Der Koran - Das ewige Buch Gottes im kulturhistorischen Kontext

Artikel 09.08.2016 Redaktionsteam

Der vorliegende Artikel beschäftigt sich mit dem Thema Koran und dem Koranverständnis im Islam. Nach einer allgemeinen Einführung wird anhand des modernen hermeneutischen Ansatzes von Nasr Hamid Abu Zaid (gest. 2010) ein moderner Blick auf die Heilige Schrift des Islams erörtert.


Dank den jahrzehntelang anhaltenden Spannungen in der weltpolitischen Landschaft gehört der Islam zu den aktuellsten Themen, die weltweit auf allen Ebenen kontrovers diskutiert werden. Obwohl der Vorwurf eines inhärenten Gewaltpotenzials bei den Religionen im Allgemeinen und dem Islam im Besonderen nichts Neues ist, haben die Ereignisse nach den Terroranschlägen in New York und besonders die Entstehungen des sogenannten "Islamischen Staates in Irak und Syrien" dazu geführt, dass der Islam und seine Quellen als Grundlage zur Legitimation und Förderung abgestempelt worden sind. Speziell die Verwendung von bestimmten prekären Koranstellen, ohne die Berücksichtigung des entsprechenden Kontextes, führt zu der berechtigten Frage, ob Gott in seiner Offenbarung tatsächlich zu kriegerischen Auseinandersetzungen aufrufe oder ob diese Annahme vielmehr am mangelhaften Auslegungsverständnis liege. Diesbezüglich liefert der ägyptische Professor Nasr Hamid Abu Zaid wertvolle Überlegungen für einen kontextbezogenen Zugang zum Koran, der im Folgenden dargestellt werden soll.

Für MuslimInnen ist der Koran unumstritten die wichtigste Quelle des Islam, die fern von jeglichen menschlichen Zugriffen an den letzten Propheten Muhammad (gest. 632) durch den Erzengel Gabriel als Offenbarung (waḥy) Gottes wortwörtlich vermittelt worden sei. Der Koran war kein neuer Anfang, sondern vielmehr die Erneuerung der Ermahnung und die Erinnerung an das, was bereits vor Muhammad an die vorhergehenden Propheten offenbart wurde, d. h. dieselbe Botschaft, jedoch in einem neuen Kontext und in einer den Adressaten verständlichen Sprache. Diesen historischen Text nun wortwörtlich auf die Gegenwart zu übertragen, führt nach Abu Zaid zu Missverständnissen und erschwere das Zusammenleben in einer pluralen Gesellschaft.1 Die Kunst liege demnach im Verstehen des Textes und im Erfassen seiner Kernbotschaft, um daraus seine gegenwärtige Bedeutung zu erkennen.2 Abu Zaid scheute sich dabei nicht, Kritik gegenüber der klassischen Sicht der MuslimInnen auszuüben, weshalb er in Ägypten als Apostat verfolgt und von seiner Frau zwangsgeschieden wurde.3 Er betrachtete nämlich den Koran als linguistischen Text im historischen Kontext und somit als kulturelles Produkt.4 Bei der Begriffsdefinition unterschied er dabei zwischen dem Wort Gottes (kalām Allāh), dem Koran (qur'ān) und der Offenbarung (waḥy), die in der Moderne synonym verwendet werden, in der klassischen Theologie jedoch andere Bedeutungen besitzen.5 Für ihn ist der Koran keinesfalls mit dem gesamten Wort Gottes ausgeschöpft, sondern vielmehr eine "spezifische Manifestation"6 dessen, was mit dem Ableben des Propheten gesammelt, geordnet und in Buchform (muṣḥaf) niedergeschrieben worden sei. Außerdem würde die Annahme, einzig der Koran stelle das Wort Gottes dar, Gott auf den begrenzten Umfang des koranischen Textes reduzieren und Arabisch für eine heilige Sprache erklären. Die Göttlichkeit des Koran sei somit nur auf seine Quelle beschränkt.7

