Islamische Seelsorge

Artikel 02.05.2017 Redaktionsteam

Der vorliegende Artikel beschäftigt sich mit dem Thema Seelsorge im Islam. Zunächst wird danach gefragt, ob die Bezeichnung Seelsorge als solche eigentlich zum Islam passt und wenn ja, in welchem Sinne. Im Folgenden werden theologische Grundlagen der Tätigkeit von muslimischen Seelsorgenden sowie Ansätze einer professionellen Ethik skizziert.


Begriff und Rollenprofile

Seelsorge ist eigentlich ein christlich geprägter Begriff. Er wird jedoch im europäischen Kontext dann auch für nicht-christliche Zusammenhänge verwendet, wenn er einen bestimmten Tätigkeitsbereich beschreibt: Dieser umfasst das traditionell als Seelsorgeaufgaben wahrgenommene dezidiert religiös fundierte psychosoziale und rituelle Beratungs- und Begleitungsgeschehen. Obwohl der Begriff so übernommen werden kann, ist darauf hinzuweisen, dass er im Islam (wie auch im Judentum) nicht vorrangig nur die Beratung und Begleitung in religiösen Sinnfragen angesichts etwa von menschlichen Krisen wie in der Notfallseelsorge oder der Sterbebegleitung sowie die Begleitung von signifikanten religiös gerahmten Lebenspassagen wie Geburt oder Heirat meint. Es geht hier vielmehr auch um lebenspraktische Hilfe in sozialen und rituellen Belangen: Wie kann ich in einem nicht-muslimischen Umfeld dennoch als MuslimA meine Religion praktizieren? Welche religionsrechtlichen Maßgaben muss ich beachten? Was sagt welcher Gelehrte zu dieser oder jener Frage? Wie kann ich mich etwa bei einem Aufenthalt im Spital weiterhin religionskonform verhalten? Deutlich wird in diesem Zusammenhang zweierlei: Die islamische Anthropologie sieht zwar die Verantwortung eines jeden einzelnen Menschen gegenüber Gott als direkte Gottesbeziehung, das Individuum wird jedoch gleichzeitig religiös gesehen sehr intensiv als in sozialrechtliche Rahmungen einbezogen als Teil eines praktizierenden Kollektivs betrachtet. Dies hat sowohl Auswirkungen auf das individuelle Gefühl von psychischer Gesundheit, als auch auf konkrete Problemlagen, Schlichtungsanfragen etc., mit denen beispielsweise Spital-, Militär- oder Gemeindeseelsorgende konfrontiert sein können.

Als zweiter Punkt wird deutlich: Als GläubigeR bin ich zwar aufgerufen, keine Vermittler zwischen mir und Gott anzuerkennen und mir meine eigene Meinung in religionspraktischen Fragen selbst zu bilden. Um mir diese jedoch erarbeiten zu können, brauche ich religiöse RatgeberInnen, die mir als theologisch dazu ausgebildete Fachkräfte1 einen Zugang zu verschiedenen Lehrmeinungen und rechtlichen Maßgaben eröffnen, da mir als Laie dafür der Überblick fehlt. Diese geistlich-religiöse Führung auch im religiös-sozialrechtlichen Bereich obliegt somit ebenfalls den Seelsorgenden. Insgesamt umfasst somit der Aufgabenbereich von muslimischen Seelsorgenden eine weitaus psychologischere Prägung als traditionell im Tätigkeitsbereich von muslimischen TheologInnen vorgesehen. Gleichzeitig beinhaltet muslimische Seelsorgearbeit weit mehr rechtliche und psychosoziale Anfragen und damit Kompetenznotwendigkeiten als es z. B. im traditionell christlich-pastoralen Rollenbild der Seelsorgenden der Fall ist. Zum Rollenbild muslimischer SeelsorgerInnen gehört es, ReligionslehrerInnen, RatgeberInnen in Rechtsfragen, TrösterInnen, KrisenbegleiterInnen und Ritualvollziehende gleichzeitig zu sein und je nach Fall, den angemessenen Schwerpunkt setzen zu können. Worauf sich dieses Aufgabenspektrum gründet, macht ein Blick in die Theologie deutlicher.

