Die postmortale Organtransplantation - Eine bioethische Debatte der islamischen Jurisprudenz

Artikel 09.08.2016 Redaktionsteam

Der vorliegende Artikel beschäftigt sich mit dem Thema postmortale Organtransplantation aus der Sicht der islamischen Jurisprudenz. Nach einer allgemeinen Einführung werden die kontroversen Meinungen aus Pakistan und Ägypten vorgestellt und die daraus resultierenden Herausforderungen im Anschluss zusammengefasst.


Organtransplantation bzw. Gedanken darüber, mit Organen von Verstorbenen bedürftigen Menschen zu helfen, bestehen bereits seit mehreren Jahrhunderten. Die Umsetzung erfolgte jedoch, aufgrund von medizinischen und technischen Fortschritten, erst im letzten Jahrhundert.1 Maßgeblich waren dabei vor allem die Entwicklungen in der Immunologie und Pharmakologie, wodurch immunsuppressive2 Medikamente eingeführt wurden. Diese medizinische Errungenschaft wird jedoch von den monotheistischen Religionen unterschiedlich wahrgenommen und dies führt zu einer kontrovers geführten Diskussion innerhalb der theologischen Jurisprudenz. Auch wenn Thomas Eich in einem Interview bei Qantara.de meint, dass die Grenzen des medizinischen Handelns dort liegen, wo ein gesellschaftlicher Schaden bzw. Eingriff in die Schöpfung vorliegt3, spielen in der Bioethik-Debatte Menschenwürde, Integrität sowie die Lebenserhaltung des Anderen eine wichtige Rolle, zumal es eine sehr diffizile Frage ist, ab wann von einem gesellschaftlichen Schaden bzw. Eingriff in die Schöpfung Gottes gesprochen werden darf. Infolgedessen werden auch die überlieferten Quellen unterschiedlich interpretiert und verstanden.

Dieser Artikel soll in diesem Zusammenhang die Herausforderungen und Rechtsurteile über die postmortale Organtransplantation im Islam anhand von ägyptischem und pakistanischem Rechtsurteil in einer sehr allgemeinen Übersicht darstellen. Zur Vertiefung in die Thematik werden im Anschluss besonders bedeutsame Werke empfohlen.

Eine der wichtigsten Forschungserkenntnisse von Ebrahim Moosa in Bezug auf die Organtransplantation ist, dass die Rechtsgelehrten in der klassischen Zeit ihre Rechtsurteile (arab. fatwā) im Einklang mit den naturwissenschaftlichen Diskursen erstellten.4 Diese Kohärenz mit der Naturwissenschaft ging für ihn allerdings in der Moderne verloren. Während der Westen erhebliche Fortschritte in der Wissenschaft machte, wurden in den muslimischen Ländern naturwissenschaftliche Fächer sukzessive abgeschafft.5 Folglich fehlt muslimischen Rechtsgelehrten das notwendige Wissen über diese medizinischen Errungenschaften sowie deren gesellschaftliche Beiträge und in Anbetracht dessen stützt sich die Diskrepanz zwischen den pakistanischen und ägyptischen Rechtsgelehrten hauptsächlich auf die Thesen von Ibn Sīnā (gest. 1037) und al-Ġazālī (gest. 1111) aus dem 11. Jahrhundert. Al-Ġazālī plädierte nämlich für die Bewahrung der Integrität von Körper und Seele und schätzte sie gleichermaßen, was auch die pakistanischen Rechtsgelehrten in ihrem Rechtsurteil aus den 1960er Jahren akzentuierten.6 Neben der Verpflichtung zur Schadensvermeidung wird in dem Urteil insbesondere die Unantastbarkeit der menschlichen Würde (arab. ḥurma = Schutz der körperlichen Unversehrtheit) ausdrücklich hervorgehoben, welche durch diese Explantation verletzt werden könnte.7 Demzufolge besaß der Mensch nicht die uneingeschränkte Freiheit über den eigenen Körper, der ihm von Gott anvertraut wurde (arab. amāna) und darf ihm keinen Schaden zufügen, zumal die abgetrennten Organe als unrein angesehen werden.8 Trotz gegensätzlicher Meinungen, welche die medizinische Notwendigkeit solcher Behandlungen in den Vordergrund stellten sowie einer Beratung im Jahre 1995, blieb das Verbot zur Organtransplantation aufrecht.9 Vielmehr wird für die Forschung an alternativen Praktiken plädiert, um damit auch einen möglichen Organhandel unterbinden zu können.10

Im Gegensatz dazu vertreten die ägyptischen Rechtsgelehrten eine kontroverse Position, da sie bei ihrer juristischen Urteilsfindung zur Organtransplantation kein Beispiel in der Rechtshistorie finden.11 Die Bewahrung der Würde und des Lebens der Lebenden haben für sie Vorrang gegenüber der Bewahrung der Würde der Toten.12 Außerdem gilt beim Fehlen eines expliziten Verbots eine Neuerung als erlaubt (arab. al-ibāḥa al-aṣliyya), weshalb unter Berücksichtigung des Gemeinwohls (maṣlaḥa) und durch die Anwendung des iǧtihād (individuelle Meinungsbildung der Gelehrten) ein Urteil ausgesprochen wurde, wonach Organtransplantation erlaubt ist.13 Im Gegensatz zum pakistanischen Urteil wurden auch, nach Einholung der Meinungen der drei sunnitischen Rechtsschulen (hanafitische, schafiitische und malikitische), die abgetrennten Organe als rein und nicht geschändet erklärt - unabhängig davon, ob sie aus einem lebendigen oder toten Leib stammen.14 Als Grundvoraussetzung für die Transplantation gilt jedoch, dass Organe nur von toten Patienten entfernt werden dürfen, wonach Atmung und Herzschlag als Lebenszeichen gelten.15 Außerdem gelang es den Rechtsgelehrten, den genaueren Kontext einer Prophetenaussage zu eruieren, welche die pakistanischen Rechtsgelehrten ohne weitere Interpretation für ihr Verbot herangezogen hatten.16 Es wird nämlich überliefert, dass der Prophet Muhammad sagte: "Das Brechen der Knochen eines Verstorbenen ist wie das Brechen der Knochen eines Lebenden."17 Für die ägyptischen Rechtsgelehrten wollte der Gesandte Gottes damit die Würde des Verstorbenen hervorheben und ermahnte infolgedessen einen Totengräber, der gerade die Knochen eines Verstorbenen brach, um dessen Leichnam in ein enges Grab einquetschen zu können.18 Dies zeigt u. a. die enorme Wichtigkeit einer umfassenden Analyse der Quellen für die Urteilsfindung.

