Kritik an der klassischen Hadithforschung
Hadithe (ḥadīṯ: Bericht, Überlieferung) sind die schriftlichen Überlieferungen über die Aussagen, Taten und Handlungen des Propheten Muhammad (gest. 632), auch Sunna genannt, die fragmentarisch bereits zu seinen Lebzeiten auf Papyrus, Palmblättern o. Ä. festgehalten wurden. Diese schriftlichen Notizen der Prophetengefährten (ṣaḥāba)1, die nicht unbedingt den Wortlaut des Propheten wiedergeben, sondern auch persönliche Kommentare des Autors/der Autorin beinhalten, werden ṣuḥuf genannt und bilden neben den mündlich weitertradierten prophetischen Aussagen eine wichtige Grundlage für die spätere Hadithsammlung. So bemühten sich Muslime bereits im 8. Jahrhundert - durch die Entstehung der ersten Rechtswissenschaften - die vorhandenen schriftlichen Aufzeichnungen über die Aussagen des Propheten sowie die Meinungen der Prophetengefährten und deren Nachfolger (tābiʿūn) zu sammeln. Daraus entstanden die sogenannten muṣannaf-Werke, die im Unterschied zu den späteren musnad-Werken thematisch gegliedert waren. Die musnad-Werke hingegen beinhalten nur prophetische Aussprüche, die nach deren Überlieferungskette (isnād) strukturiert sind. Eine Weiterentwicklung dieser Werke bilden die im traditionellen sunnitischen Denken und heute noch weitverbreiteten ṣaḥīḥ-Werke, darunter Ṣaḥīḥ al-Buḫārī von Muḥammad b. Ismāʿīl al-Buḫārī (gest. 870) und Ṣaḥīḥ Muslim von Muslim b. al-Ḥaǧǧāǧ (gest. 875).2
Die Meinung über die Authentizität und den Umgang mit diesen Hadithen, die inzwischen als zweitwichtigste Rechtsquelle für die islamische Jurisprudenz (šarīʿa) gelten, sind jedoch sehr kontrovers.3 In der klassischen Theologie werden sie sogar normativ verstanden und teilweise als kanonisch und waḥy ghayr matlūw (arab. nicht rezitierte Offenbarung) angesehen.4 Daher lohnt sich ein Blick in die Problematik am Beispiel der Kritik von Hayri Kırbaşoğlu, einem Theologen an der Universität Ankara.
Für die wissenschaftliche Forschung stellt sich die grundlegende Frage, mit welchen Methoden die Authentizität und Glaubwürdigkeit der Hadithe festgestellt werden, nachdem der Begriff auch für die Überlieferungen über die Prophetengefährten und deren Nachfolgegenerationen verwendet wurde.
Nach klassischer Vorstellung reicht hierfür bekanntlich die kritische Begutachtung der Überlieferungskette (isnād) aus, indem die Zuverlässigkeit der Überlieferer, auch rāwī genannt, nach bestimmten Kriterien untersucht wird.5 Die Begegnung mit den westlichen Wissenschaften brachte jedoch im 19. Jahrhundert die Wende, insbesondere durch die Thesen von Alois Sprenger (gest. 1893) und Ignaz Goldziher (gest. 1921), welche einen Teil der Überlieferungen auf theologische Diskurse und nicht auf die prophetische Tradition (sunna) zurückführten.6 Folglich fordern auch moderne muslimische Intellektuelle, wie bspw. Fuat Sezgin, Mehmet Görmez und Hayri Kırbaşoğlu, neue historisch-kritisch geprägte methodologische Ansätze in der Auseinandersetzung mit dem Inhalt des Hadith-Textes (matn), der bisher kaum Forschungsgegenstand der klassischen Hadithwissenschaften gewesen ist.7
In diesem Zusammenhang werden an dieser Stelle in Kürze die Probleme der gegenwärtigen Hadithmethodologie anhand von zwei ausgewählten Aspekten aus dem Buch İslam Düşüncesinde Hadis Metodolojisi von Hayri Kırbaşoğlu dargestellt.8
Das unreflektierte Dogmaverständnis
Der Ursprung vieler Probleme liegt nach Kırbaşoğlu u. a. in der dogmatischen Haltung vieler Muslime, wonach der Koran und die Sunna für alle Problemstellungen eine Lösung anbieten. Dies wiederum liegt nach ihm in der unreflektierten Übernahme von Hadithen, bedingt teilweise durch lückenhafte Übersetzungen aus dem Arabischen. So fanden durch fragliche Hadithüberlieferungen umstrittene Themen, wie bspw. die göttliche Vorsehung, die Verherrlichung der arabischen Ethnie, Marginalisierung der Frauen, prophetische Wunder, die Hinrichtung von Apostaten sowie das problematische tawakkul-Verständnis (arab. Gottvertrauen), ihren Eingang in die Glaubenslehre und trugen zur Stagnierung der Deutungsvielfalt in der islamischen Tradition bei. Kırbaşoğlu führt im weiteren Verlauf auf Basis einer Studie an, dass sogar gegenwärtig Prediger mit erfundenen oder schwachen Hadithen ihre Predigt halten und weitet diese Problematik auf Lehrpersonen und Autoren aus, die trotz ihrer Unwissenheit Beiträge veröffentlichen und damit zum falschen Hadithverständnis beitragen. Außerdem stehen nach ihm Muslime heute noch unter dem Einfluss der klassischen Hadithwissenschaften, weshalb er eine historisch-kritische Auseinandersetzung als unbedingt notwendig betrachtet.9
