Das Coronavirus und wir. Über den Umgang mit der Covid-19-Pandemie aus einer islamischen Perspektive

Artikel 15.06.2021 Redaktionsteam

Der vorliegende Beitrag handelt vom Umgang mit der Corona-Pandemie aus islamischer Sicht. Nach einer kurzen Analyse der allgemeinen Lage wird in Anlehnung an die prophetischen Überlieferungen versucht, angemessene Verhaltensweisen während der Pandemie aus theologischer Perspektive darzustellen. Die pandemiebedingten Herausforderungen an die islamischen Gemeinden werden ebenso thematisiert wie die weit verbreiteten Verschwörungstheorien. Abschließend werden die häufig gestellten Fragen geklärt, ob Impfungen erlaubt sind und ob das Fasten durch Impfungen gebrochen wird.


Corona und die Welt

Das Coronavirus hat seit über einem Jahr die Welt fest im Griff:

„Am 31. Dezember 2019 wurde die WHO [Weltgesundheitsorganisation] über Fälle von Lungenentzündung mit unbekannter Ursache in der chinesischen Stadt Wuhan informiert. Daraufhin identifizierten die chinesischen Behörden am 7. Januar 2020 als Ursache ein neuartiges Coronavirus […]. Das neue Virus erhielt später die Bezeichnung ‚COVID-19-Virus‘.“1

Darüber hinaus bilden sich seither laufend verschiedenartige Mutationen des Virus, die von der WHO auch als gefährlich eingestuft wurden.2
Durch den Ausbruch der Pandemie kam es in vielen Teilen der Welt zu strikten Ausgangsbeschränkungen, Schließungen von Geschäften, Lokalen, Schulen und Kultureinrichtungen sowie Test- und Quarantänemaßnahmen. Zudem sind bis heute besondere persönliche Hygienemaßnahmen einzuhalten. Unter den vielen SkeptikerInnen gibt es auch einige MuslimInnen, welche die Frage stellen, ob man sich an die strikten Regeln halten müsse, um die Pandemie einzudämmen, oder ob ohnehin alles in Gottes Hand liege und die Menschen eigentlich unbekümmert ihr Leben ohne Einschränkungen fortsetzen sollten.

Theologische Ansätze über den Umgang mit Pandemien

Körper und Gesundheit sind nach islamischem Glauben, ebenso wie die gesamte Schöpfung, dem Menschen anvertraut. Jedoch ist alles, was anvertraut ist, auch angemessen zu schützen. Der Mensch gilt lediglich als Inhaber und Nutznießer, Gott hingegen als der Eigentümer. Somit kann es im konkreten Fall auch als religiöse Pflicht angesehen werden, entsprechende Vorkehrungen zu treffen und sich medizinischen Maßnahmen zur Bewahrung bzw. Wiederherstellung der Gesundheit zu unterziehen.3

Bereits vor mehr als 1300 Jahren hat der Prophet Muhammad seinen Gefährten Folgendes mitgeteilt: „Wenn ihr von einem Ausbruch der Pest [Synonym für Pandemie] in einem Gebiet hört, so begebt euch nicht dorthin; aber wenn die Pest an einem Ort ausbricht, auf dem ihr euch befindet, so verlasst diesen Ort nicht.“4 Dieser Hadith ruft dazu auf, die Verbreitung von Krankheiten zu vermeiden und somit Leben zu schützen. Der Prophet zeigt auch einen Weg zur Lösung auf, nämlich die Selbstisolation.5

Generell forderte der Prophet die Menschen stets dazu auf, Hygienemaßnahmen einzuhalten. Sauberkeit gilt als Voraussetzung für die körperliche und psychische Gesundheit des Menschen und hilft so, sich selbst und auch andere zu schützen. Dazu gibt es zahlreiche Hadithe, wobei einer sehr bekannt ist: Nach Abū Mālik al-Aš‘arī habe der Prophet gesagt: „Sauberkeit ist die Hälfte des Glaubens […].“6 Die große Bedeutung der Hygiene im Islam zeigt sich auch durch die rituelle Waschung (wuḍūʾ), welche obligatorisch für die Gültigkeit der täglichen Pflichtgebete ist.

