Ibn Rušd – Vernunft und Glückseligkeit

Artikel 08.08.2016 Redaktionsteam

Der vorliegende Artikel beschäftigt sich mit dem rationalistischen Philosophen Ibn Rušd bzw. Averroes. Die rationalistischen Lehren des Philosophen erzielten eine nachhaltige Wirkung, die bis heute andauert. Bevor im weiteren Verlauf einige Inhalte von Ibn Rušds Lehren in Bezug auf die Glückseligkeit vorgestellt werden, erfolgt eine kurze Biographie. Abschließend wird auf die Wiederbelebung seiner Lehren in Form eines arabischen Averroismus eingegangen.


Aristotelische Philosophie und eigentlich die Philosophie allgemein spielten im Westen eine wesentlich andere Rolle als in der islamischen Welt. Denn die Philosophie im Sinne einer Wissenschaft und Tätigkeit, die versucht, die Realität und die ganze Welt mit rationalistischen, logischen Methoden zu verstehen, hat in der westlichen Welt eine signifikante Bedeutung, während sie für die islamische Welt als eher nebensächlich oder zweitrangig galt und nicht tiefer in die Tradition einging. Dementsprechend übten auch die Werke der äußerst rationalistischen Philosophen der islamischen Welt erheblich größeren Einfluss auf den lateinischen Westen als auf die islamische Welt. Besonders Abū l-Walīd Muḥammad b. Aḥmad b. Muḥammad b. Rušd, auch bekannt als Averroes, gilt als einer der bedeutendsten Rationalisten unter ihnen und verfasste einzigartige Werke mit großer Wirkung.1

Leben und Werk

Der arabische Philosoph und Arzt wurde 1126 in dem lebendigen, kulturellen Zentrum Andalusiens - in Córdoba - geboren. Literaten und malikitische Richter wurden zu jener Zeit vom Emir ʿAlī b.Yūsuf b.Tāšufīn (gest. 1143) hochgeschätzt. Da Averroes aus einer malikitischen Richterfamilie stammte, stand er in der Gunst des Emirs. Schon mit Anfang 40 wurde er zum Richter (qāḍī) von Sevilla ernannt, was als Zeichen dafür galt, dass ihm Vertrauen geschenkt wurde und es trotz seiner philosophischen Aktivität zu keinerlei Zweifel an seiner Religiosität kam.2 Von 1170 bis 1178 arbeitete er an Interpretationen des Aristoteles über Physik, Rhetorik und Metaphysik und an seinem eigenen Werk De Substantia Orbis. Zwar folgte Averroes dem Philosophen Aristoteles in vielen Ansichten, jedoch sah er oftmals die Notwendigkeit weiterer Erklärungen und kommentierte etliche Werke des Aristoteles.3 Die darauffolgenden zwei Jahre verbrachte er damit, auf den Angriff auf die Philosophen des Abū Ḥāmid al-Ġazzālī (gest. 1111) zu antworten.4 In Tahāfut al-Falāsifa (Die Inkohärenz der Philosophen) wirft al-Ġazzālī denjenigen Philosophen vor, deren Wissenschaft im Kontext der islamischen Kultur entstanden ist (falāsifa), sich vor allem im Bereich der Metaphysik zu widersprechen und befürwortet den Glauben. Deshalb versucht er vor allem, Inkohärenz bei denjenigen Thesen aufzuzeigen, die er als eine Gefahr für den Glauben erachtet. Mit Tahāfut al-Tahāfut (Die Inkohärenz der Inkohärenz) antwortet Ibn Rušd auf diesen Vorwurf mit dem Ziel zu zeigen, dass viele Argumente des al-Ġazzālī gegen ausgewählte Lehren der Philosophen sowie einige der Lehren selbst nicht definitiv wahr sein können, da sie nicht unwiderlegbar bewiesen sind. Besondere Aufmerksamkeit wird in diesem Zusammenhang den sechs Themenkomplexen Die Ewigkeit der Welt, Die neuplatonische Emanationslehre, Die Kausalität, Das Leben nach dem Tod, Die Bindung der Philosophie an die Religion und Das Wissen Gottes von den Einzeldingen gewidmet. Wichtig hierfür ist außerdem, dass Ibn Rušd der Ansicht war, al-Ġazzālī hätte sein Wissen über Aristoteles lediglich aus zweiter Hand, nämlich von Ibn Sīnā (gest. 1037) und al-Fārābī (gest. 950), welche die Lehren des Aristoteles nicht ausnahmslos richtig verstanden hätten. Deshalb stellt er sich nicht gegen alle Einwände, die al-Ġazzālī vorbringt.5

