„Ihre Lage zu verbessern ist am besten.“ (Koran 2:220) Über den Umgang mit Waisen im Islam

Artikel 24.04.2017 Redaktionsteam

Dieser Beitrag befasst sich mit dem Thema Waisen im islamischen Kontext. Zunächst wird allgemein in die weltweite Thematik von Waisenkindern eingeführt, woraufhin der spezielle Zugang aus islamischer Perspektive folgt. Ausgehend von koranischen Bezugsstellen wird auf gesellschaftliche und rechtliche Aspekte zur Waisenversorgung im Islam eingegangen. Anschließend beschäftigt sich der Text mit der Waisenversorgung durch muslimische Vereine in islamischen Ländern und in Europa, sowie dem Thema Waisen und Flüchtlingskinder.


Millionen von Kindern auf dieser Welt leben ohne elterliche Betreuung. Die UNICEF, das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, geht von etwa 150 Millionen Voll- bzw. Halbwaisen aus. Fast alle Staaten haben die UN-Konvention über die Rechte des Kindes ratifiziert. Die UN-Richtlinien zur alternativen Betreuung von Kindern geben Standards für die Kinderbetreuung außerhalb der eigenen Familie vor, doch werden diese in der Praxis oft nicht einmal annähernd erreicht, und im schlimmsten Fall haben Kinder weder ein Zuhause noch irgendeine Bezugsperson. Daher leben heute tausende Kinder in Russland, Venezuela und anderswo auf der Straße.1

Die Betreuung von Waisen erfolgt weltweit gesehen mehrheitlich in Heimen, wo es aber oft an personellen sowie finanziellen Möglichkeiten mangelt. Lediglich Einzelfälle sind der Organisation SOS-Kinderdörfer zufolge familiennahe Betreuungsformen wie SOS-Kinderdörfer oder Pflege- bzw. Adoptivfamilien. Zwar ist im südlichen Afrika die häufigste Form der Waisenversorgung noch jene im erweiterten Familienverband, etwa durch Großeltern oder ältere Geschwister, doch ist aufgrund der großen Armut in den Familien häufig nicht einmal das Notwendigste vorhanden und so wächst auch in diesen Ländern die Zahl von Kinderheimen, die aber kaum staatlichen Qualitätskontrollen unterliegen und ebenso wenig staatliche Unterstützung erhalten.2

Gegenüber früher hat sich die Situation wohl teilweise verbessert, dennoch ist es auch heute noch mit großen Risiken verbunden, ein Waisenkind zu sein. Neben der psychischen Belastung aufgrund des Verlusts der Eltern werden Waisenkinder hinsichtlich Ernährung, Bildung und medizinischer Versorgung benachteiligt. Häufig werden sie diskriminiert, stigmatisiert und sind Gewalt und Missbrauch ausgesetzt.3

In allen Religionen gilt es als verdienstvoll, sich um Waisen zu kümmern, früher wie heute. Im Folgenden befassen wir uns mit dem islamischen Zugang zum Thema. "Hat Er dich nicht als Waise gefunden und dir Schutz gegeben?" – "Deshalb sollst du der Waise niemals unrecht tun"4 Dies ist – ebenso wie die im Titel zitierte – eine der zahlreichen Koranstellen, die sich auf den Umgang mit Waisen beziehen. Dieser Vers spricht zudem direkt den Propheten Muhammad an, dessen Vater noch vor seiner Geburt gestorben war und dessen Mutter Amina starb, als er sechs Jahre alt war.5

Im Koran werden die Gläubigen wiederholt aufgefordert, für Waisen zu sorgen und sie gerecht zu behandeln. "Und ihr sollt Gutes tun euren Eltern und euren Verwandten und den Waisen und den Armen."6 Wer wahrhaft fromm ist, soll mit seinem Vermögen Waisen versorgen7 und etwaigen Besitz minderjähriger Waisen gut verwalten.8 Dazu heißt es im Koran:

"Und prüft die Waisen (in eurer Obhut), bis sie ein heiratsfähiges Alter erreichen; dann, wenn ihr sie reifen Geistes findet, händigt ihnen ihre Besitztümer aus; und verbraucht sie nicht durch verschwenderisches Ausgeben und in Hast, ehe sie erwachsen werden. Und wer reich ist, soll sich ganz enthalten (vom Besitz seines Mündels); und wer arm ist, soll davon auf faire Weise zu sich nehmen. [...]"9

Mit dem drastischen Bild vom Feuer, womit sie ihre Bäuche füllen, werden jene gewarnt, die den Besitz der Waisen unrechtmäßig verbrauchen.10

