Die unsichtbare Welt – Siḥr und Dschinn im Islam

Artikel 28.12.2023 Redaktionsteam

Der vorliegende Artikel beschäftigt sich mit dem Thema Siḥr und Dschinn im Islam. Beide Konzepte werden im Lichte der Islamischen Theologie gedeutet, wobei dieser Beitrag nicht den Anspruch erhebt, sämtliche Aspekte im Zusammenhang mit diesen Begriffen darzustellen, sondern es soll ein allgemeiner Überblick gegeben werden.


Einleitung

Die Vorstellung einer unsichtbaren Welt, in der Geister, Dämonen und magische Kräfte wirken, bleibt selbst in einer (post)modernen Welt, die von wissenschaftlichen Fortschritten und Rationalität geprägt ist, faszinierend. Sie bietet Raum für Legenden und Mythen, aber auch für alltägliche Spekulationen. Siḥr und Dschinn sind zwei Konzepte, welche die „unsichtbare“ Welt im Islam definieren. Während Siḥr oftmals für Magie und Zauberei steht, versteht man unter Dschinn unsichtbare, nicht-menschliche Wesen, die sich in unterschiedlichen Formen zeigen. Allerdings ist eine schlichte Übersetzung der Begriffe ins Deutsche unzureichend, um auch die dahinterstehenden Konzepte zu verstehen.

Aus diesem Grund widmet sich dieser Beitrag der Vorstellung beider Konzepte und bietet ein abschließendes Resümee mit Bezug auf den zeitgenössischen Kontext.

Siḥr

Um die Magie aus islamischer Perspektive näher zu beleuchten, bedarf es einer sprachwissenschaftlichen Auseinandersetzung in deutscher Sprache. Denn selbst hier lässt sich keine eindeutige Definition des Begriffes vorfinden. So wird im Duden Magie folgendermaßen definiert: „geheime Kunst, die sich übersinnliche Kräfte dienstbar zu machen sucht; Zauberei“ oder „faszinierende, geheimnisvoll wirkende Kraft“.1 Hierbei handelt es sich um eine allgemeine und umfassende Definition, die zahlreiche unterschiedliche Ausprägungen beinhalten könnte.

Bei dem arabischen Begriff Siḥr, der des Öfteren schlicht mit „Magie“ übersetzt wird, handelt es sich ebenso um einen polysemen Begriff, der einer linguistischen Untersuchung aus islamisch-theologischer Perspektive bedarf. Anstatt einer möglichen Ein-Wort-Übersetzung steckt ein umfassendes Konzept dahinter. Auch wenn abhängig von der jeweiligen Literaturgattung noch spezifischere Definitionen existieren2, haben sich im Allgemeinen drei Definitionen etabliert.

Die erste Definition von Siḥr bezeichnet eine Art List. Diese, auch als „weiße Magie“ bekannt, bezieht sich auf Geschehnisse, die den Verstand täuschen und eine Manipulation der betroffenen Person darstellen können. Eine vergleichbare Auswirkung ist bei der zweiten Definition von Siḥr zu beobachten, in der die Überzeugungskraft von Poesie und Redegewandtheit angesprochen wird. In diesem Kontext kann die Eloquenz einer Person eine derart faszinierende Wirkung entfalten, dass Individuen dazu neigen, Handlungen zu vollziehen, die sie unter normalen Umständen nicht in Betracht ziehen würden.  In diesem Zusammenhang soll der Gesandte Muhammad Folgendes gesagt haben: „Manche eloquente Rede ist genauso wirksam wie Magie.“3 Bei der dritten und letzten Definition sind übernatürliche Entitäten im Spiel, in vielen Fällen sind das unsichtbare Lebewesen, die als Dschinn bezeichnet werden. Da Letzteres überwiegend dazu genutzt wird, um anderen Schaden zuzufügen, wird hier auch von „schwarzer Magie“ gesprochen.4

