Entstehung der Hadithwissenschaften

Artikel 12.06.2017 Redaktionsteam

Der vorliegende Artikel beschäftigt sich mit dem Thema Hadith und Hadithwissenschaften im Islam. Nach einer allgemeinen Einführung wird die Entwicklung der Wissenschaften des Hadith über die verschiedenen Epochen erörtert und am Schluss die Hadithkritik neuerer Forscher wiedergegeben.


Einführung

Neben dem Koran ist die Tradition des Propheten Muhammad (Sunna) die zweite Quelle des Islams. Betrachtet man die Tatsache, dass der Prophet Muhammad (gest. 632 n. Chr.) als Beispiel für alle MuslimInnen gilt, wird klar, welche enorme Bedeutung seine Aussagen und Handlungen haben. Die Sunna des Propheten wird durch die Hadithe tradiert, auf die im Folgenden eingegangen werden soll.

Im Arabischen bedeutet Hadith so viel wie "Bericht, Erzählung, Geschichte".1 Fachspezifisch wird damit die "Überlieferung, Tradition"2 des Propheten Muhammad verstanden. Mit Hadith ist also "die Überlieferung der Worte und Taten des Propheten Muhammad gemeint oder, in einem erweiterten Sinn, die Tradierung dessen, was im Beisein und mit dem Einverständnis des Gesandten gesagt oder getan wurde."3 Die Hadithe gelten, wie erwähnt, als die zweitwichtigste Quelle des Islam und "stehen in Bedeutung und Wirkung nur dem Text des Korans nach."4 Ein Hadith besteht aus zwei Teilen, der Überlieferungskette (isnād) und dem eigentlichen Text (matn). Um die Authentizität der Hadithe gewährleisten zu können, sind in den Hadithwissenschaften zahlreiche Klassifizierungen und Kategorien von Hadithen sowie verschiedene Arten der Hadithtradierung entstanden, auf die hier nicht näher eingegangen werden soll.

Hadith zu Lebzeiten des Propheten Muhammad

Auch wenn es den MuslimInnen von Anfang an klar war, dass die Quelle des Islams Gott selbst ist und der Prophet Muhammad lediglich sein Gesandter (Koran 3:144)5 war, hat ihn seine Rolle als Vermittler der göttlichen Botschaft zu der zentralen menschlichen Figur des Islams gemacht. Denn er war nicht nur jener, der die göttliche Botschaft überbrachte, sondern auch derjenige, der diese Botschaft beispielhaft in die Praxis umsetzte. Daher war er zu seiner Lebenszeit unangefochten die einzige Autorität, an die sich die Fragen bezüglich des Glaubens richteten.6 Aus diesem Grund versuchten die MuslimInnen sehr früh, die Aussagen, Handlungen und Haltungen des Propheten weiter zu tradieren.

Die GefährtInnen (ṣaḥāba) des Propheten Muhammad haben danach gestrebt, sich seine Worte einzuprägen und waren stets bemüht, diese zu überliefern. Wir wissen jedoch nicht, ob zu dieser Zeit seine Aussagen niedergeschrieben oder lediglich auswendig gelernt wurden. Unter den muslimischen Gelehrten herrschen bis heute Meinungsverschiedenheiten darüber, denn es gibt Überlieferungen, dass nur der Koran aufgeschrieben werden sollte, um Verwechslungen zu vermeiden, während es auch andere Überlieferungen gibt, die belegen, dass er es einigen Gefährten erlaubt hatte, sie niederzuschreiben.7 Die Gelehrten versuchen es indes so zu begründen, dass zwar in der Anfangsphase die Verschriftlichung verboten war, als die Sunna jedoch umfangreicher wurde, es einigen Gefährten erlaubt wurde, Aussagen des Propheten zu dokumentieren.

Niederschrift und Sammlung der Hadithe

Die Niederschrift der Hadithe beginnt "in der Zeit der ṣaḥāba und frühesten tābiʿūn in einfachen Blättern, die ṣaḥīfa oder ǧuzʾ hießen."8 Dieses sagt auch Goldziher (gest. 1921 n. Chr.) in seinen mohammedanischen Studien: "Nichts steht der Voraussetzung im Wege, dass die Genossen und Schüler Aussprüche und Verfügungen des Propheten durch schriftliche Aufzeichnung vor Vergessenheit bewahren wollten."9 Im Weiteren setzt er aber die Anfänge der Hadithliteratur am Ende des zweiten und Anfang des dritten Jahrhunderts an, wofür Fuat Sezgin ihn in der "Geschichte des arabischen Schrifttums" kritisiert.10 Die ersten Niederschriften sind jedoch keine Sammlungen in klassischer Form, sondern Notizeintragungen, die nicht unbedingt wortgetreu wiedergegeben sein müssen und denen auch persönliche Kommentare hinzugefügt worden sind.11 Solche Hefte haben, den Überlieferungen nach, die Prophetengefährten ʿAlī b. Abī Ṭālib (gest. 661 n. Chr.), ʿAmr ibn al-ʿĀṣ (gest. 664 n. Chr.) und andere geführt.12

