Der Koran. Die Rezitation des Gotteswortes
"Lies im Namen deines Erhalters, der erschaffen hat - den Menschen erschaffen hat aus einer Keimzelle! Lies - denn dein Erhalter ist der Huldreichste, der (den Menschen) den Gebrauch der Schreibfeder gelehrt hat - den Menschen gelehrt hat, was er nicht wusste!"1
Mit diesen Versen begann im Monat Ramadan des Jahres 610 die Herabsendung des Korans an den Propheten Muhammad (gest. 632)2 und somit an die Menschheit, in menschlicher Sprache, um den Menschen zur Vervollkommnung zu leiten.3 Für den auf Endlichkeit ausgerichteten menschlichen Verstand ist diese "Offenbarung als Enthüllung der Gegenwart Gottes"4 eigentlich nicht fassbar, wie auch Gott selbst der menschlichen Wahrnehmung und Vorstellung unzugänglich bleibt.5 Im Koran heißt es: "Keine menschliche Sicht kann Ihn umschließen, wohingegen Er alle menschliche Sicht umschließt: denn Er allein ist unergründlich, allgewahr."6 Doch wie die Welt als Gottes Schöpfung eines seiner sichtbaren Zeichen sei, finde durch den Koran seine Sprache in der Welt ausdrücklich Gehör.7 Und so sei der Koran das "die Religion des Islam begründende Wunder"8, das seit seiner Offenbarung im Zentrum muslimischen Lebens stehe. Er sei "Quelle des Lebens, der Lebensgestaltung, Rechtleitung zum wahrhaften Leben, Ermahnung zum besseren Leben, frohe Botschaft im Leben, Erkenntnis des Lebens."9 Generationen bewahrten die Verse, die Gottes Rede offenbaren, im Herzen. Im Herzen des Menschen werde ja, dem vierten Kalifen ʿAlī (gest. 661) zufolge, der Koran wahrhaft bewahrt, nicht "zwischen den Buchdeckeln".10
Wer den koranischen Text auswendig kennt, wird Hafis (arab. ḥāfiẓ) genannt, was wörtlich "Bewahrer, Wächter" bedeutet. Denn seit jeher war das Auswendiglernen von höchster Bedeutung, weil es nämlich als bester Schutz vor Verfälschung des Offenbarungstextes gilt, wenn der Text von einer Vielzahl von Bewahrern, die sich an vielen verschiedenen Orten aufhalten, auswendig gekannt werde.11 Dieses Prinzip der mündlichen Bewahrung wird tawātur genannt. Ein wahrer Hafis freilich kennt nicht nur den Koran auswendig, sondern er wendet ihn auch in seinem Leben praktisch an, nach dem Beispiel des Propheten Muhammad selbst, der der Überlieferung nach "ein wandelnder Koran" war.12 Und so berichtet Imam Malik (gest. 795), dass der Prophetengefährte ʿAbdullah ibn ʿUmar zum Erlernen der Sure al-Baqarah acht Jahre benötigt habe. Denn beim Memorieren des Korans pflegten die Prophetengefährten erst mit einer neuen Stelle fortzufahren, wenn sie das bisher Erlernte auch praktisch anwendeten.13
Allein der arabische Originaltext gilt als Koran, im Gegensatz zu Übersetzungen in andere Sprachen, denn jede Übersetzung bedeutet auch eine Einschränkung der dem Text innewohnenden Bedeutungsvielfalt,14 außerdem gehen "der unnachahmliche Klang ebenso wie der eigentliche Geist" verloren.15 Im rituellen Gebet werden die Koranverse ebenso nur im arabischen Original rezitiert. Diese Bedeutung der Originalsprache führte zu einer besonderen Bewertung bis hin zu einer "Art Weihe der arabischen Sprache, welche den Status einer göttlichen Sprache erhält."16 Mit dieser "Arabisierung des Islam" ist andererseits eine gewisse Minderbewertung des kulturellen und sprachlichen Erbes anderer Kulturen des Islam von Marokko über Iran bis Indonesien verbunden.17
Der auf Arabisch in Buchform niedergeschriebene Koran heißt korrekterweise muṣḥaf, dies ist die von Menschenhand erstellte Kopie des himmlischen Buches (al-kitāb).18 Er wird in muslimischen Häusern stets mit Sorgfalt und Respekt behandelt, bekommt einen Ehrenplatz an möglichst hoher Stelle, evtl. in einer besonderen Schmuckschatulle. Man berührt den muṣḥaf nur im Zustand ritueller Reinheit, und nachdem darin gelesen wurde, küsst man den Buchdeckel. Teilweise nimmt die Verehrung besondere Ausmaße an.19 Der muslimische Schriftsteller und Orientalist Navid Kermani spricht in dem Zusammenhang von einer Verehrung als Fetisch.20 Wird der muṣḥaf im Türrahmen aufgehängt, erhoffen sich die darunter Durchgehenden Segen (baraka) davon und die beiden letzten Suren (die sog. "Schutzsuren") oder Miniaturausgaben des Korantextes werden häufig als Amulette benutzt.21