Über die Einschätzung, inwiefern all dies verboten sei, gibt es unterschiedliche Auffassungen innerhalb der vier sunnitischen Rechtsschulen. Der mālikitischen Rechtsschule nach werden MagierInnen nur dann als Ungläubige erachtet, wenn ihre magischen Taten den religiösen Prinzipien widersprechen. Bei den Ḥanafiten und Ḥanbaliten gelten MagierInnen in jedem Fall als Ungläubige, unabhängig von ihren Praktiken. Selbst das Erlernen magischer Praktiken sorgt für Kontroversen innerhalb der islamischen Gelehrten. Während die Mehrheit der Gelehrten (ʿulamāʾ) die Auffassung vertritt, dass selbst das Erlernen ohne das Praktizieren eine schwerwiegende Sünde darstelle, sind einige, insbesondere Hanafiten, wiederum der Meinung, dass das Erlernen eine Pflicht sei und bei Bedarf zum Einsatz kommen müsse, beispielsweise für die Versöhnung zwischen Eheleuten. Auch Faḫr ad-Dīn ar-Rāzī (gest. 1209), prominenter persischer Theologe und Philosoph, stufte das Wissen über die Magie als religionsrechtlich legitim ein.5

​​​​​​​Dschinn

Auch wenn im (vorislamischen) arabischen Volksglauben der Begriff Dschinn des Öfteren im Sinne von „Dämonen“ verwendet wurde, hat der Koran diese Definition nicht übernommen. Der Begriff Dschinn kann auf das Wurzelverb „ğanna“ zurückgeführt werden, dessen Bedeutung „er verbarg“ ist.6 In diesem Zusammenhang wird das Wort im Koran bereits in Verbindung mit Abraham verwendet, wo es heißt: „Denn, als die Nacht ihn mit ihrer Finsternis überschattete […] (fa lammā dschanna ‘alayhi al-laylu […])“7 Ğanna wird hierbei verwendet, um die Idee der Dunkelheit oder des Verbergens auszudrücken.

Daraus entwickelte sich die Definition für Dschinn, welche besagt, dass es sich dabei um, vom Menschen nicht wahrnehmbare, Kräfte handelt, die aber dennoch in einer anderen Dimension existieren, ähnlich wie Satane (šayāṭīn) und Engel (malā'ika). So bedient sich beispielsweise Muhammad Asad (gest. 1992) in seinem Korankommentar der Übersetzung „die unsichtbaren Wesen“8 oder „die ungesehenen Wesen“9. Auch wenn Asad Dschinn hauptsächlich mit „unsichtbaren Wesen“ übersetzt, merkt er an, dass es gewisse Passagen im Koran gibt, wo die Übersetzung „bislang ungesehene Wesen“10 zutreffender wäre. Ein Beispiel dafür ist der erste Vers von Sure 72, welche den Namen „al-Dschinn“ trägt und während der späteren mekkanischen Zeit offenbart wurde.

Was die Erschaffung der Dschinn betrifft, so finden sich dazu im Koran unterschiedliche Darstellungen. Folgende zwei sollen hier angeführt werden: „[W]ährend Wir die unsichtbaren Wesen (lange) zuvor aus dem Feuer sengender Winde erschaffen hatten“11 und „während Er die unsichtbaren Wesen aus einer flackernden Feuerflamme erschaffen hat.“12

Beide Definitionen deuten darauf hin, dass die Dschinn aus nicht-körperlichen Elementen hervorgegangen sind und sich in ihrer Natur wesentlich von den Menschen unterscheiden.

Dschinn kommen im Koran in unterschiedlichen Kontexten vor. So präsentiert Koran 46:29 ein Beispiel dafür, dass Dschinn den Islam als ihre Religion annahmen, nachdem sie der Koranrezitation des Gesandten Muhammad gelauscht hatten. In Koran 34:12 f. werden diese in Zusammenhang mit dem Propheten Salomo (Sulaimān) als dessen Arbeiter erwähnt.

