Erben und vererben aus islamischer Perspektive

Artikel 22.05.2023 Redaktionsteam

Der vorliegende Artikel beschäftigt sich mit dem islamischen Erbrecht. Im ersten Teil wird das klassische islamische Erbrecht basierend auf dem Koran erläutert. Der zweite Teil widmet sich dem modernen Erbrecht unter Berücksichtigung der Geschlechterrollen bei der Erbverteilung. Ziel des Artikels ist es, einen Überblick zu diesem komplexen Thema zu bieten.


Einleitung

Einem häufig zitierten Ausspruch des Gesandten Muhammad zufolge stellt das Erbrecht die Hälfte des Wissens dar.1 Auch wenn diese Überlieferung als schwach (ḍaʿīf) einzustufen ist, verdeutlicht sie doch die Relevanz des Erbens und Vererbens im islamischen Recht. Diese hängt nicht nur damit zusammen, dass das Erbrecht zu den am ausführlichsten behandelten Themen des islamischen Rechts gehört, sondern auch damit, dass es beim Erben und Vererben um eine gesellschaftsrelevante Angelegenheit geht, die abhängig von Zeit und Ort jeweils vor neuen Herausforderungen steht. Auch der berühmte Mathematiker des 9. Jahrhunderts, al-Ḫwārizmī (gest. 850), hat sich in seinem Hauptwerk Kitāb al-muḫtaṣar fī ḥisāb al-ğabr wal-muqābala (dt. „Das umfassende Buch über die Berechnung durch Vervollständigung und Bilanzierung“) ausführlich mit der Berechnung von Erbteilen beschäftigt.2

Im klassischen islamischen Recht wurde für das Erbrecht der Terminus ‘ilm al-farā‘iḍ verwendet, wobei sich dieser sprachlich eher auf konkrete Erbquoten bezieht.  Im modernen islamischen Recht wird meist ‘ilm al-mawārīṯ verwendet, welches das Erbrecht als Gesamtsystem betrachten soll.3 Bemerkenswert ist, dass sich das islamische Erbrecht sukzessive (bi-t-tadarruğ) weiterentwickelt hat (und sich noch immer weiterentwickelt) und dementsprechend nicht von einem festen System ausgegangen werden kann, das die Menschen durch die koranische Botschaft erreicht hat.4

Das Erbrecht im klassischen islamischen Recht

Eine zentrale Stelle im Koran mit Bezug auf das Erbrecht ist Koran 4:11. Darin heißt es: „Hinsichtlich (des Erbes) eurer Kinder gebietet Gott euch (dies): Der Männliche soll ebensoviel wie den Anteil von zwei Weiblichen erhalten; aber wenn es mehr als zwei Weibliche sind, sollen sie zwei Drittel dessen erhalten, was (ihre Eltern) hinterlassen; und wenn es nur eine ist, soll sie eine Hälfte davon erhalten. Und was die Eltern (des Verstorbenen) angeht, jeder von ihnen soll ein Sechstel von dem erhalten, was er hinterläßt [sic!], falls er ein Kind (hinterlassen) hat; aber wenn er kein Kind hinterlassen hat und seine Eltern seine (alleinigen) Erben sind, dann soll seine Mutter ein Drittel erhalten; und wenn er Brüder und Schwestern hat, dann soll seine Mutter ein Sechstel erhalten nach (Abzug) aller Vermächtnisse, die er verfügt haben mag, oder aller Schulden (die er aufgenommen haben mag). Was eure Eltern und eure Kinder angeht – ihr wißt [sic!] nicht, wer von ihnen mehr Nutzen von euch verdient: (daher diese) Verordnung von Gott. Wahrlich, Gott ist allwissend, weise.“5

Das Beispiel dieses Koranverses zeigt exemplarisch, wie präzise und detailliert das Erbrecht im Koran erläutert wird. Neben diesem Vers finden sich weitere, die sich ausführlich mit dem Erben und Vererben beschäftigen, beispielsweise Koran 4:12 und 4:176. Dass das Erbrecht im Koran so ausführlich behandelt wird, könnte unter anderem darin begründet sein, dass es in der vorislamischen Zeit keinerlei fixe Regelungen zum Erben und Vererben gab und dies somit ein neues, gesellschaftsrelevantes Thema darstellte.

