Hārūn ar-Rašīd - zwischen Frömmigkeit und Frivolität

Artikel 27.06.2017 Redaktionsteam

Der vorliegende Artikel beschäftigt sich mit der Figur des Hārūn ar-Rašīd, dem fünften abbasidischen Kalifen. Nach einer allgemeinen Einführung in sein Leben und den Kontext seines Wirkens werden die verschiedenen Darstellungen über Hārūn als frommen und zügellosen Herrscher wiedergegeben und erörtert.


Einführung

Hārūn ar-Rašīd wurde 766 (oder 763)1 n. Chr. als Sohn des dritten abbasidischen Kalifen al-Mahdi (gest. 785 n. Chr.) und einer ehemaligen Sklavin aus dem Jemen namens Khayzurān (gest. 789 n. Chr.) in Raj (heutiger Iran) geboren. Seinen Beinamen "ar-Rašīd", auf Deutsch "der Rechtgeleitete", erhielt er aufgrund der militärischen Verdienste, bevor er zum Kalifen wurde.2 Sehr früh wurde er zum Statthalter von Tunis, Ägypten, Syrien, Armenien und Aserbaidschan ernannt. 785 n. Chr., als der Vater Hārūns starb, kam zunächst der ältere Bruder Mūsā al-Hādī (gest. 786 n. Chr.) zum Zug und wurde Kalif. Wenig später fiel dieser jedoch einer Verschwörung zum Opfer und 786 n. Chr. wurde Hārūn im Alter von 20 Jahren zum Kalifen.3 Der neue Kalif machte Yaḥyā bin Khālid (gest. 806 n. Chr.), einen Barmakiden, zu seinem Wesir, der gemeinsam mit seinen Söhnen al-Faḍl (gest. 808 n. Chr.) und Ǧaʿfar (gest. 803 n. Chr.) 17 Jahre an der Macht blieb.4

Als fünfter abbasidischer Kalif regierte Hārūn von 786 bis 809 n. Chr. in einer Epoche, die als Höhepunkt des "Goldenen Zeitalters des Islams" bezeichnet wird. Bagdad erlebte einen wissenschaftlichen Aufschwung und wurde zu einem Zentrum des geistigen Lebens. Damit einhergehend war diese Epoche von einer wirtschaftlichen, kulturellen und religiösen Blüte geprägt.5 Die guten Handelsbeziehungen mit China, Indien und Europa begünstigten diese Entwicklung.6 Doch auch wenn die meiste Zeit Frieden herrschte, gab es viele politische Unruhen im Osten und Westen des Reiches. Syrien hörte nie auf, aufgrund der Sympathien einzelner Stämme für die Umayyaden, der bittere Feind der Abbasiden zu sein. Es herrschten politische Unruhen in Ägypten, wo sich später das Fatimidenreich etablierte. In Tunis, Maghreb und Spanien bildeten sich zu dieser Zeit neue Dynastien. Im östlichen Teil des Reiches herrschte eine Unzufriedenheit in den unteren Gesellschaftsschichten und die Bevölkerung war mehr ihren alten lokalen Traditionen verbunden als dem Islam. Unter Hārūn ar-Rašīd verschlechterte sich die Situation der Schutzbefohlenen (ḏimmīs), da er ihnen anordnete, andere Kleidung als die Muslime zu tragen und andere Tiere zu reiten.7 802 n. Chr. verkündete Hārūn seine Nachfolgeregelung, indem er drei seiner elf Söhne zu Erben machte. Danach entmachtete er die Barmakiden. 809 n. Chr. starb Hārūn ar-Rašīd in Tus (heutiger Iran) während eines Feldzugs gegen die Aufständischen. Seine Thronfolgeregelung löste 811 n. Chr. einen Bruderkrieg aus.8

Hārūn der Fromme

Die Herrscher der Abbasidenfamilie hatten es sich zur Aufgabe gemacht, die Muslime wieder zum "wahren Kern" des Islam zurückzuführen. Hārūn ar-Rašīd sollte den Weg seiner Vorfahren fortsetzen und umgab sich stets mit Religionsgelehrten, mit denen er über die verschiedenen Themen des Rechts und der Dogmatik diskutierte. Weiters gewannen während seiner Regierungszeit die heiligen Stätten des Islam wieder an Bedeutung. Bei seinen Wallfahrten nach Mekka soll er sich besonders großzügig gezeigt haben. Ähnliches wird auch von seiner Mutter Khayzurān berichtet.9 In der islamischen Geschichtsliteratur finden wir drei Merkmale, die Hārūn ar-Rašīd zugeschrieben werden. Man sagt, dass er abwechselnd ein Jahr die Wallfahrt verrichtete und im nächsten Jahr Krieg im Namen des Islam (Eroberungszüge) führte, wobei besonders seine Kriegszüge gegen die Byzantiner gelobt werden. Drittens wird Hārūn als starker Förderer der Wissenschaft angepriesen.10
Tatsächlich stieg die Anzahl der Übersetzungen zu seiner Regierungszeit stark an. An Hārūns Hof waren Künstler, Musiker, Dichter und Theologen aus aller Welt angestellt. Es wurden medizinische, astronomische und mathematische Texte aus dem Griechischen, Persischen, Syrischen und Indischen ins Arabische übersetzt.11 Es wurde die erste Papierfabrik des Vorderen Orients errichtet, die Entwicklung der Landwirtschaft vorangetrieben und die Bildung zum allgemeinen Ziel des Staates erklärt. Diese Entwicklung zeigte sich auch in der Architektur und im Bauwesen mit den prächtigen Schlössern und Palästen für die Kalifenfamilie.
Zu dieser Zeit wurde auch die erste vollständige Biographie des Propheten Muhammad verfasst und der Nachwelt versichert, dass Hārūn ar-Rašīd regelmäßig betete.12
Schenkt man den Erzählungen aus "Tausendundeiner Nacht" Glauben, wird Hārūn als gerechter Herrscher dargestellt, der sich um sein Volk kümmerte, seine Bevölkerung beobachtete und die Armen beschenkte. Zu seinen Eigenschaften werden die Tugendhaftigkeit, Bescheidenheit, Frömmigkeit, Gottesfurcht und Ritterlichkeit gezählt, die auch in manchen historischen Quellen bestätigt worden sind.13