Die hohe Wertschätzung gegenüber dem geschriebenen koranischen Text führte gemeinsam mit der traditionell ablehnenden Haltung gegenüber der bildlichen Darstellung dazu, dass sich die Kalligraphie als abstrakte Kunst zu einem Hauptzweig des islamischen Kunstschaffens entwickelte.22 Sie nahm eine derart dominante Stellung ein, dass der Professor für islamische Kunstgeschichte Oleg Grabar (gest. 2011) die arabische Schrift als ein Identifikationsmerkmal für islamische Kunst bezeichnete.23 Der Kalligraph, "der sich dem Koranschreiben widmete", wurde "der exemplarische muslimische Künstler" von besonderem Rang.24 Auch in der Gegenwart schmücken Muslime ihre Wohnungen oft mit Kalligraphien, die Koranzitate oder Aussprüche des Propheten in kunstvoller Ausschmückung darstellen.25
Doch die wichtigste und eigentliche Bedeutung des Korans besteht in der Rezitation und dem Hören des Rezitierten. In Sure 73:4 heißt es: "(...) rezitiere den Koran ruhig und deutlich, mit deinem Geist auf seine Bedeutung eingestimmt."26 Und in Sure 7:104: "Darum, wenn der Koran vorgetragen wird, lauscht ihm und hört in Stille zu, auf dass ihr mit (Gottes) Barmherzigkeit begnadet werden möget."27 Die Koranrezitation bildet eine wahre Kunstform mit festen Regeln und verschiedenen Techniken, die in der Lehre des taǧwīd definiert sind. Die besondere Vortragsweise des Gotteswortes dient nach Annemarie Schimmel (gest. 2003) dazu, "das heilige Wort in voller Macht zu zeigen", denn "im Koran sind tonale Formen und Sinn eng miteinander verbunden".28 In der Rezitation des Korans erfahren die Gläubigen gleichsam "die Gegenwart Gottes und seines Gesandten".29 Die Arabistin und Islamwissenschafterin Angelika Neuwirth meint dazu, dass die islamische Spiritualität von der Koranrezitation lebe. Auch werde durch sie die Erfahrung des Propheten "reinszeniert", was eine "wichtige Rückbindung an ihn" sei.30
Kermani befasste sich eingehend mit der koranischen Offenbarung als "Vortragstext"31 und damit zusammenhängend mit dem Hören und ästhetischen Erleben desselben. Das arabische Wort für Koran, al-qurʾān, bedeutet wörtlich "das zu Rezitierende" oder "das Rezitieren" bzw. einfach "Rezitation".32 Und wie Muhammad "seine Verkündigungen mündlich empfangen hat und anschließend seinen Mitmenschen vorgetragen hat", ist "das Hören der vorausgesetzte Modus der Rezeption".33 Der Rezitationscharakter des Korans ist auch aus seiner sprachlichen Struktur ersichtlich. Dazu gehören beispielsweise Klangfiguren, Wechsel der Erzählebenen, Wiederholungen und Refrains sowie eine Zusammenstellung des Textes aus selbstständigen Teilen, die ein Beginnen und Beenden des Vortrags an einer beliebigen Stelle ermöglicht.34
Die Wirkung der Rezitation des Korans auf ihre Hörer wurde in der islamischen Literatur vielfältig überliefert. Von Weinen, Schreien, Verzückung, Ekstase, Ohnmacht bis hin zum Tod reichen die Reaktionen der Menschen, Anhänger wie Gegner Muhammads. Der Gelehrte aṯ-Ṯaʿlabī (gest. ca. 1035) verfasste sogar ein eigenes Buch über die "vom Koran Getöteten".35
Den Koran in seiner Vielschichtigkeit zu erklären und zu verstehen, ist und bleibt ein Ding der Unmöglichkeit. Die Gläubigen befinden sich auf ihrem jeweils individuellen Weg der Annäherung. Und jeder menschliche Versuch einer allumfassenden Definition des Korans scheint unzureichend. Der Koran ist stets mehr, wie es im folgenden Zitat des persischen Theologen und Mystikers Huǧwīrī (gest. um 1075) zum Ausdruck kommt: "Seine Belehrung ist hinreißender als alle Belehrungen, sein Ausdruck ist wundervoller als alle Ausdrücke, seine Gebote sind lieblicher als alle Gebote, seine Verbote sind entschiedener als alle Verbote, seine Verheißungen sind verführerischer als alle Verheißungen, seine Drohungen sind erschütternder als alle Drohungen, seine Erzählungen sind erschöpfender als alle Erzählungen, seine Gleichnisse sind eindringlicher als alle Gleichnisse. Tausend Herzen hat er, da sie ihn gehört haben, gefangen genommen, tausend Seelen hat er mit seinen Geschichten erbeutet. Die Mächtigsten der Welt vermag er zu den Gemeinsten hinabsinken zu lassen, die Gemeinsten zu den Mächtigsten emporzuheben."36