"Der Andere, der nie völlig anders sein kann" - Der pluralistische Ansatz von Jerusha Tanner Rhodes

Artikel 22.01.2024 Redaktionsteam

Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit der zeitgenössischen US-amerikanischen Theologin und Gelehrten Jerusha Tanner Rhodes. Nach einer Schilderung ihrer Biografie und ihrer Werke wird ihr pluralistischer Ansatz behandelt. Dabei liegt der Fokus auf ihrer Hermeneutik, welche sie aus der Muslima-Theologie ableitet.   


Biografie und Werke

Jerusha Tanner Rhodes (früher Lamptey) wurde 1975 in eine christliche, kaum praktizierende Familie geboren und wuchs in Connecticut auf. Nach eigenen Angaben stand sie bis zu ihrer Collegezeit Religionen im Allgemeinen ablehnend gegenüber. Mit dem Islam kam sie erstmals während ihres Studienaufenthaltes in Ghana in direkten Kontakt. Fünf Jahre später, im Jahr 2000, konvertierte sie zum Islam.1

Rhodes ist Direktorin des Programms für Islam, soziale Gerechtigkeit und interreligiöses Engagement am Union Theological Seminary in New York City. Zusätzlich bekleidet sie eine außerordentliche Professur für Islam und interreligiöses Engagement. Im Zuge ihrer Forschung konzentriert sie sich insbesondere auf den religiösen Pluralismus sowie auf den islamischen Feminismus.2

Ihre Bekanntheit im akademischen Bereich verdankt sie ihren beiden Publikationen „Never Wholly Other: A Muslima Theology of Religious Pluralism“ (dt. „Niemals gänzlich anders: Eine Muslima-Theologie des religiösen Pluralismus) von 2014 und „Divine Words, Female Voices“ (dt. „Göttliche Worte, weibliche Stimmen“) aus dem Jahr 2018.

Im Zuge ihrer ersten Publikation, welche auf ihrer Dissertation beruht, setzt sie sich mit zeitgenössischen TheologInnen kritisch auseinander. Dazu gehören unter anderem Abdulaziz Sachedina, Farid Esack, Seyyed Hossein Nasr, Muhammad Legenhausen und Asghar Ali Engineer (gest. 2013). Rhodes´ Hauptkritikpunkt betrifft dabei den Mangel an Forschung zur inneren Vielfalt der Religionen. Denn trotz interreligiöser wie intrareligiöser Differenzen ist ihrer Meinung nach „[d]er religiös Andere […] ‚niemals völlig anders‘“3. An dieser Publikation wird insbesondere kritisiert, dass sie zu jenen TheologInnen keine Stellung genommen habe, welche die internen Differenzen von religiösen Überzeugungen sehr wohl beachtet haben, wie Abdolkarim Soroush und Hasan Askari.

Im Zuge ihrer zweiten Publikation bedient sich Rhodes der sogenannten Komparativen Theologie, die überwiegend im christlichen theologischen Kontext verbreitet und seit etwa zwanzig Jahren auch im deutschsprachigen Raum verfestigt ist.4 Dabei fokussiert sie Standpunkte sowohl christlicher als auch islamischer TheologInnen. In dieser Publikation, die nicht nur innerhalb der Islamischen Theologie Resonanz fand, kritisiert sie im ersten Teil die Ansichten jener muslimischen TheologInnen, welche die misogynen Anschauungen im islamischen Kontext mit christlichem Einfluss begründen. Dabei verweist sie darauf, dass es sich um laterale, nicht um hierarchische Strukturen handle. Diese werden im Hauptteil des Buches ausführlicher bearbeitet. Auch wenn das individuelle Gottesbewusstsein für die religiöse Überzeugung ausschlaggebend sei, betont Rhodes im zweiten Teil dennoch die Relevanz des Einflusses des jeweiligen individuellen Kontextes. So sei das Gottesbewusstsein nicht unbeeinflusst von den Lebensumständen einer Person. Auch dieser Ansatz stieß auf Kritik. Denn dadurch, dass sie die Relevanz des gesellschaftlichen Kontextes in Bezug auf das individuelle Gottesbewusstsein betont, müsse dieser bei der religiösen Bewertung mitberücksichtigt werden. Infolgedessen stellt sich die Frage, inwiefern dann noch von einem individuellen Gottesbewusstsein die Rede sein kann.5