Die erwähnten Aussagen des Propheten Muhammad, der stets als Vorbild gilt, können MuslimInnen in der Gegenwart als zusätzliche Motivation dienen, um für die aktuelle Situation ähnliche Schlüsse zu ziehen. Ebenso wie der Prophet seine Mitmenschen durch Selbstisolation vor Krankheiten zu schützen versuchte und für Hygienepraktiken und medizinische Behandlung plädierte, sollten MuslimInnen sich in ähnlichen Situationen an seinem Vorbild orientieren.

Die negativen Auswirkungen der Pandemie beschränken sich jedoch nicht nur auf das Physische, sondern sie beeinflussen auch den psychischen Zustand der Menschen. Diesen Aspekt der Psychologie betreffend bieten Religionen spirituelle Unterstützung an, die dazu verhelfen kann, Krisensituationen besser zu überbrücken. Gebete sind ein gutes Mittel, um sich spirituell zu stärken und trotz der vielen Schwierigkeiten eine positive Haltung zum Leben zu entwickeln. 

Der folgende Koranvers weist darauf hin, dass die Erfahrung von Not und Leid die Menschen dazu bringt, demütig zu sein: „Und, fürwahr, Wir sandten Unsere Botschaften zu Leuten vor deiner Zeit (o Prophet) und suchten sie mit Mißgeschick und Härte heim, auf daß sie sich demütigen mögen“.7 Auch wenn Krankheit und Tod viel Leid verursachen, können sie den Menschen daran erinnern, dass alles Dasein ein Geschenk ist und Gesundheit weder selbstverständlich ist noch gar ein Anrecht darauf besteht. Der Mensch kann Dankbarkeit dafür zeigen, indem er sich um die eigene Gesundheit, aber auch um jene der Mitmenschen kümmert.

Herausforderungen für die islamischen Gemeinden

Die Folgen der Pandemie sind vor allem dort spürbar, wo das Gemeinschaftsleben betroffen ist. Da im Islam die gemeinsame Verrichtung des Gebets und die Zusammenkunft als Gemeinschaft in der Moschee eine wichtige Rolle spielt, war es für MuslimInnen ein großer Schock, als die islamischen Gemeinden im April 2020 entschieden, die Aktivitäten in den religiösen Gemeinden auszusetzen. Davon war in vielen Teilen Österreichs auch das allabendliche Gebet im Ramadan 2020 (tarawih) betroffen. Dieses bildet normalerweise einen wichtigen Bestandteil der religiösen Praxis während des Ramadans. Dennoch stellt es keine religiöse Pflicht dar und kann nach Meinung der Gelehrten ebenso gut alleine zu Hause verrichtet werden.

Was das Freitagsgebet anbelangt, so gilt aus islamischer Sicht die übliche Verpflichtung zur Teilnahme als aufgehoben, wenn Krankheit oder Sorge um Gesundheit und Leben vorliegen.8 In solchen Situationen ist der Schutz des Lebens immer die übergeordnete Leitlinie.9 Das islamische Recht kennt zudem den rechtsschulübergreifenden Grundsatz, dass Schaden stets beseitigt oder abgewendet werden müsse (aḍ-ḍarar yuzāl).10

Die fehlende Möglichkeit, die Gebete gemeinsam zu verrichten – wobei diese Entscheidung völlig richtig war – zog auch finanzielle Auswirkungen nach sich. Die ausbleibenden Spenden aus den Freitagsgebeten führten viele Moscheen in den finanziellen Ruin, weil laufende Ausgaben der Moscheen wie Miete oder Gehälter gleich blieben, während die Einnahmen stark sanken.11 Das Fehlen von weiteren sozialen Aktivitäten, mit denen sonst Einnahmequellen verbunden sind, hat die ohnehin schon schwierige finanzielle Situation zusätzlich verschärft. Davon betroffen war auch die Islamische Glaubensgemeinschaft Österreich (IGGÖ), die ebenso die Gemeinschafts- und Freitagsgebete in allen Moscheen österreichweit absetzte. Sie organisierte daher eine Spendenkampagne, mit der auf leetchi.com 44.673 Euro gesammelt wurden.12

Auch in anderen Teilen der Welt, wie in Saudi-Arabien, folgten muslimische Gemeinden den Empfehlungen von Virologen und staatlichen Behörden. So stellte sich der dortige Großmufti als höchste religiöse Autorität hinter die scharfen Regierungsmaßnahmen.13 Außerdem untersagte das saudische Ministerium für Ḥaǧǧ (Pilgerfahrt) und ʿUmra („kleine Pilgerfahrt“) nach langen Debatten für das Jahr 2020 die Pilgerfahrt nach Mekka, um so die Gesundheit und Sicherheit der Gläubigen zu gewährleisten.14 Ab dem Sommer 2020 kam es jedoch bei muslimischen Glaubensgemeinschaften weltweit zu Lockerungen und so wurde ab Juni die Pilgerfahrt zumindest für Pilgernde mit Wohnsitz in Saudi-Arabien erlaubt15 und auch in Österreich wurden mittlerweile das Freitagsgebet und auch teils das Tarawih-Gebet im Ramadan 2021, wenn auch unter strengen Auflagen, wieder ermöglicht.