Mit der Aufforderung von ʿUmar ibn ʿAbd al-ʿAzīz (gest. 720 n. Chr.) werden von Anfang des zweiten bis zum Ende des dritten Jahrhunderts (nach Hiǧra) die Hadithe offiziell gesammelt und aufgezeichnet.13 In dieser Phase wurden aber nicht nur Aussagen des Propheten unter Hadithen verstanden, sondern auch Aussagen der Prophetengefährten selbst oder die der tābiʿūn wurden in den Sammlungen mitaufgenommen.14 Fuat Sezgin hingegen nennt diese Phase des Zusammenstellens der Hadithe "Tadwīn al-ḥadīṯ" und setzt deren Beginn "im letzten Viertel des ersten und im ersten Viertel des zweiten Jahrhunderts der Hiǧra" an.15 Diese Sammlungen werden als muṣannaf-Werke bezeichnet und eines davon ist die Muwaṭṭaʾ des Mālik b. Anas (gest. 795 n. Chr.).

Systematisierung und Kanonisierung der Hadithe

In der Zwischenzeit hatten sich die Rechtswissenschaften entwickelt und es ließen sich unter den Rechtsgelehrten zwei Tendenzen erkennen: ahl al-ḥadīṯ (Traditionalisten) und ahl ar-ra'y (Rationalisten). Sowohl die Traditionalisten als auch die Rationalisten haben sich in ihrer Rechtsprechung auf den Koran und die Sunna des Propheten berufen. Grundsätzlich unterscheiden sie sich dadurch, dass die Traditionalisten in Zweifelsfällen eine eigenständige Interpretation ablehnten und diese als "Überschreitung der menschlichen Kompetenzen" ansahen, während die Rationalisten auf die eigene Interpretation vertrauten, die aber "stets dem Allgemeinwohl bzw. dem Geist der Offenbarung entsprechen sollte."16

Dieser Logik folgten auch die ersten muṣannaf-Werke, die, nach Themen gegliedert, den rechtlichen und dogmatischen Fragen der Zeit und den verschiedenen Positionen der Rechtsgelehrten gewidmet waren.17

Den Höhepunkt erreichten die Hadithsammlungen im dritten Jahrhundert der Hiǧra mit Imam aš-Šāfiʿī (gest. 820 n. Chr.) und den musnad-Werken. Die musnad-Werke hatten keine thematische Ordnung, jedoch bezogen sie sich ausschließlich auf prophetische Aussprüche und waren nach den Überlieferungsketten (isnād) gegliedert. Es entstanden 44 musnad-Werke und in den nachfolgenden Jahrhunderten kamen weitere hinzu.

In diesem Zusammenhang stellte die große Anzahl gefälschter Hadithe die muslimische Gemeinde vor große Probleme. Diese waren sowohl für politische als auch für theologische Zwecke von verschiedenen Personen und Gruppierungen in Umlauf gebracht worden. Infolgedessen etablierte sich die Überliefererkritik, die die Überlieferungskette und den Überlieferer genau untersuchte. Weiters wurde nach Alternativketten gesucht, um die Authentizität der Überlieferung zu stärken. Im Zuge dieser Arbeit wurden neue Disziplinen, neue Kategorien von Hadithen und auch neue Textformen, in denen Hadithe gesammelt wurden, entwickelt. Die ṣaḥīḥ- und sunan-Werke, die heute zum Kanon der Hadithwissenschaften zählen, entstanden aus diesem Geist der Überlieferer- und Überlieferungskritik. Die ṣaḥīḥ-Werke erheben den Anspruch, nur vertrauenswürdige Hadithe aufgenommen zu haben, deren Überlieferungskette lückenlos sein sollte. Nichtsdestotrotz dauerte der Kanonisierungsprozess sehr lange, bis diese Werke, die uns heute als Al-Kutub as-sitta - Die sechs Bücher bekannt sind, die Kritiker überzeugen konnten.18