Theologische Grundlagen

Die theologischen Grundlagen2, die diese gerade beschriebenen Tätigkeiten im islamisch-theologischen Kontext haben, richten sich v. a. nach der großen Bedeutung der göttlichen Rechtleitung (vor allem als hūda oder hidāya bezeichnet3) im Islam aus: Gott als die Quelle der Rechtleitung (Sura 1:1-74) steht im menschlichen Bemühen um den rechten Weg im irdischen Leben im Mittelpunkt - um das eigene Leben nach ihm und seinem Willen auszurichten, kann sich der Mensch am Koran als hidāya orientieren. Zusätzlich gelten die schriftlichen monotheistischen Offenbarungen als Quellen göttlicher Rechtleitung und Gesandte Gottes als Verkünder derselben5. Auch andere Menschen können den Zugang zur göttlichen Rechtleitung eröffnen, begleiten und unterstützen, indem sie einen aufrichtigen Rat z. B. im Zweifelsfall geben oder zur Einhaltung des rechten Weges mahnen/daran erinnern (nāsiha), indem sie Mitmenschen Beistand und Orientierung zum gottgefälligen Leben anbieten (irshād)6, und indem sie Mitmenschen einen (guten) Weg zeigen (dalāla).

Sowohl die Bedingungen für den Empfang göttlicher Rechtleitung als auch die Möglichkeiten, anderen auf ihrem Weg dorthin beizustehen und zu helfen, geben so auch Hinweise auf das islamische Menschen- und Gottesbild7.

Professionelle Haltung und Berufsethik

Die Haltung des Seelsorgenden sollte v. a. vom umfassenden Grundprinzip der Barmherzigkeit und des Mitleids (rahmah) geprägt sein. Eigentlich als eine der Eigenschaften Gottes8 betrachtet, ist von diesem Prinzip auch alles Tun der Menschen untereinander idealerweise geprägt: Der Umgang mit Schwachen, Kranken, Armen, aus der Gesellschaft Ausgestoßenen und sozialen Randgruppen wie etwa Gefangenen, Witwen und Waisen soll von Barmherzigkeit und Respekt geprägt sein. Alle Menschen gelten als von Gott geschaffen und von ihm durch seine Botschaft angesprochen, in dieser Hinsicht ist der Islam eine universalistische Religion. Somit sind Menschen zunächst auch als gleichberechtigt und gleichwertig anzusehen - dies sollten Seelsorgende in ihrer Arbeit als zunächst nicht wertende Grundhaltung umsetzen, jedeR ist der Sorge um die Seele9 würdig. Das heißt konkret, nicht nur Gläubige auf ihrem Lebens- und Glaubensweg zu begleiten, sondern sich im Grundvertrauen auf Gott auch nicht (mehr) gläubigen Menschen gegenüber offen zu zeigen und ihnen einE empathischeR GesprächspartnerIn zu sein sowie ihre Anfragen ernst zu nehmen und aus einer glaubenden Perspektive zu begleiten, ohne zu (ver-)urteilen. Gott gilt als All-Erbarmer und Barmherzigkeit10 - dies hat Auswirkungen beispielsweise gerade auch in der Gefängnisseelsorge, die ihre Klienten stets als Menschen wahrnimmt, die in der potenziellen Vergebung Allahs gegenüber seinen Geschöpfen Gnade finden können11. So ist es eine Aufgabe, in ausweglos scheinenden Situationen den Blick freizugeben auf diese Eigenschaften Gottes und Hoffnung im Angesicht Gottes zu spenden.

Durch die herausragende Rolle, die Seelsorgende so in Lebensabschnitten oder Krisensituationen für ihre KlientInnen spielen, ergibt sich ein natürliches Autoritäts-, mindestens jedoch Machtgefälle. Denn die Ratsuchenden sind auf die (selbst-)reflektierte und theologisch fundierte Auskunft und Begleitung ihrer AnsprechpartnerInnen angewiesen. Häufig gibt es keine Möglichkeit einer Überprüfung, eine Zweitmeinung einzuholen oder die mentale und körperliche Stärke in der jeweiligen Situation aufzubringen, den Ratschlag oder die Einschätzung kritisch zu hinterfragen, oder gar zu verwerfen. Daher kommt in der professionellen Seelsorgepraxis der Supervision und Teamreflexion sowie einer profunden Gesprächs- und Beratungsausbildung eine hohe Wichtigkeit zu. Nichtsdestotrotz muss islamische Seelsorge noch vielerorts ehrenamtlich und daher ohne zeitlichen und finanziellen Spielraum geleistet werden, eigene Qualitätsstandards zu erarbeiten und umzusetzen. Hier kommt der theologischen Ausbildung und professionalisierten hauptamtlich abgestützten Strukturen in Zukunft eine große Bedeutung und Verantwortung zu.

