Ibn Ḫaldūn - Historiker, Soziologe, Philosoph

Artikel 19.06.2017 Redaktionsteam

Der vorliegende Artikel beschäftigt sich mit dem Universalgelehrten Ibn Ḫaldūn (gest. 1406 n. Chr.), der die Theorie vom Kreislauf der Kulturen/Zivilisationen entwickelte. Es werden eine kurze Lebensgeschichte Ibn Ḫaldūns, sein Hauptwerk und die berühmte "Muqaddima" dargestellt. Abschließend wird auf die Diskussionen über seine Methoden eingegangen.


Im 13. und 14. Jahrhundert befand sich die islamische Welt in einer Phase des Niederganges, die von politischen Unruhen und Umwälzungen geprägt war. Das Ende der Blütezeit des islamischen Kulturkreises war mit dem Einfall der Mongolen in Bagdad im Jahre 1258 n. Chr. besiegelt worden. Auch der Sieg über die Kreuzfahrer im Jahre 1291 n. Chr. verhalf dem islamischen Reich nicht zum erhofften Aufschwung.1 Sowohl das maurische Spanien als auch der Maghreb blieben von dieser Entwicklung nicht verschont, sodass es auch in diesen Gebieten zu ständigen Wechseln der Herrscherdynastien kam.2 Diese Entwicklungen gaben dem jungen Ibn Ḫaldūn Anlass, die umgebende Kultur genau zu beobachten und sie zu analysieren.

Abd ar-Raḥmān ibn Muḥammad Ibn Ḫaldūn al-Ḥaḍramī entwickelte zu dieser Zeit seine Theorie über den Aufstieg und Fall der Kulturen und wurde zu einem einzigartigen Geschichtswissenschaftler und -theoretiker der islamischen Welt, dessen Werk ab dem 19. Jahrhundert in Europa Berühmtheit erlangte.

Leben und Werk

Der arabische Universalgelehrte Ibn Ḫaldūn wurde 1332 n. Chr. in dem von den Hafsiden beherrschten Tunis geboren. Seine Familie war jemenitischer Abstammung und hatte sich in Sevilla niedergelassen, wo sie politischen Einfluss ausübte. Als die christliche Bedrohung in Spanien zu groß wurde, zog die Familie Ḫaldūn nach Nordafrika und übernahm aufgrund ihres Ansehens unter den Hafsiden neue politische Ämter.3 Da auch Ibn Ḫaldūns Vater ein begeisterter Wissenschaftler war, genoss sein Sohn neben dem traditionellen Studium der islamischen Fächer auch eine Ausbildung in den Wissenschaften der Logik, Mathematik, Naturphilosophie, Metaphysik sowie der Kunst des Schreibens.4 Nach seiner Ausbildung trat Ibn Ḫaldūn in die Fußstapfen seiner Vorfahren und wurde Sekretär des Sultans. Gleichzeitig übte er nebenbei das Richteramt aus. Nach einiger Zeit verließ er jedoch Tunis und begab sich nach Fes, wo er seine politische Karriere am Hofe fortführte. Wenig später wurde er eines Komplotts verdächtigt und kam ins Gefängnis, wurde aber freigelassen, als der Sultan starb und übernahm unter dem neuen Herrscher wieder politische Funktionen. Durch den Wechsel des Herrscherhauses verlor Ibn Ḫaldūn erneut sein Amt, wodurch er dann mit seiner Familie nach Granada umsiedelte.5 Diese Entwicklungen waren zu dieser Zeit selbstverständlich und auch in den folgenden Jahren wurde das politische Alltagsgeschehen nicht ruhiger, sodass Ibn Ḫaldūn mehrmals gezwungen war auszuwandern, bis er sich schließlich im Jahre 1375 n. Chr. zurückzog und vier Jahre lang wissenschaftlich tätig war. In diesen Jahren schrieb er auch die Muqaddima. Später kehrte er nochmals nach Tunis zurück, verließ seine Heimatstadt aber endgültig 1382 und ging nach Kairo, wo er Professor der Qamhiyya-Madrasa wurde und bis ans Lebensende an diversen Kairoer Madrasas blieb. In Kairo wurde er insgesamt sechsmal vom Sultan zum Oberrichter der malikitischen Rechtsschule ernannt und wieder abbestellt und führte dieses Amt bis zu seinem Tod am 16. März 1406 aus.6