Im Islam liegt die Waisenfürsorge (arab. kafālat al-yatīm) von Beginn an in der Verantwortung der gesamten Gesellschaft. Die Unterstützung der Waisen erfolgt aus freiwilligen Spendengeldern, den sog. ṣadaqāt. Es mag vielleicht überraschen, dass Waisen, wie aus Koran 9:60 ersichtlich, nicht zur Gruppe der Anspruchsberechtigten für die Pflichtabgabe Zakat (arab. zakāh) zählen.11 Doch auch etwa die eigenen Eltern oder Kinder erhalten keine Zakat, weil zu deren Versorgung ein/e MuslimIn ohnehin verpflichtet ist. Ein naheliegender Schluss wäre, dass MuslimInnen also verpflichtet sind, sich um Waisen wie um ihre eigene Familie zu kümmern, was sich neben der materiellen Versorgung auch auf die nichtmateriellen Bedürfnisse erstreckt.12

In diesem Zusammenhang sei hier die Definition nach dem Islam erwähnt, wer eigentlich als Waise gilt. Da der Vater die Pflicht zur Versorgung der Familie hat, ist rechtlich gesehen ein Kind, dessen Vater stirbt, eine Waise (arab. yatīm). Auch Findelkinder sowie uneheliche Kinder besitzen Waisenstatus.13

Zur Waisenfürsorge gibt es dem islamischen Recht zufolge drei Möglichkeiten: die Vormundschaft (arab. al-wilāya), die Pflegschaft (al-hadāna) und die Patenschaft (al-kafāla).14 Eine Adoption wird üblicherweise als im Islam verboten angesehen. Bei näherem Hinsehen geht es in den diesbezüglichen Koranstellen15 jedoch nicht darum, das Annehmen an Kindes statt zu verbieten, sondern darum, die Beziehung zueinander zu regeln und die Herkunft eines Kindes nicht zu verheimlichen, was auch in Europa früher normalerweise der Fall war. Inzwischen hat man erkannt, dass Menschen das Bedürfnis haben, ihre Wurzeln zu kennen. Angenommene Kinder werden nach islamischem Recht nicht zu Blutsverwandten und sind leiblichen oder auch "Milchgeschwistern"16 nicht gleichgestellt. Dies wird etwa relevant, wenn es um Heirat oder Erbschaft geht.17 In Tunesien und der Türkei ist die Adoption gesetzlich erlaubt, letztere zählt, wie auch Österreich und Deutschland, zu den Vertragsstaaten, die das Haager Übereinkommen vom 29. Mai 1993 über den Schutz von Kindern und die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der internationalen Adoption ratifiziert haben.18

In der islamischen Welt gab es zum Zweck der Waisenunterstützung häufig eigene Stiftungen. In neuerer Zeit gründete man wohltätige Vereine nach europäischem Vorbild, wie den Maqased-Wohlfahrtsverein in Beirut (gegründet 1878), dem 1917 ein Waisenhaus angeschlossen wurde. Finanziert wurden diese Vereine teilweise durch Stiftungen, hauptsächlich aber mithilfe privater Spenden. Ab den 1960er Jahren kontrollierten die Sozialministerien die Waisenfürsorge, jedoch mit geringen finanziellen Mitteln. Und so liegt auch heute die Versorgung der Waisen größtenteils in den Händen privater, aus Spenden finanzierter Vereine.19

In Europa agieren mehrere muslimische Hilfsorganisationen im Bereich der Waisenfürsorge. Sie errichten Waisenzentren und unterstützen Familien, die Waisen betreuen. Man kümmert sich um Ernährung, Bekleidung und medizinische Versorgung der Kinder und übernimmt die Kosten für die Schulbildung.20 Es werden auch Projekte zur Selbsthilfe realisiert, die die Integration besonders benachteiligter Kinder – etwa sog. Straßenkinder oder solche mit körperlichen Beeinträchtigungen – in die Gesellschaft ermöglichen sollen.21

Aktuell mit dem Thema Waisen verbunden ist die Flüchtlingsproblematik, da zahlreiche unbegleitete minderjährige MuslimInnen nach Europa gekommen sind. Mitte 2015 schätzte man ihre Zahl in Deutschland auf über 10.000.22 Im Licht des koranischen Gebots, sich um Waisen gut zu kümmern, sind die hier lebenden MuslimInnen besonders gefordert, aktiv zu werden und Pflegschaften zu übernehmen oder sich anderweitig in der Betreuung von Flüchtlingskindern zu engagieren.

Doch auch viele muslimische Kinder ohne Fluchtvergangenheit warten auf Adoptiv- oder Pflegefamilien, sei es, weil sie tatsächlich Waisen sind oder aber, weil sie aus unterschiedlichen Gründen nicht in der eigenen Familie leben können. Muslimische Ehepaare, die sich für ein Pflegekind entscheiden, sind in Österreich allerdings sehr rar gesät.23

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