Später erklärte Averroes die Rolle von philosophischer Untersuchung und ihre absolute Notwendigkeit für die Interpretation des Korans in seinem Werk Faṣl al-Maqāl (Die entscheidende Abhandlung). Nachdem der Philosoph im Jahr 1182 das Amt des obersten Richters von Córdoba erhalten hatte, und kurz darauf Abū Yūsuf Yaʿqūb ibn Yūsuf al-Manṣūr (gest. 1199), der großes Gefallen an Averroes fand, an die Macht kam, stiegen Averroes' Ansehen und Stellung in der Gesellschaft zunächst weiter an. Jedoch konnte er seine Stellung und Privilegien nur für kurze Zeit genießen, da ihm malikitische Richter und angesehene Familien Missgunst entgegenbrachten, sodass der Kalif al-Manṣūr es für angemessen hielt, Averroes 1195 in eine Stadt südlich von Córdoba ins Exil zu schicken, um die Neider wieder zufrieden zu stimmen. Die Elite von Sevilla ermöglichte es dem Verbannten jedoch, zurück nach Marrakesch zu kehren, wo er bald darauf im Jahre 1198 starb.6

Philosophie und Glückseligkeit

Averroes wendete ähnliche Techniken wie Aristoteles an, um soziale und intellektuelle Tugenden in das Konzept von Glückseligkeit miteinzubinden. Was jedoch die Philosophen anbelangte, wurde Glückseligkeit im Verhältnis zu einerseits religiösen und andererseits zu intellektuellen Tugenden diskutiert. Der Rationalist Ibn Rušd plädierte für die Ansicht, es gäbe zwischen den Zielen der Philosophie und denjenigen der Religion keine Unterschiede, da beide Glückseligkeit und die Suche nach der Wahrheit anstreben. Während die Religion es allerdings jedem gestatte, diese wünschenswerten Ziele zu erreichen, seien es bei der Philosophie nur ein paar wenige auserwählte Menschen, die fähig seien, der intellektuellen, philosophischen Tätigkeit nachzugehen. Somit könne auch nur diese kleine Auswahl Intellektueller tiefgründige Nachforschungen durch die Anwendung rationaler Methoden durchführen und das Wissen über die eigentliche Bedeutung oder den Sinn des göttlichen Gesetzes erlangen. Ibn Rušd zufolge haben Scharia (šarīʿa) und Philosophie (falsafa) denselben Zweck, aber unterschiedliche Methoden. Allein die Philosophie könne mit demonstrativen Argumenten auch tatsächlich zeigen, welcher Natur das Wissen in Wahrheit sei, das in den Gesetzen beinhaltet sei, könne ihre eigentliche Bedeutung finden sowie nach ihrem Zweck suchen und könne sie aufklären. Zwar mache der Prophet die wahren Gesetze, die zu Glückseligkeit führen, jedoch können - so Averroes - nur Philosophen die nicht offensichtliche Bedeutung durch logische Argumente aufdecken. Als Schlussfolgerung zieht Averroes, dass jeder fähig sei, recht zu handeln und ein tugendhaftes Leben zu führen, solange den Regeln des Islams gefolgt werde, unabhängig von der Fähigkeit zu rationalistischer Reflexion. Der Unterschied sei, welcher Weg gewählt werde, um Glückseligkeit zu erlangen; die Scharia betreffe alle, während die Philosophie sich auf wenige beschränke. Somit versucht Averroes nicht nur zu zeigen, dass Philosophie und Religion vereinbar sind, sondern auch, dass die Religion die Philosophie sogar brauche. Die Religion schreibe ihren Anhängern vor, mithilfe des Verstandes die Welt zu verstehen und zu ergründen.7 "If theological study of the world is philosophy, and if the Law commands such a study, then the Law commands philosophy".8 Somit sieht Averroes die Logik und die Vernunft als Voraussetzung für die Glückseligkeit.