Die Muqaddima

Es wird überliefert, dass Ibn Ḫaldūn mehrere Werke geschrieben haben soll.7 Er selbst jedoch erwähnt nur seine Universalgeschichte mit der berühmten "Muqaddima", das mit "Prolegomena" oder "Einleitung" übersetzt wird. Die Universalgeschichte ist gleichzeitig das Hauptwerk Ibn Ḫaldūns und trägt den Titel Kitab al-Ibar - Das Buch der Beispiele, das in sieben Bänden in Druckform vorliegt und deren erstes Buch die Muqaddima ist.8 Darin thematisiert er die "Natur der Kultur"9 und versucht, die Vorzüglichkeit der Geschichtswissenschaft zu erklären. Weiters sieht Ibn Ḫaldūn die Historiographie als den wichtigsten Wissenschaftszweig an und legt in der Muqaddima ihre Methoden fest.10

Ein Schlüsselbegriff Ibn Ḫaldūns in seinem Werk ist das Wort Kultur, auf Arabisch ʿumrān, das einen menschlichen Zusammenschluss bezeichnet. Er verwendet es auch als "Bevölkerung" und es steht "für die Menge der Menschen, die für das gemeinsame Wohl miteinander leben und zusammenarbeiten."11 In seiner Theorie vom Kreislauf der Kulturen und dem Auf und Ab der Dynastien entwickelt er einen weiteren zentralen Begriff der ʿaṣabiyya, der sich schwer ins Deutsche übertragen lässt. Meistens wird er mit "Gruppensolidarität"12, "Gemeinsinn"13, "Bewußtsein der Zusammengehörigkeit" oder "Nationalitätsidee" übersetzt.14 Letzteres hat sich als falsch erwiesen, da es zu dieser Zeit diesen Begriff nicht gegeben hat. Vielmehr wird damit womöglich auf die Blutsverwandtschaft und die Stammeszugehörigkeit hingewiesen. Alma Giese erklärt diesen Begriff als die "Kraft, die eine Gruppe zusammenhält und zum Erreichen gemeinsamer Ziele bringen kann".15

Ibn Ḫaldūn entwickelte einen Zyklus der Herrscherdynastien, der hundert Jahre andauerte16, und teilte diesen in drei Phasen ein. In der ersten Phase war, nach Ibn Ḫaldūn, die ʿaṣabiyya besonders stark. Dies war die Jugendzeit der Dynastie, in der sie noch wuchs. Die zweite Phase stellte den Höhepunkt der Dynastie dar. Hier wurde die Wissenschaft gepflegt, es kam jedoch zu einem zunehmenden Luxus, der den Zerfall der Dynastie einläutete. In der dritten Phase war die ʿaṣabiyya besonders schwach. Die Herrscher hatten sich von der Gruppensolidarität entfernt und versuchten, die verlorene Kontrolle für sich zu beanspruchen. Zu diesem Zeitpunkt kam eine neue Gruppe, die von einer starken Gruppensolidarität geprägt war und übernahm die Macht. Der Zyklus der Geschichte begann damit wieder von vorne - dies lässt sich beliebig oft fortsetzen und auf jede Herrscherdynastie übertragen.17

Ibn Ḫaldūn - von den Befürwortern übertrieben geschätzt, von den Kritikern unterschätzt

Obwohl Ibn Ḫaldūn in Europa vergleichsweise spät entdeckt wurde, haben europäische Wissenschaftler im Laufe der Jahre einige wertvolle Arbeiten über seine Ansichten verfasst.

Eine Gruppe von westlichen Denkern wie Oppenheimer (gest. 1943), Kremer (gest. 1889) und Maunier (gest. 1951) sehen in Ibn Ḫaldūn den "Vater bzw. Begründer der Soziologie" während Taha Hussein (gest. 1973), ein ägyptischer Schriftsteller und Denker, der seine Dissertation über ihn geschrieben hat, die Behauptungen für übertrieben hält. Vielmehr könne man ihn, nach dem ägyptischen Soziologen 'Abd al-'Aziz 'Izzat, als einen Vorläufer, Vordenker oder Vorboten der Soziologie bezeichnen.18 Nach Wolfgang Günter Lerch, einem deutschen Orientalisten, bestand die Leistung Ibn Ḫaldūns darin, dass er ein sehr rationales Verständnis von Geschichte und Geschichtsschreibung hätte. Er suchte nach natürlichen Gründen für die Erklärung von Kultur, gab der Religion zwar einen wichtigen Platz, versuchte aber nicht, die Abläufe theologisch zu begründen.19