Mag der oben angeführte Vers auch eindeutig wirken, so gilt es, bei der praktischen Umsetzung zahlreiche Umstände zu beachten. So darf das Erbe erst dann verteilt werden, nachdem jegliche Kosten abbezahlt worden sind, beispielsweise für die Bestattung, und nachdem jegliche Schulden beglichen worden sind. Erst was danach übrigbleibt, wird als Erbe verteilt. Dabei wird zwischen Erben in gerader Linie (ba‘ḍīya) und in seitlicher Linie (kalāla) unterschieden. Letztere werden grundsätzlich erst dann berücksichtigt, wenn erstere nicht vorhanden sind. Weiters ist festzustellen, dass im Allgemeinen die Nachkommen, also Kinder und Enkelkinder, ein größeres Recht auf das Erbe haben als die Vorfahren, worunter Eltern und Großeltern fallen. Auch werden sogenannte QuotenerbInnen und ResidualerbInnen unterschieden. Erstere (aṣḥāb al-farā‘iḍ) haben, wie schon der Name sagt, eine fixe, koranisch festgelegte Quote, die ihnen als Erbe zusteht. Haben die QuotenerbInnen ihren Anteil erhalten, so wird der Rest an die ResidualerbInnen verteilt.

Eine Möglichkeit, das eigene Vermögen außerhalb der festgelegten Quoten nach Belieben zu vererben, ist das testamentarische Vermächtnis, genannt waṣīya.6 Allerdings gibt es Unklarheiten darüber, welche Personen für solch ein testamentarisches Vermächtnis in Frage kommen. So lehnen es beispielsweise SunnitInnen prinzipiell ab, dass Personen, die sowieso als Erben gelten, zusätzlich vom waṣīya profitieren. Insbesondere in interreligiösen Ehen kommt die testamentarische Regelung den Ehepartnern zugute, welche ihr Vermögen individuell vererben können. Um Manipulationen beim Testament zu vermeiden, sind allerdings Vermächtniszuschreibungen während der Sterbephase kritisch zu betrachten.

Doch nicht nur interreligiöse Ehen, sondern interreligiöse Beziehungen im Allgemeinen sind bei Erbschaftsanliegen kompliziert zu handhaben. So ist es nach der sunnitischen Rechtsschule für MuslimInnen weder zulässig, von Nicht-MuslimInnen zu erben noch an diese zu vererben. Die Mehrheit der schiitischen Gelehrten hingegen legitimiert lediglich das Erben von MuslimInnen, nicht aber das Vererben. Auch hierbei ist zu beachten, dass eine Konversion zum Islam in diesem Sinne missbraucht werden könnte.7

Modernes islamisches Recht und die Geschlechterrolle bei der Erbverteilung

Die Präzision der koranischen Passagen zum Erbrecht lässt keinen großen Interpretationsspielraum offen. Allerdings sind durchaus Reformbestrebungen festzustellen – sowohl auf individueller als auch institutioneller Ebene. Ein Beispiel dafür sind die Regelungen, die 1959 im Irak beschlossen worden sind. Dabei wurde zum einen die Gleichberechtigung beim Erbe zwischen Männern und Frauen festgelegt und zum anderen wurde es für zulässig erklärt, dass gesetzlich festgelegte ErbInnen in Testamenten berücksichtigt werden können. Letzteres rechtfertigten die VerfechterInnen dieses Ansatzes mit folgendem Koranvers: „Es ist für euch verordnet, wenn der Tod einem von euch naht und er viel Reichtum hinterläßt [sic!], Vermächtnisse zugunsten seiner Eltern und (anderer) naher Verwandten zu machen in Übereinstimmung mit dem, was fair ist: dies ist verbindlich für alle, die sich Gottes bewusst sind.“8

Allerdings haben diese Reformansätze nicht lange Stand gehalten und wurden schon 1963 wieder abgeschafft.9