In diesem Zusammenhang wird unter Offenbarung vielmehr ein Kommunikationsprozess verstanden. Demnach sei der Koran als Form eines "kommunikativen Aktes"8 zwischen Gott und den Menschen zu sehen: Gott als Sender, Erzengel Gabriel als Vermittler und Prophet Muhammad als Empfänger der göttlichen Offenbarung in bestimmten räumlichen und historischen Umständen der damaligen Zeit. Die sukzessive Offenbarung des Koran in einer Zeitspanne von 23 Jahren zeige dabei die Reaktion Gottes auf die damaligen Bedürfnisse und Forderungen der Gemeinde. Außerdem finde man im Koran auch Informationen über die vorislamische Zeit, womit Gott einen direkten Bezug zu den Adressaten herstelle. Durch diesen Prozess haben Menschen ihre Gesellschaft verändert und eine neue Kultur geschaffen. Daher dürfe nach Abu Zaid die gegenwärtige Bedeutung des Textes nicht an seine ersten Adressaten gebunden werden. Die Essenz liege also darin, das dialektische Verhältnis von Gottes Wort und den menschlichen Interessen in Reflexion mit den gegenwärtigen Lebensumständen fortzusetzen. Denn, wenn die göttliche Botschaft zeitlebens gültig sei, so sei jede Interpretation von der Persönlichkeit des Lesers und seinem gegenwärtigen kulturellen sowie sozialen Horizont abhängig. Geprägt von den Koraninterpretationen von Ibn Rušd (gest. 1198) sowie von Ibn 'Arabī (gest. 1240) versuchte nun Abu Zaid, mit seiner literaturwissenschaftlichen Herangehensweise den Koran mit der Linguistik - als Text in arabischer Sprache - zu verbinden und so eine objektive Auslegung anzustreben.9 Für ihn ist einzig der ursprüngliche Gehalt des Wortes Gottes heilig und göttlich und somit unbegreiflich in seiner Absolutheit, nicht jedoch sein manifester Ausdruck. Im Auslegungsprozess unterscheidet er zwischen der Interpretation (ta'wīl) und dem Kommentar (tafsīr). Beim ersteren geht es um die Enthüllung des tieferen Sinnes des Koran, beim letzteren hingegen um Erläuterungs- und Erklärungsversuche, also vielmehr um Textverständnis, weshalb er die Interpretation dem Kommentar vorzieht.10 Dieser Prozess stellt nach Abu Zaid eine individuelle und einzigartige Beziehung zwischen dem Ausleger und dem koranischen Text dar. Zudem plädiert er für eine wissenschaftliche Objektivität, die darin liege, sich seiner eigenen ideologischen Abhängigkeiten bewusst zu sein und so den Text unter Berücksichtigung folgender Aspekte zu lesen:11

  • Psychologischer Aspekt: Die geistige Annäherung an den Text, woraus sich das individuelle Textverständnis ableitet.
  • Ontologischer Aspekt: Wodurch gelangt das Individuum zu diesem Verständnis?
  • Wissenschaftlicher Aspekt: Objektivität der Herangehensweise.
  • Soziologischer Aspekt: Wirkung der soziologischen Aspekte (Bildung, Erziehung, Kultur, Umfeld usw.) auf die Textinterpretation.
  • Existentieller Aspekt: Selbstinterpretation in Konfrontation mit dem Text.
  • Phänomenologischer Aspekt: Untersuchung des Textes - was er ist, wie er ist u. v. m.
  • Theologischer Aspekt: Wie ist die Kommunikation mit Gott, wonach der Text entstand, zu verstehen?