Arabischer Averroismus

Ibn Rušds Denken erlebte eine Reihe von Wiederbelebungen und wird einerseits als Symbol des westlichen Rationalismus gesehen und andererseits als Ergebnis eines spezifischen islamischen Rationalismus, unabhängig vom Einfluss griechischer und hellenistischer Philosophie. Gekennzeichnet ist letzterer durch die Vereinbarkeit der Vernunft mit der Offenbarung. Hierbei wird auf viele Lehren Ibn Rušds Bezug genommen und besonders diese Harmonie zwischen Philosophie und Religion hervorgehoben. Die Anhänger dieser Denkrichtung bezeichnen Ibn Rušd als islamischen Aufklärer und "schreiben" - so Kügelgen - "die islamische Ideengeschichte neu". Auf der Seite des westlichen Rationalismus, oder "lateinischen Averroismus", geprägt von europäischer Aufklärung, stehen vor allem Gegner der theologischen Diskussion (kalām). Diese verfolgen primär die Entwicklung der europäischen Geistesgeschichte und beurteilen die Lehren von Averroes.9 Beide Traditionslinien können aufgrund einiger Gemeinsamkeiten als ein moderner arabischer Averroismus zusammengefasst werden. Beide Seiten plädieren für die Vernunft und den Bezug zur Realität, befürworten Philosophie und Wissenschaft und geben vor, der westlichen Kultur gegenüber offen zu sein. Sie beide verurteilen "irrationalistische" Vorstellungen, Fatalismus und sogar die Mystik. Auch wenn eine Linie der Ansicht ist, die Vernunft sei an die Offenbarung gebunden, während die andere der Überzeugung ist, sie sei unabhängig, so räumen sie der Vernunft jedoch beide ein gewisses Maß an Selbstbestimmung ein. Einige zeitgenössische islamistische Gruppierungen beziehen sich auf Ibn Rušds Lehren, wenn sie die Vernunft mit dem Koran gleichsetzen, allerdings hat der Vernunftbegriff bei Ibn Rušd klare Konturen. "[...] der Unterschied zwischen den modernen 'arabischen Averroisten' liegt weniger auf der Ebene der Vernunftdefinition als vielmehr auf der des Religionsverständnisses." Allen gemein bleibt der Wunsch danach, die Überlegenheit des Westens zu verstehen und eine authentische Basis für die Suche nach Modernität zu finden.10

Ibn Rušds Werk zeigt, dass die islamische Gelehrsamkeit und Philosophie für die Vernunft in der Philosophiegeschichte eine nachhaltige Wirkung hatten und auch heute noch von großer Bedeutung sind. Bei dem Attribut islamisch handelt es sich weniger um die Religionszugehörigkeit als um einen Hinweis auf die Einordnung in den kulturellen Kontext der Entstehung. Nachhaltig waren von Ibn Rušds Lehren vor allem der religiöse und zugleich spirituelle Charakter mit einer starken rationalistischen Tendenz, die für Harmonie bei Widersprüchen zwischen Religion und Philosophie sorgte. Zusammen mit anderen Philosophen gilt Ibn Rušd bzw. Averroes demnach als einer der wichtigsten Vorreiter rationalistischer Ideen und Lehren. Der ägyptische Philosoph und Professor der Universität Kairo ʿAbd ar-Raḥman Badawī (gest. 2002), der vor allem für seine Arbeit im Bereich der Existenzphilosophie bekannt ist, betonte die große Leistung des Rationalisten. Averroes sei "der größte Kommentator der Philosophie gewesen, den die Geschichte je gekannt hat".11

1 Vgl. Seyyed Hossein Nasr: An introduction to Islamic cosmological doctrines, Albany: State University of New York Press 1993, S. 185f.

2 Vgl. Avital Wohlman: Al-Ghazali, Averroës and the interpretation of the Qur'an, London: Routledge 2010, S. 14-17.

3 Vgl. Alfred L. Ivry: The Jewish Quarterly Review, Pennsylvania: University of Pennsylvania Press 1989, S. 264-266.

4 Vgl. A. Wohlman, S. 14-17.

5 Vgl. Anke von Kügelgen: Averroes und die arabische Moderne, Leiden [The Netherlands]: E.J. Brill 1994, S. 37f.

6 Vgl. A. Wohlman, S. 17f.

7 Vgl. Oliver Leaman: An introduction to classical Islamic philosophy, Cambridge, UK: Cambridge University Press 2002, S. 177-179.

8 Vgl. ebd., S. 179.

9 Vgl. A.v. Kügelgen, S. 411-413.

10 Vgl. ebd., S. 414.

11 Vgl. ebd., S. 152-154.

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