1 Auch als aufrichtige Mitmenschen ohne theologische Ausbildung kann ein Rat natürlich wichtig sein, s. u. zum Begriff nāsiha.

2 Vgl. Aslan, Ednan; Modler-El Abdaoui, Magdalena; Charkasi, Dana (2015): Islamische Seelsorge. Eine empirische Studie am Beispiel von Österreich. Wiesbaden: Springer VS (Wiener Beiträge zur Islamforschung), S. 101-117.

3 Beide Begriffe nach den Wurzelkonsonanten h-d-y im Arabischen: "auf den rechten Weg führen", "leiten", "den Weg zeigen".

4 Koranübersetzung nach Asad, M. (2012). Die Botschaft des Koran. Übersetzung und Kommentar. Ostfildern: Patmos-Verlag.

5 Der Mensch öffnet sich durch Glauben der göttlichen Rechtleitung und gilt durch die sog. fitra als von Natur aus auf Gott ausgerichtet. Das Herz (qalb) gilt im islamischen Verständnis als Erkenntnisorgan in religiösen und profanen Angelegenheiten und muss somit auch als zugehörig zu den Voraussetzungen, göttliche Rechtleitung zu empfangen, gezählt werden. Sind all diese Voraussetzungen nicht erfüllt, richtet sich der Mensch weder nach den islamischen Geboten noch nach allgemeineren moralisch-ethischen Grundsätzen, kann er vom rechten Weg abkommen (dalāl).

6 Z. Bsp. in Marokko werden Seelsorgende daher auch als murshidīn (männlich) und murshidāt (weiblich) bezeichnet.

7 Zur Vertiefung zur islamischen Anthropologie vgl. Ahbābī, Muḥammad ʻAzīz al- (2010): Der Mensch: Zeuge Gottes. Entwurf einer islamischen Anthropologie. 1. Auflage. Freiburg im Breisgau: Herder (Buchreihe der Georges-Anawati-Stiftung Religion und Gesellschaft, Modernes Denken in der islamischen Welt, Bd. 5).

8 Bei Asad oft auch mit Gnade (Gottes) übersetzt, vgl. Asad (2012), S. 1219.

9 Arab.: rūh/nafs; Überblick zum islamischen Seelenbegriff vgl. Aslan/Modler-El Abdaoui/Charkasi 2015, S. 73-90.

10 Vgl. Khorchide, Mouhanad (2012): Islam ist Barmherzigkeit. Grundzüge einer modernen Religion. Freiburg: Herder Verlag, S. 31ff.

11 Ohne dass die Barmherzigkeit einen Freifahrtschein darstellt für Vergehen aller Art. Die richtende Eigenschaft Gottes ist als Pendant zu betrachten.

Lahbābī, Muḥammad ʻAzīz al- (2010): Der Mensch: Zeuge Gottes. Entwurf einer islamischen Anthropologie. 1. Auflage. Freiburg im Breisgau: Herder (Buchreihe der Georges-Anawati-Stiftung Religion und Gesellschaft, Modernes Denken in der islamischen Welt, Bd. 5).

Aslan, Ednan; Modler-El Abdaoui, Magdalena; Charkasi, Dana (2015): Islamische Seelsorge. Eine empirische Studie am Beispiel von Österreich. Wiesbaden: Springer VS (Wiener Beiträge zur Islamforschung).

Khorchide, Mouhanad (2012): Islam ist Barmherzigkeit. Grundzüge einer modernen Religion. Freiburg: Herder Verlag.

Ucar, Bülent (2013): Islamische Seelsorge zwischen Herkunft und Zukunft. Von der theologischen Grundlegung zur Praxis in Deutschland. Frankfurt/Main u.a.: Peter Lang International Academic Publishers.

Wenz, Georg (Hg.) (2012): Seelsorge und Islam in Deutschland. Herausforderungen, Entwicklungen und Chancen. Speyer: Verl.-Haus Speyer.

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