Bei all den genannten Aspekten darf jedenfalls der historische Kontext, in dem die göttliche Botschaft offenbart wurde, nicht außer Acht gelassen werden. In diesem Zusammenhang meint Abu Zaid, dass jene Verse, die vermeintlich Gewalt fördern, nur gegenüber jenen galten, die für die damalige muslimische Gemeinde gefährlich waren und sie ihrer Existenz bedroht haben, jedoch nicht gegenüber den Andersgläubigen - wie diese Stellen aktuell von Extremisten ausgelegt werden.12

Nasr Hamid Abu Zaid, der am 05.07.2010 in Kairo verstorben ist, gehört sicherlich zu den wichtigsten muslimischen Intellektuellen, die für einen neuen und weiterführenden Zugang zum Koran plädiert haben. Mit seiner linguistischen Herangehensweise an den koranischen Text hat er zeitlebens versucht, der pragmatischen Exegese zu entkommen. Bei der Behandlung des Koran als literarischem Werk lag sein Anliegen darin, ein Paradigma zu schaffen, um den Islam für die gesamte Menschheit begreiflich zu machen und in weiterer Folge diesen Text auf die gegenwärtige Kunst und Kultur fruchtbar einwirken zu lassen. Die muslimische Welt wird damit aufgerufen, ihre religiösen Dogmen neu zu durchdenken und sich dem dialogischen Charakter des Koran zu widmen, was nach Ansicht von Abu Zaid nur noch durch linguistische Analyse möglich ist.

1 Vgl. Nasr H. Abu Zaid/Hilal Sezgin: Mohammed und die Zeichen Gottes. Der Koran und die Zukunft des Islam, Freiburg im Breisgau: Herder Verlag 2008, S. 7.

2 Vgl. ebd., S. 8-9.

3 Vgl. Rachid Benzine/Hadiya Gurtmann: Islam und Moderne. Die neuen Denker. Aus dem Französischen von Hadiya Gurtmann, Berlin: Verlag der Weltreligionen 2012, S. 169.

4 Nasr H. Abu Zayd: "Der Islam und der Westen (4). Spricht Gott nur Arabisch?", in: Die Zeit vom 05/2003, www.zeit.de/2003/05/Abu_Zaid, abgerufen am 23.02.2016.

5 Vgl. R. Benzine/H. Gurtmann, S. 181.

6 N. H. Abu Zayd.

7 Vgl. R. Benzine/H. Gurtmann, S. 184.

8 Ebd., S. 179.

9 Vgl. ebd., S. 164.

10 Ebd., S. 186-187.

11 Vgl. ebd., S. 190-192.

12 Vgl. N. H. Abu Zaid/H. Sezgin, S. 133.

Körner, Felix (Hg.): Alter Text - neuer Kontext. Koranhermeneutik in der Türkei heute (= Buchreihe der Georges-Anawati-Stiftung. Religion und Gesellschaft. Modernes Denken in der islamischen Welt, Band 1), Freiburg im Breisgau: Herder Verlag 2006.

Krüger, Karen: "Wie legt man den Koran aus? Der Reformtheologe Nasr Hamid Abu Zaid entkräftet im Gespräch mit Hilal Sezgin Vorurteile über den Islam - Vorurteile, die so oft gehört wurden, dass sie vielen als wissenschaftlicher Konsens gelten.", in: FAZ. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 02.06.2008, www.faz.net/-gr3-x2bd (abgerufen am 25.02.2016).

Abu Zaid, Nasr H. / Sezgin, Hilal: Mohammed und die Zeichen Gottes. Der Koran und die Zukunft des Islam, Freiburg im Breisgau: Herder Verlag 2008.

Abu Zayd, Nasr H.: "Der Islam und der Westen (4). Spricht Gott nur Arabisch?", in: Die Zeit vom 05/2003, www.zeit.de/2003/05/Abu_Zaid (abgerufen am 23.02.2016).

Neuwirth, Angelika: Der Koran als Text der Spätantike. Ein europäischer Zugang, Berlin: Verlag der Weltreligionen 2013.

Benzine, Rachid/Gurtmann, Hadiya: Islam und Moderne. Die neuen Denker. Aus dem Französischen von Hadiya Gurtmann, Berlin: Verlag der Weltreligionen 2012.

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