Nicht selten wurde Ibn Ḫaldūn mit westlichen Wissenschaftlern wie Thomas Hobbes (gest. 1679) oder Arnold Toynbee (gest. 1975) verglichen.20 Einige gehen davon aus, dass wichtige Persönlichkeiten wie Auguste Comte (gest. 1857) oder gar Friedrich Engels (gest. 1895) und Karl Marx (gest. 1883) von seinen Werken beeinflusst gewesen sein könnten.21

Ibn Ḫaldūns Theorien und Methoden werden von Wissenschaftlern unterschiedlich bewertet. Eine Gruppe unterschätzt seine Arbeit und behauptet, er habe lediglich die Methoden der muslimischen Rechtsgelehrten adoptiert, während eine andere Gruppe übertreibt, indem sie in Ibn Ḫaldūn einen säkularen Denker sieht. Aus dem, was wir über Ibn Ḫaldūn wissen, kann behauptet werden, dass er weder säkular war, noch hat er sich an die Rechtsgelehrten angelehnt, denn er entwickelte seine Theorien durch seine geniale Beobachtungsgabe.

Nichtsdestotrotz war Ibn Ḫaldūn ein genialer Denker, ein Wegbereiter für die späten Wissenschaftler, der am Ende der Blütezeit des Islam gelebt und einen einzigartigen Versuch unternommen hat, eine neue Wissenschaft zu begründen. Man kann in ihm einen Soziologen, Historiker, Philosophen, einen Theoretiker oder einen einfachen Denker sehen, aber alle sind sich darin einig, dass er viel für die Nachwelt hinterlassen hat.

1 Vgl. Hamid R. Yousefi: Einführung in die islamische Philosophie. Eine Geschichte des Denkens von den Anfängen bis zur Gegenwart, Paderborn: Fink; UTB 2014, S. 132-133.

2 Vgl. Wolfgang G. Lerch: Denker des Propheten. Die Philosophie des Islam, Düsseldorf: Patmos-Verl. 2000, S. 153.

3 Vgl. Ibn Khaldun: Die Muqaddima. Betrachtungen zur Weltgeschichte. Aus dem Arabischen übertragen und mit einer Einführung von Alma Giese (= Neue Orientalische Bibliothek), München: C.H.Beck Verlag 2011, S. 15-16.

4 Vgl. ebd., S. 17.

5 Vgl. ebd., S. 21.

6 Vgl. Heinrich Simon: Ibn Khalduns Wissenschaft von der menschlichen Kultur (= Beiträge zur Orientalistik, Band 2), Leipzig: Veb Otto Harrassowitz 1959, S. 23-25.

7 Vgl. ebd., S. 29.

8 Vgl. ebd., S. 29-30.

9 Vgl. I. Khaldun: Die Muqaddima, S. 50.

10 Vgl. H. R. Yousefi: Einführung in die islamische Philosophie, S. 134.

11 I. Khaldun: Die Muqaddima, S. 53.

12 Vgl. ebd., S. 53.

13 Vgl. H. R. Yousefi: Einführung in die islamische Philosophie, S. 134.

14 Vgl. W. G. Lerch: Denker des Propheten, S. 155.

15 I. Khaldun: Die Muqaddima, S. 53.

16 Vgl. W. G. Lerch: Denker des Propheten, S. 157.

17 Vgl. I. Khaldun: Die Muqaddima, S. 55-56.

18 Vgl. Syed F. Alatas: "Ibn Khaldun and Contemporary Sociology", in: International Sociology 21 (2006), S. 782-784.

19 Vgl. W. G. Lerch: Denker des Propheten, S. 151-153.

20 Vgl. W. G. Lerch: Denker des Propheten, S. 153.

21 Vgl. S. F. Alatas: Ibn Khaldun and Contemporary Sociology, S. 785-787.

Khaldun, Ibn: Die Muqaddima. Betrachtungen zur Weltgeschichte. Aus dem Arabischen übertragen und mit einer Einführung von Alma Giese (= Neue Orientalische Bibliothek), München: C.H.Beck Verlag 2011.

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