Die Problematik der Hadithe

Obwohl der Prophet, wie bereits erwähnt, eine große Bedeutung hat, sind die Hadithe selbst, aufgrund des zeitlichen Abstandes zu ihm, kritisch zu betrachten. Nichtsdestotrotz haben die Hadithwissenschaften eine große Arbeit geleistet, um dennoch eine bestimmte Authentizität dieser Aussagen gewährleisten zu können. Man darf dabei aber nicht außer Acht lassen, dass es sich um eine menschliche Leistung handelt, die wie jede wissenschaftliche Handlung einer Kritik unterliegt und nicht fehlerfrei ist. Eine Analyse der wichtigsten Hadithquellen zeigt, dass auch die beste Klassifizierung kein ausreichender Schutz ist, um alle Hadithe abzufangen, die möglicherweise erfunden sind. Im Ṣaḥīḥ al-Buḫārī, das zu den "vertrauenswürdigen" Hadithsammlungen zählt, wird beispielsweise diese Aussage des Propheten wiedergegeben: "Ibn 'Umar berichtet, der Gesandte Gottes (S) habe gesagt: 'Ich wurde angewiesen, die Menschen zu bekämpfen, bis sie bezeugen, daß es keinen Gott außer Gott gibt und Muhammad der Gesandte Gottes ist, bis sie das Gebet verrichten und die gesetzliche Abgabe bezahlen. Kommen sie diesen Forderungen nach, so sind ihr Leben und ihre Habe vor mir sicher. Sie unterstehen dann einzig dem Gesetz des Islams, und Gott wird sie richten.'"19 Dieses widerspricht klar den koranischen Versen, in denen es heißt: "Es soll keinen Zwang geben in Sachen des Glaubens." (2:256) oder "Für euch euer Moralgesetz, und für mich meines!" (109:6). Daher sind alle Hadithe, unabhängig davon, wie sie eingestuft werden, mit Vorsicht zu genießen und dürfen im Allgemeinen dem Koransinn, wie das Beispiel oben es veranschaulicht, nicht widersprechen.

1 Kurt Bangert: Muhammad. Eine historisch-kritische Studie zur Entstehung des Islams und seines Propheten, Wiesbaden: Springer VS 2016, S. 94.

2 Ebd., S. 94.

3 Ebd., S. 94.

4 Nawawī, Yaḥyā Ibn Sharaf al-/Muḥammad Ibn-ʿAlī Ibn-Daqīq al-ʿĪd/Marco Schöller (Hg.): Das Buch der vierzig Hadithe. Kitāb al-arbaʿīn, Frankfurt (Main): Verl. der Weltreligionen 2007, S. 269.

5 Vgl. Muhammad Asad: Die Botschaft des Koran. Übersetzung und Kommentar, Ostfildern: Patmos Verlag 2015, S. 134.

6 Vgl. Mohammad Gharaibeh: Einführung in die Wissenschaften des Hadith, seine Überlieferungsgeschichte und Literatur (= Studienreihe Islamische Theologie, Band 4), Freiburg i. Br.: Kalam Verlag 2016, S. 17.

7 Vgl. ebd., S. 23.

8 Fuat Sezgin: Geschichte des arabischen Schrifttums (= Band 1), Leiden: E. J. Brill 1967, S. 55.

9 Ignaz Goldziher: Muhammedanische Studien. Zweiter Teil, Hildesheim, New York: Georg Olms Verlag 1971, S. 9.

10 Vgl. F. Sezgin: Geschichte des arabischen Schrifttums, S. 54-55.

11 Vgl. M. Gharaibeh: Einführung in die Wissenschaften des Hadith, seine Überlieferungsgeschichte und Literatur, S. 23.

12 Vgl. ebd., S. 23-24.

13 Vgl. F. Sezgin: Geschichte des arabischen Schrifttums, S. 56-57.

14 Vgl. M. Gharaibeh: Einführung in die Wissenschaften des Hadith, seine Überlieferungsgeschichte und Literatur, S. 35.

15 Vgl. F. Sezgin: Geschichte des arabischen Schrifttums, S. 55.

16 M. Gharaibeh: Einführung in die Wissenschaften des Hadith, seine Überlieferungsgeschichte und Literatur, S. 31.

17 Vgl. ebd., S. 33.

18 Vgl. ebd., S. 36-61.

19 Ṣaḥīḥ al-Buẖārī. Nachrichten von Taten und Aussprüchen des Propheten Muhammad. Ausgewählt, aus dem Arabischen übersetzt und herausgegeben von Dieter Ferchl (= Universal-Bibliothek, Band 4208), Stuttgart: Reclam 1991, II/9, S. 36.

Bangert, Kurt: Muhammad. Eine historisch-kritische Studie zur Entstehung des Islams und seines Propheten, Wiesbaden: Springer VS 2016.

Gharaibeh, Mohammad: Einführung in die Wissenschaften des Hadith, seine Überlieferungsgeschichte und Literatur (= Studienreihe Islamische Theologie, Band 4), Freiburg i. Br.: Kalam Verlag 2016.

Goldziher, Ignaz: Muhammedanische Studien. Zweiter Teil, Hildesheim, New York: Georg Olms Verlag 1971.

Sezgin, Fuat: Geschichte des arabischen Schrifttums (= Band 1), Leiden: E. J. Brill 1967.

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