweise zu nennen. Tatsächlich war das Dezimalsystem schon viel früher unter den indischen Gelehrten bekannt. Mit den Arbeiten von al-Kindī (gest. 873) und al-Ḫwārizmī (gest. 850) gelangte diese Schreibweise jedoch zunächst in die muslimische Welt und später auch in den Westen. Al-Ḫwārizmī (gest. 850) schrieb 825 sein Werk über die Arithmetik mit dem Titel Das Buch der Addition und Subtraktion entsprechend der hinduistischen Rechnung. Leider ist dieses heute nicht mehr erhalten. Die lateinische Übersetzung trug den Titel Liber Algorismi de Numero Indorum. Vom latinisierten Namen al-Ḫwārizmīs (gest. 850) leitet sich auch der Begriff Algorithmus ab. Nichtsdestotrotz dauerte es einige hundert Jahre, sowohl im Westen als auch in der muslimischen Welt, bis sich die neuen hinduistisch-arabischen Zahlen gänzlich durchsetzten und Verwendung fanden.7
Am Anfang des 9. Jahrhunderts wurde Algebra zum ersten Mal als eigenständiges Teilgebiet der Mathematik angesehen. Dieses wurde durch das Werk von al-Ḫwārizmī (gest. 850) mit dem Titel al-Kitāb al-muḫtaṣar fī ḥisāb al-ğabr wa-ʾl-muqābala - Das Werk über das Rechnen durch Wiederherstellung und Ausgleich ermöglicht.8 Gleichzeitig erschienen auch zwei andere Werke über Algebra von Sind ibn ʿAli (gest. 864) und ʿAbd al-Ḥamîd ibn Wāsiʾ ibn Turk (gest. 830) mit den Titeln Kitāb al-Ǧabr wa-l-muqābala - Wiederherstellung und Gegenüberstellung.9 Die heutige Bezeichnung Algebra kommt von al-Ǧabr, den latinisierten Titeln dieser Werke.
Medizin
Wenn man über Medizin im muslimischen Kulturkreis spricht, kommt man an zwei Namen nicht vorbei: Ar-Rāzī (gest. 925) und Ibn Sīnā (gest. 1037). Abū Bakr Muḥammad ibn Zakarīyā ar-Rāzī (gest. 925), latinisiert Rhazes, gilt als einer der wichtigsten muslimischen Ärzte. Sein Name wird mit der Errichtung der ersten Krankenhäuser im islamischen Reich in Verbindung gebracht. Außerdem ist bekannt, dass er selbst das Krankenhaus in Ray leitete.10 Eines der wichtigsten medizinischen Lehrbücher, das Al-Kitāb al-Hawi, auf Lateinisch Liber continens, wurde von Ar-Rāzī (gest. 925) verfasst und nach seinem Tod in 25 Bänden zusammengestellt. Sein Hauptwerk ist das Kitāb al-Jāmi' al-Kabīr - Große medizinische Nachschlagewerk. Eine weitere bekannte Monographie von ihm ist das Kitāb al-Jadari waʾl-Hasba, dessen Thema Pocken und Masern sind.11 Ar-Rāzī (gest. 925) gilt als ein Empiriker, der selbst sehr viele Experimente durchführte und uns genügend Aufzeichnungen darüber hinterließ. Er war ein unabhängiger Geist und hatte den Mut, auch Galen zu kritisieren und galt als ein scharfer Gegner der Alternativmedizin.12
Abū ʿAlī al-Ḥusain bin ʿAbdullāh bin Sīnā (gest. 1037), latinisiert als Avicenna bekannt, ist der zweite muslimische Arzt, der für die Medizin von Bedeutung ist. Sein Kanon der Medizin - al-Qānūn fī ṭ-Ṭibb revolutionierte die Heilkunde und wurde bis zum 17. Jahrhundert an den Universitäten gelehrt.13 Sein Kanon ist eine Zusammenfassung aller medizinischen Kenntnisse seiner Zeit und den eigenen Beobachtungen von Ibn Sīnā (gest. 1037). Er ist in einer klaren und geordneten Reihenfolge gegliedert und umfasst insgesamt fünf Bücher14: Theorie der Medizin, Arzneimittel und ihre Wirkungsweise, Pathologie und Therapie, Chirurgie und Allgemeinkrankheiten sowie das Antidotarium.
Chemie und Alchemie
Im Bereich der Alchemie und der Chemie begegnet uns Abū Mūsā Ǧābir ibn Ḥayyān (gest. 81515). Von den einen wird er als Vater der Chemie gefeiert.16 Andere, vor allem Paul Kraus, zweifeln die Authentizität seiner Werke an und sehen in ihm eine legendäre Person.17 Fuat Sezgin hingegen vertritt die Meinung, dass alle seine Schriften ihm zugeschrieben werden können und widerspricht damit Kraus. Zu den Errungenschaften des Ǧābir ibn Ḥayyān (gest. 815), latinisiert Geber, zählt die Vorstellung, dass Elixier auch aus pflanzlichen Substanzen gewonnen werden kann. Er gab der Destillation der Substanzen einen besonderen Platz, beschrieb verschiedene Verfahren und nahm eine methodische Klassifizierung der Substanzen vor. Außerdem entwickelte er die Theorie der Gleichgewichtsverhältnisse, die Wissenschaft von den spezifischen Eigenschaften und erkannte keine Grenzen des menschlichen Denkens an.18