Hārūn der Zügellose

Auf der anderen Seite erlaubten der Wohlstand und der Reichtum viele Genüsse und Vergnügungen des Lebens. Man feierte allerlei Feste und Feierlichkeiten mit großem Aufwand, bei denen Musik und Tanz nicht fehlen durften. Besonders berühmt waren die Beschneidungs- und Hochzeitsfeiern am Kalifenhof. Breite Schichten der Gesellschaft führten ein ausschweifendes Genussleben mit Frauen, Wein und der Knabenliebe. Hārūn wird vorgeworfen, dass er sich übermäßig betrank und allen Trieben freien Lauf ließ.14
Ihm werden bis heute das Unglück und die Tragödie der Barmakiden zur Last gelegt. Er wird "als ein grausamer Tyrann und unmenschlicher Despot gezeigt, der sich nicht scheute, seinen ihm treu dienenden Großwesir, Ǧaʿfarden Barmakiden (gest. 803 n. Chr.), auf gräuliche Weise umzubringen und dazu dessen gesamte Familie auszurotten."15 Tatsächlich ließ Hārūn den Kopf und den in zwei geteilten Körper Ǧaʿfars (gest. 803 n. Chr.) im Zentrum Bagdads zur Schau stellen. Weiters wurden alle Mitglieder der Familie der Barmakiden festgenommen und ihr Besitz sowie der ihrer Verwandten, Freunde und Diener konfisziert.16 Diese Tragödie machte die Familie der Barmakiden zu Märtyrern und verwandelte sie in einen Mythos, der bis heute in der Literatur seinen Widerhall findet.

Schluss

Zusammengefasst ist die Figur des Hārūn ar-Rašīd ziemlich zwiespältig. Es werden zwei Seiten von ihm dargestellt: Auf der einen wird er als frommer und gerechter Herrscher angepriesen, während die andere die Schattenseite Hārūns zeigt, nämlich einen grausamen Tyrannen, der die Barmakiden enthauptete. Zweifelsohne werden die positiven Eigenschaften Hārūns in vielen historischen Quellen bestätigt. Man muss aber bedenken, dass die Figur des Hārūn ar-Rašīd zu einem "Phänomen" in der Literatur geworden ist und ihm alle möglichen positiven Eigenschaften zugeschrieben werden, die ihn zu einem Mythos werden lassen sollen.17 Aleya Khattab schreibt dazu: "Es ist nicht der historische Harun, der dort gezeichnet wird, vielmehr steht Harun stellvertretend für einen beliebigen Herrscher. Lobspruch oder Schuldspruch treffen ihn nicht alleine, gepriesen wird der gerechtigkeitsliebende Idealherrscher, und kritisiert wird der absolute Despot."18
Ob als Despot oder Vorbild, die Figur des Hārūn ar-Rašīd bietet weiterhin Material für große Diskussionen, die uns auf die eine oder andere Weise weiterhin beschäftigen werden.

1 Die Quellen unterscheiden sich bei seinem genauen Geburtsdatum. Meistens werden März 763 und Februar 766 angegeben.

2 Vgl. Aleya Khattab: "Harun ar-Raschid", in: Ulrich Müller/Werner Wunderlich (Hg.), Herrscher, Helden, Heilige. Mitarbeit und Redaktion Lotte Gaebel, St. Gallen: UVK Fachverl. für Wiss. und Studium 1996, S. 67.

3 Vgl. ebd., S. 67-68.

4 Vgl. Bernard Lewis/Victor L. Ménage/Charles Pellat et al. (Hg.): H-Iram (= The Encyclopaedia of Islam, Band 3), Leiden: Brill 1986, S. 232-233.

5 Vgl. A. Khattab: Harun ar-Raschid, S. 68-69.

6 Vgl. André Clot: Harun al-Raschid. Kalif von Bagdad. Aus dem Französischen übertragen von Sylvia Höfer, München, Zürich: Artemis-Verl. 1988, S. 269-270.

7 Vgl. B. Lewis/V. L. Ménage/C. Pellat et al. (Hg.): H-Iram, S. 233-234.

8 Vgl. Gudrun Krämer: Geschichte des Islam, München: Beck 2005, S. 83-84.

9 Vgl. A. Clot: Harun al-Raschid, S. 46-47.

10 Vgl. Samir Mourad: Islamische Geschichte. Eine analytische Einführung, Karlsruhe: DIDI Deutscher Informationsdienst über den Islam 2009, S. 469.

11 Vgl. Jim Al-Khalili: Im Haus der Weisheit. Die arabischen Wissenschaften als Fundament unserer Kultur. Aus dem Englischen von Sebastian Vogel, Frankfurt am Main: S. Fischer 2011, S. 91-94.

12 Vgl. A. Khattab: Harun ar-Raschid, S. 69-71.

13 Vgl. ebd., S. 80-81.

14 Vgl. ebd., S. 66-81.

15 Ebd., S. 67.

16 Vgl. A. Clot: Harun al-Raschid, S. 112-115.

17 Vgl. A. Khattab: Harun ar-Raschid, S. 80-84.

18 Ebd., S. 84.

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