​​​​​​​Abwehr von Magie und Resümee

Um Magie abzuwehren, haben sich im öffentlich wahrnehmbaren Mainstream-Islam zwei Möglichkeiten durchgesetzt, wobei nur eine davon religionsrechtlich als erlaubt eingestuft wird, nämlich die Schutzsuche durch religiöse Praktiken bei Gott selbst. In diesem Sinne werden bestimmte Verse aus dem Koran rezitiert, wie der Thronvers (āyat al-kursī)13 oder die Suren 1 (al-Fātiḥa), 112 (al-Iḫlāṣ), 113 (al-Falaq) und 114 (an-Nās).14

Die zweite, unzulässige, Art ist das Schutzsuchen bei einer anderen Macht beziehungsweise Kraft als bei Gott. Dies kann sich entweder auf Personen beziehen, beispielsweise WahrsagerInnen oder MagierInnen selbst, oder auch auf Gegenstände.14 Zu Letzteren gehören beispielsweise Amulette, wie das sogenannte Nazar-Amulett oder Amuletterollen, die Abschnitte aus dem Koran oder Hadithe enthalten. Das Suchen nach Schutz durch solche Gegenstände und der Glaube an menschliche Vorhersagen werden im islamischen Glauben als širk gedeutet. Širk bezeichnet den Akt des Beigesellens einer anderen Macht zu Gott und ist eine der schwerwiegendsten Sünden.

Die Ungreifbarkeit des Themas bietet einen breiten Spielraum für Mythen und Legenden. Auch die Poesie nahm daran Anteil. So besagt eine Legende, dass Sternschnuppen aus dem Himmel verbannte Dschinn seien. Als Grundlage für diese Erzählung könnte Koran 72:8 f. dienen. Ebenso wurden und werden verschiedene Naturphänomene mit magischen Konzepten oder der Existenz der Dschinn zu deuten versucht.15

Im zeitgenössischen Kontext bieten unterschiedliche Social-Media-Plattformen den Raum für Spekulationen rund um das Thema Dschinn und Siḥr. Dabei sollte bedacht werden, dass derartige Plattformen es jedem ermöglichen, Inhalte zu veröffentlichen und die wissenschaftliche Gültigkeit dieser Inhalte oft mit Skepsis betrachtet werden sollte.

Zu bedenken ist aber auch, dass allein die Tatsache, dass übernatürliche Kräfte dieser Art vom Menschen nicht wahrgenommen werden können, kein ausreichendes Indiz dafür ist, ihre Existenz zu leugnen.16​​​​​​​​​​​​​​

1 Duden.de: Magie, https://www.duden.de/rechtschreibung/Magie, abgerufen am 28.07.2023.

Vgl. Mahmoud Haggag: »Magie im theologisch-rechtlichen Diskurs der arabisch-islamischen Gelehrsamkeit«, in: Sebastian Günther/Dorothee Pielow (Hg.), Die Geheimnisse der oberen und der unteren Welt. Magie im Islam zwischen Glaube und Wissenschaft, Leiden: Brill 2019, hier S. 136.

3 Ṣaḥīḥ al-Buḫārī, 76, 81, sunnah.com/bukhari/76 , (Übers. d. Verf.), abgerufen am 28.07.2023.

4 T. Fahd: »Siḥr«, in: Encyclopaedia of Islam, Second Edition.

5 Vgl. M. Haggag: Magie im theologisch-rechtlichen Diskurs der arabisch-islamischen Gelehrsamkeit, S. 149.

6 Vgl. Muhammad Asad: Die Botschaft des Koran. Übersetzung und Kommentar, Ostfildern: Patmos Verlag 2013, S. 1209 f.

7 Koran 6:76, übersetzt nach M. Asad 2013.

8 Vgl. M. Asad: Die Botschaft des Koran, S. 491.

9 Ebd., S. 1102.

10 Ebd.

11 Koran 15:37, übersetzt nach M. Asad 2013.

12 Koran 55:15, übersetzt nach M. Asad 2013.

13 Koran 2:255

14 Vgl. M. Haggag: Magie im theologisch-rechtlichen Diskurs der arabisch-islamischen Gelehrsamkeit, S. 149 f.

15 Vgl. ebd., S. 150.

16 Vgl. Sebastian Günther/Dorothee Pielow (Hg.): Die Geheimnisse der oberen und der unteren Welt. Magie im Islam zwischen Glaube und Wissenschaft, Leiden: Brill 2019, S. xvi.

17 Vgl. M. Asad: Die Botschaft des Koran, S. 1209.

Joseph von Hammer-Purgstall: Die Geisterlehre der Moslimen, Wien: Kaiserlich-Königliche Hof- und Staatsdruckerei 1852.

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