Um den Erfordernissen der jeweiligen Gesellschaft nachzukommen, in bestimmten Fällen aber auch, um die Gerechtigkeit zu wahren, sind Einzelfallentscheidungen notwendig. Dabei werden entweder Fälle aus der Vergangenheit herangezogen – beispielsweise „berühmte Fälle“ (al-masā’il al-mašhūra), „benannte Fälle“ (al-masā’il mulaqqaba) oder „besondere Fälle“ (al-masā’il al-ḫāṣṣa) – oder der/die jeweilige Rechtsgelehrte hat individuell eine Entscheidung zu treffen. Dies zeigt, dass das islamische Erbrecht trotz der präzisen koranischen Ausführung durchaus als lebendig und wandelbar betrachtet werden kann.10

Dieser Wandel im Recht ist insbesondere mit Blick auf Geschlechterrollen gefragt, wo Ungleichheiten evident sind. Denn nach dem Tod des Ehemannes steht dessen Witwe ein Achtel seines Vermögens zu, sofern aus der Ehe Kinder hervorgegangen sind. Im umgekehrten Falle allerdings, also wenn die Ehefrau stirbt, gebührt dem Mann ein Viertel ihrer Hinterlassenschaft. Eine ungleichmäßige Verteilung des Erbes findet auch zwischen Töchtern und Söhnen statt. Denn einem Sohn steht stets das Doppelte von dem zu, was der Tochter zusteht. Diese ungleiche Aufteilung wurde im Wesentlichen damit begründet, dass den Männern eine Unterhaltspflicht für die gesamte Familie zusteht, wovon Frauen nicht betroffen sind. Der größere Anteil am Erbe der Eltern soll demnach eine finanzielle Entlastung für den Sohn bzw. die Söhne darstellen. Ebenso wird im klassischen islamischen Recht die Tatsache betont, dass mit den koranischen Regelungen den Frauen erstmals feste Erbteile zugeschrieben worden sind. So haben in der vorislamischen Zeit verwitwete Frauen (resp. Frauen im Allgemeinen) nicht nur keinen Anteil am Erbe des Mannes bekommen, sondern sie gehörten selbst zur Hinterlassenschaft und konnten vererbt werden. Berücksichtigt man diese Umstände, so lässt sich das islamische Erbrecht durchaus als fortschrittlich in der damaligen Gesellschaft bewerten. Es bleibt allerdings die Frage offen, ob diese Regelungen auf die heutige Gesellschaft übertragen werden können.11 Betrachtet man die heutigen, insbesondere europäischen, Gesellschaftsstrukturen, so wird schnell klar, dass in den meisten Fällen Frauen zum Familieneinkommen beitragen. Zu berücksichtigen sind ebenso (unbezahlte) Haushaltstätigkeiten und die Kindererziehung, die nicht selten noch immer als selbstverständlich betrachtet werden. Ebenso gilt es zu hinterfragen, dass ein Mann allein aufgrund seines biologischen Geschlechts die (finanzielle) Verantwortung für die Familie zu übernehmen hat, ungeachtet der jeweiligen Persönlichkeit.12 In diesem Sinne sollte diskutiert werden, inwieweit sich das islamische Recht den gesellschaftlichen Entwicklungen anpassen kann, sodass das koranische Prinzip der Gerechtigkeit stets erhalten bleibt.

1 Vgl. Hans-Georg Ebert: Das Erbrecht arabischer Länder, Frankfurt am Main: Peter Lang 2004, S. 14.

2 Vgl. Mathias Rohe: Das islamische Recht. Geschichte und Gegenwart, München: Verlag C.H. Beck 2009, S. 103.

3 Vgl. H.-G. Ebert 2004, S. 10.

4 Vgl. ebd., S. 17.

5 Koran 4:11, nach Muhammad Asad: Die Botschaft des Koran. Übersetzung und Kommentar, Ostfildern: Patmos Verlag 2013.

6 Vgl. Koran 2:180

7 Vgl. M. Rohe 2009, S. 99 - 102.

8 Koran 2:180.

9 Vgl. M. Rohe 2009, S. 231.

10 Vgl. Hans-Georg Ebert: Islamisches Familien- und Erbrecht der arabischen Länder. Herausforderungen und Reformen, Berlin: Frank&Timme 2020, S. 147.

11 Vgl. M. Rohe 2009, S. 101.

12 Vgl. ebd., S. 232.

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