Verschwörungstheoretiker über die Corona-Pandemie

Parallel zur Ausbreitung der Pandemie sind Unmengen an Verschwörungstheorien zur Entstehung und Gefährlichkeit des Virus und zur Impfung entstanden. Zu den verschiedenen Verschwörungstheorien zählen auch solche, welche die Corona-Pandemie als Strafe Gottes interpretieren. Auch einige MuslimInnen folgen dieser Sichtweise, wonach die Menschheit für ihr sündiges Leben von Gott bestraft und ermahnt werde. VertreterInnen dieser Meinung stützen sich auf einzelne Aussagen, die dem Propheten zugeschrieben werden, die jedoch sowohl anderen Aussagen des Propheten als auch dem gesamtkoranischen Duktus wiedersprechen.16 Außerdem werden derartige Überlieferungen oft ohne jeglichen Kontextbezug verwendet, womit Missverständnisse unvermeidbar sind. Sinnvoller erscheint die Einstufung von Ereignissen wie der Corona-Pandemie als eine Art Prüfung; jedoch nicht in dem Sinne, dass diese gezielt vom Schöpfer initiiert werden, sondern weil sie für die Gesellschaft eine große Herausforderung darstellen, die ohne sozialen Zusammenhalt kaum zu bewältigen ist.  

Die unerwartet schnelle Entwicklung eines Impfstoffes gegen das Coronavirus und die gezielten Fake News gegen diesen Impfstoff haben auch die Skepsis unter einigen MuslimInnen verstärkt. Beispielsweise zeigte eine Befragung in Rheinland-Pfalz (Deutschland) unter geflüchteten Menschen, dass sich lediglich 20-50 Prozent impfen lassen würden. Einige der Befragten fürchteten eine drohende Unfruchtbarkeit nach der Impfung, andere wiederum glaubten, dass ihnen mit der Impfung Chips implantiert würden, die es erlauben würden, sie unter ständiger Beobachtung zu halten.17

Neben den erwähnten Befürchtungen sind unter MuslimInnen während des diesjährigen Ramadans auch theologische Fragen zur Impfung aufgetaucht, wobei sich diese darauf bezogen, ob die Impfung erlaubt sei und ob sie das Fasten breche.

Impfung und Heilung im Islam

Zu Letzterem ist eine klare Antwort möglich: Ja, man kann auch während der Fastenzeit die Corona-Schutzimpfung, so wie andere Impfungen auch, erhalten.18 Es lässt sich sogar allgemein sagen, dass eine „Erfindung“, die nützlich für Körper und Geist ist und dem allgemeinen Wohl der Menschheit dient, aus islamischer Sicht als begrüßenswert und sogar als großartige Wohltat angesehen wird. Es ist MuslimInnen empfohlen, in Krankheitsfällen nach Heilung zu suchen, wobei Impfungen als Präventionsmaßnahmen angesehen werden. Dies wird von folgendem Hadith gestützt: Abū Huraira berichtete, dass der Prophet sagte: „Allah hat keine Krankheit herabkommen lassen, ohne daß Er für sie zugleich ein Heilmittel herabkommen ließ.“19

Der Koran weist darauf hin, dass Heilung letztendlich in Gottes Hand liegt: „und wenn ich krank werde, der Eine ist, der mich gesund werden läßt“.20 Doch Gottvertrauen macht erst dann Sinn, wenn der Mensch auch Gebrauch von den Mitteln und Möglichkeiten macht, die ihm zur Verfügung stehen. Passend dazu sei abschließend eine bekannte, vom  Propheten Muhammad überlieferte Metapher erwähnt, die besagt, dass es nicht genüge, bloß zu beten und auf Gott zu vertrauen, damit ein Tier nicht davonläuft, sondern dass man sein Kamel zuerst festbinden und erst danach sein Vertrauen auf Gott setzen sollte.21

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