Religiöser Pluralismus und Muslima-Theologie

Im Koran wird nach J. T. Rhodes „Andersheit“6 (im englischen Original als otherness bezeichnet) oftmals behandelt, dies allerdings auf unterschiedliche Arten und abhängig vom jeweiligen Kontext. So ist Andersheit nicht notwendigerweise positiv oder negativ. Diese Ambiguität wurde von TheologInnen unterschiedlich zu deuten versucht, wie beispielsweise anhand der Offenbarungsanlässe oder der Abrogation im Koran. Rhodes unterteilt diejenigen WissenschaftlerInnen, die sich mit dem religiösen Pluralismus im Islam beschäftigen, in zwei Gruppen: Die VertreterInnen der ersten Gruppe, zu denen Asghar Ali Engineer (gest. 2013) und Abdulaziz Sachedina zählen, fokussieren sich während der Untersuchung der koranischen Botschaft stets auf die Gemeinsamkeiten zwischen den unterschiedlichen religiösen Gemeinschaften und vernachlässigen die Differenzen, was nach Rhodes zu einer Art Bagatellisierung der koranischen Botschaft führe.

Bei der zweiten Gruppe hingegen, zu der Seyyed Hossein Nasr und Muhammad Legenhausen gehören, wird zwar sowohl der Gemeinsamkeit als auch der Differenz dieselbe Relevanz zugeschrieben, allerdings werden hierbei die unterschiedlichen Glaubensgemeinschaften als isolierte, homogene „Ganzheiten" behandelt.

In beiden Fällen würden nicht zu überschreitende Grenzen gesetzt, um die Gleichheit zu bewahren. Dies kann beispielsweise der Glaube an den Gesandten Muhammad sein. Jerusha T. Rhodes stellt bei diesem Zugang zwei Problemstellungen fest. Zum einen könne ein zu starker Fokus auf diese Grenzen dazu führen, dass andere Aspekte vernachlässigt würden und somit die eigentliche Komplexität der koranischen Botschaft nicht ausreichend zum Ausdruck komme. Zum anderen setzten die klaren Grenzen ein bestimmtes Konzept des religiös „Anderen“8 voraus, was ebenso zu einer Bagatellisierung der koranischen Botschaft führen könne. J. T. Rhodes plädiert hingegen für eine Unterscheidung des religiös Anderen in dem „fernen Anderen“9 und dem „nahen Anderen“10. Bei dem fernen Anderen seien die Unterschiede so unmissverständlich, dass diese Art kaum Bedarf nach einem intensiven Diskurs habe. Die nahen Anderen hingegen seien eine deutlich kompliziertere Gruppierung, da sie so ähnlich zum „Selbst11 seien, dass teilweise keine klaren Grenzen gezogen werden können. Das führe dazu, dass ein ständiges Neu- und Weiterdenken stattfinden müsse, was zu einem dynamischen Verhältnis zwischen dem nahen Anderen und dem Selbst führe.

Rhodes behauptet in weiterer Folge, dass das koranische Andere dem nahen Anderen entspreche, nämlich dem, welches „niemals vollständig anders12 (engl. „never wholly other“) sein kann.

Allerdings ließen sich beide angeführten Gruppierungen der WissenschaftlerInnen, welche sich mit der religiösen Pluralität im Koran beschäftigen, nicht mit diesem Konzept vereinbaren. Aus diesem Grund fordert Jerusha Tanner Rhodes zu einem Neudenken auf und schlägt einen Lösungsweg vor, welcher sich auf muslimische WissenschaftlerInnen und die feministische Theologie stützt. Zwar würde sich diese nicht explizit mit dem religiösen Pluralismus beschäftigen, allerdings könne man aus ihren Arbeiten hermeneutische Zugänge ableiten.