Die Problematik der Organtransplantation, wobei letztere grundsätzlich von den drei abrahamitischen Religionen befürwortet wird, kann natürlich im Rahmen dieses Artikels nicht ausführlich behandelt werden. Das Anliegen dieses Artikels liegt vielmehr darin, mit den ausgewählten Aspekten die Meinungsvielfalt innerhalb der islamischen Jurisprudenz aufzuzeigen, die teilweise mit denselben Quellenmaterialien zu unterschiedlichen Urteilen gelangen. So waren es vor allem die (unantastbare) Menschenwürde sowie die Integrität von Körper und Seele, worauf sich die Urteile der Rechtsgelehrten stützten. Ferner wurde auch die Diskrepanz zwischen Freiheit und persönlichem Verantwortungsbewusstsein aufgezeigt, wonach der menschliche Leib seinem Schöpfer gehört und nicht missbraucht werden darf. Aus diesem Grund sehen die pakistanischen Rechtsgelehrten jeglichen Eingriff als Verletzung der menschlichen Würde, während die ägyptischen Gelehrten die Organtransplantation im öffentlichen Interesse für erlaubt erklärten. Eine große Herausforderung stellt dabei das Hirntodkriterium dar, das nicht thematisiert wurde. Für die Mehrheit der Rechtsgelehrten wird der Tod nämlich weiterhin nach den sicheren Todeszeichen festgestellt und akzeptiert. Eine detaillierte Auseinandersetzung darüber würde jedoch über den Rahmen der hiesigen Diskussion hinausführen.

Abschließend sei angemerkt, dass längerfristig vor allem in der islamischen Bioethik-Debatte eine Kohärenz zwischen den Naturwissenschaften und der islamischen Jurisprudenz unumgänglich ist. Darüber hinaus ist auch eine allumfassende Untersuchung der Rechtsfragen und -quellen notwendig, um sie nicht nur aus theologischer Perspektive zu beurteilen. Dies sind Fragen, welche die Gelehrten nicht alleine für die Gesellschaft beantworten können, aber auch nicht die Mediziner selbst. Daher spielt unserer Meinung nach eine Kooperation zwischen den Gelehrten und ExpertInnen in diesem Zusammenhang eine eminent wichtige Rolle.

1 Vgl. Doris Henne-Bruns: "Klinische und ethische Probleme der Organtransplantation", in: Hans-Joachim Münk (Hg.), Organtransplantation. Der Stand der ethischen Diskussion im interdisziplinären Kontext. Im Auftrag der Theologischen Fakultät der Universität Luzern, Freiburg, Schweiz: Paulusverlag 2002, S. 23-57, hier S. 23.

2 Medizinischer Begriff: Schwächung des Immunsystems, um die Abstoßung des Transplantats zu verhindern.

3 Vgl. Sarah Zada: "Eine islamische Bioethik-Debatte im Rahmen der Scharia. Interview mit Thomas Eich", in: Qantara.de vom 16.09.2009, de.qantara.de/node/7826, abgerufen am 25.04.2016.

4 Vgl. Ebrahim Moosa: "Die Nahtstelle von Naturwissenschaft und Jurisprudenz: Unterschiedliche Blickwinkel auf den Körper in der modernen muslimischen Ethik", S. 170-201, hier S. 170.

5 Vgl. ebd.

6 Vgl. ebd., S. 174ff.

7 Vgl. ebd., S. 177.

8 Vgl. ebd., S. 179.

9 Vgl. ebd., S. 176.

10 Vgl. ebd.

11 Vgl. ebd., S. 180.

12 Fatwā, 10:3705 zit. nach ebd., S. 181.

13 Vgl. ebd., S. 180.

14 Vgl. ebd.

15 Vgl. ebd., S. 182.

16 Vgl. ebd., S. 180f.

17 Abu Dawud Nr. 3207.

18 Vgl. ebd., S. 181.

Eich, Thomas (Hg.): Moderne Medizin und Islamische Ethik. Biowissenschaften in der muslimischen Rechtstradition (= Buchreihe der Georges-Anawati-Stiftung / Religion und Gesellschaft / Modernes Denken in der islamischen Welt, Band 2), Freiburg im Breisgau: Herder Verlag 2008.

Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (Hg.): Das Wissensportal zum Thema Kultur und Gesundheit, <link www.kultur-gesundheit.de/,&gt;http://www.kultur-gesundheit.de/</link>, abgerufen am 04.05.2016.

Rey-Stocker, Irmi: Anfang und Ende des menschlichen Lebens. Aus der Sicht der Medizin und der drei monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam, Basel [u.a.]: S. Karger AG 2006.

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