Kritik an der Methodologie der isnād-Überprüfung
Die Überarbeitung der isnād-orientieren Hadithhermeneutik ist ein weiterer Kritikpunkt von Kırbaşoğlu. Seine Kritik gründet nämlich auf der Annahme, dass die Hadithgelehrten sich zu sehr auf die Erforschung der Überlieferungskette (isnād) konzentriert und somit zur Vernachlässigung des Hadithtextes (matn) beigetragen haben, was dazu geführt habe, dass sich keine ausreichenden Methoden entwickelt hätten, die es ermöglichen würden, anhand wissenschaftlicher Kriterien den Ursprung und die Authentizität des Textes zu überprüfen. Ein weiteres Resultat daraus sei, dass Kritiker, die diese Problematik ansprechen, oftmals als Anhänger der Orientalisten bezeichnet und ignoriert würden. Kırbaşoğlu jedoch vertritt die Meinung, dass jede konstruktive Kritik einen wichtigen Beitrag zur Weiterentwicklung leisten könnte, sofern sie auf wissenschaftlich fundierter Argumentation beruhe. Eine Ablehnung dessen ist nach ihm vielmehr ein Zeichen der ideologisierten und unreflektierten Verteidigungshaltung, die in Frage gestellt werden sollte. In diesem Zusammenhang führt der Hadithwissenschaftler abschließend noch an, dass die Überprüfung des Hadithtextes nach der klassischen Auffassung sich mehr auf die formalen Aspekte des Textes beziehe und weniger darauf, ob der Text tatsächlich von Prophet Muhammad stamme. Auch Görmez kritisiert die linguistische Herangehensweise der Gelehrten. Für ihn seien die angewandten linguistischen Regeln erst nach dem Ableben des Propheten entstanden und daher nicht zielführend.10 Durch das Fehlen des Originalwortlautes der Hadithe, die für das richtige Verständnis und die Interpretation unerlässlich seien, könnten folglich gewisse Überlieferungen nicht wortwörtlich, sondern nach der Auffassung der Überlieferer oder mit maßgeblichen Veränderungen weiter tradiert worden sein, wodurch die ursprüngliche Intention des Propheten nicht klar akzentuiert werden könne.11
Zusammenfassend kann nun festgehalten werden, dass die Entwicklung einer alternativen Methodologie von großer Bedeutung ist, um die glaubwürdigen Hadithe von den unglaubwürdigen unterscheiden zu können. Nach Kırbaşoğlu können hierfür die Werke der usūl al-fiqh, im Besonderen der rationalistischen Ausrichtungen, wie etwa der ahl ar-raʾy und muʿtazila wichtige Indikatoren liefern.12 Im Gegensatz dazu akzentuiert jedoch Görmez die Inkompatibilität der usūl al-fiqh für die Hadithhermeneutik. Für ihn dienen die Methoden dieser Wissenschaftsdisziplin der Analyse und Interpretation von Normen innerhalb der islamischen Normenlehre (šarīʿa), während die Hadithe primär keinen Normativitätsanspruch erheben und daher nicht ausschließlich zur Gesetzgebung dienen würden.13 In Anbetracht dessen plädiert Görmez für die Entwicklung einer eigenständigen Methode und führt im vierten Kapitel seines Werkes Sünnet ve Hadisin Anlaşılması ve Yorumlanmasında Metodoloji Sorunu umfassende Kriterien an, die als Orientierungshilfe zum besseren Hadith- und Sunnaverständnis dienen sollten.14 Gerade die Berücksichtigung der verschiedenen Rollen und Funktionen des Propheten Muhammad, ob er als Mensch, als Prophet, als politischer Führer, als juristische Autorität, als Mystiker, als Prediger u. dgl. gehandelt und sich geäußert hat, ist für Görmez äußerst wichtig.15
Ob diese Errungenschaften und Diskurse der modernen Wissenschaften in naher Zukunft das traditionelle Hadithverständnis grundlegend ändern können, wird sich erst im weiteren Verlauf herausstellen. Die Intention vieler zeitgenössischer Kritiker besteht jedoch darin, eine Methodologie zu entwickeln, die sich der ständig wandelnden Gesellschaft und der aktuellen Lebenswirklichkeit der Muslime bedienen kann, um sodann die gegenwärtigen und bevorstehenden Probleme im religiösen Kontext bewältigen zu können.16