So übernimmt Rhodes den hermeneutischen Zugang von Asma Barlas, welche zwischen lateraler und hierarchischer Differenz unterscheidet. Eine laterale Differenz beziehe sich überwiegend auf Gruppierungen und sei nicht wertend, sondern gottgewollt. Wird der koranische Kontext betrachtet, so seien damit nicht Gruppen gemeint, welche unter keinen Umständen bewertet würden, sondern solche, die nur partielle und verschiedene Wertungen fänden. Ein Beispiel dafür sei das biologische Geschlecht. Hingegen sei eine hierarchische Differenz durchaus wertend. Im koranischen Kontext ließe sich dies anhand des individuellen Gottesbewusstseins (arab. taqwā) messen. Hier liege der Fokus zwar auf dem Individuum per se, jedoch könne dieses nicht getrennt von seiner Interaktion mit anderen Mitmenschen bewertet werden.13

Dieser neue hermeneutische Zugang bietet laut Jerusha Tanner Rhodes eine Möglichkeit, die unterschiedlichen koranischen Standpunkte über bestimmte Gruppierungen zu rechtfertigen. So sei es kein Widerspruch, wenn AnhängerInnen des christlichen Glaubens bei manchen Koranstellen als „Ungläubige“ und wiederrum bei anderen als „die Leute der Schrift“ bezeichnet werden. Diese seien lediglich unterschiedliche hierarchische Zuordnungen lateraler Gruppierungen, was bedeuten würde, dass ChristInnen nicht im Allgemeinen als ungläubig bezeichnet werden dürfen, da das „ChristInsein“ nicht notwendigerweise mit „Unglauben“ zusammenhänge. Ebenso wäre eine hierarchische Bewertung nicht notwendigerweise positiv oder negativ sein, sondern vom jeweiligen Kontext abhängig.14

„Die Differenz sind […] die dynamischen Überschneidungen, welche unterschiedliche (vielleicht sogar unendliche) Kombinationen von Nähe und Andersheit hervorbringen.“15

1 National Public Radio. (2008). Imam's Wife a Bridge Between Two Worlds. https://www.npr.org/templates/story/story.php?storyId=19235263

2 Tanner Rhodes, J. Homepage, https://www.jerushatannerrhodes.com/about, abgerufen am 19.09.2022.

3 Ernst Fürlinger/Senad Kusur (Hg.): Islam und religiöser Pluralismus. Grundlagen einer dialogischen muslimischen Religionstheologie (= Beiträge zu einer Theologie der Religionen, Band 17), Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2019, S. 332.

4 Vgl. Klaus von Stosch/Rita Burrichter/Georg Langenhorst (Hg.): Komparative Theologie: Herausforderung für die Religionspädagogik. Perspektiven zukunftsfähigen interreligiösen Lernens, Paderborn: Verlag Ferdinand Schöningh 2015, S. 10.

5 Vgl. E. Fürlinger/S. Kusur (Hg.): Islam und religiöser Pluralismus, S. 333 f.

6 Jerusha Tanner Lamptey: »Thinking Differently about Difference: Muslima Theology and Religious Pluralism«, in: The Journal of Interreligious Studies, hier S. 34.

7 Ebd., S. 35.

8 Ebd., S. 34.

9 Ebd., S. 36.

10 Ebd.

11 Ebd., S. 36 f.

12 Ebd., S. 37.

13 Vgl. ebd., S. 34 - 38.

14 Vgl. ebd., S. 41.

15 Ebd. (Übers. d. Verf.).

Tanner Lamptey, Jerusha (2014): Never wholly other. A Muslima theology of religious pluralism. Oxford: Oxford University Press.

Tanner Lamptey, Jerusha (2018): Divine Words, Female Voices. Muslima Explorations in Comparative Feminist Theology. Oxford: Oxford University Press.

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