Menschenrechte im Islamischen Kontext

Artikel 08.08.2016 Redaktionsteam

Der vorliegende Artikel behandelt das vieldiskutierte Thema Menschenrechte im islamischen Kontext. Bevor im weiteren Verlauf die Vereinbarkeit von universalen Menschenrechten und dem Islam diskutiert wird, wird auf die verschiedenen Positionen zu diesem Thema eingegangen sowie ein Menschenrechtsprofil dargelegt. Abschließend werden Ansätze zu einer islamisch legitimierten Menschenrechtskonzeption kurz vorgestellt.


Eines der vieldiskutierten Themen in Bezug auf den Islam ist die Vereinbarkeit des Islams mit den allgemeinen Menschenrechtserklärungen. Zu oft wird dem Islam vorgeworfen, aufgrund einiger allgemeingültiger Aussagen im Koran nicht in der Lage zu sein, die modernen Menschenrechte zu verinnerlichen und diese in die eigenen Überlegungen einbauen zu können. Der Diskurs über die Vereinbarkeit von Islam und Menschenrechten zwingt naturgemäß vor allem diejenigen Muslime, die im Westen leben, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen.
Als Reaktion auf den Vorwurf der Unvereinbarkeit des Islams mit den Menschenrechten sind einige Positionen entstanden, die zu dieser Problematik unterschiedliche Standpunkte einnehmen. Bassiouni stellt hierbei fest, dass sich in diesem Kontext eine Grundtendenz entwickelt hat. Bei dieser wird durch die Relativierung von Rechtsvorschriften, die den allgemeinen Menschenrechten widersprechen, sowie die Betonung derjenigen Koranstellen, die den Menschenrechten entsprechen, versucht den Anschuldigungen der Unvereinbarkeit der Menschenrechte mit dem Islam entgegenzuwirken. Somit soll auch gezeigt werden, dass Menschenrechte im Islam schon länger als im Westen verwurzelt seien.1 Dabei wird ersichtlich, dass die Motive dieser Haltung darin liegen, einerseits die moralische Vollkommenheit des Islams zu beweisen und andererseits, den Islam als Ursprung der Menschenrechte darzustellen.

Darüber hinaus stellt Bassiouni fest, dass Menschenrechte sowohl islamisch legitim als auch gleichzeitig universal konsensfähig, d. h. unabhängig vom islamischen Glauben begründbar sein müssen, um die Vereinbarkeit von Islam und Menschenrechten nachweisen zu können.2 Für eine derartige kulturübergreifende Universalität der Menschenrechte, so Tibi, ist die Unterscheidung der Begriffe Fundamentalismus, Orthodoxie und Islam essentiell.3 So gibt es auf die Frage der Vereinbarkeit des Islams und individueller Menschenrechte zunächst vereinfacht gesagt die Antworten ja und nein. Besteht Offenheit für Reform-Islam, so ist die Vereinbarkeit möglich; herrscht jedoch Fundamentalismus und Orthodoxie, sind die Chancen gering. Dieselbe Antwort gilt für jede andere Religion gleichermaßen, da Menschenrechte nicht in der Religion verwurzelt sind. Als Produkt der "kulturellen Moderne" und der "bürgerlichen Zivilgesellschaft" haben sie sich auch im Westen erst nach langen politischen Uneinigkeiten entwickelt.4

Stagnation durch Fundamentalismus

Doch bevor weiter auf die Fragestellung eingegangen wird, ob eine Vereinbarkeit von Islam und individuellen Menschenrechten möglich ist, stellt sich die Frage, was daran zweifeln lässt. Fundamentalistische Strömungen im Islam streben die Realisierung des idealisierten Modells Medina nach dem Vorbild des Propheten an, das Staat und Religion, ihrer Auffassung nach, eint und für die weltweite Verbreitung des Kalifats und Scharia-Rechts plädiert.5 Jede Koranstelle wird von Fundamentalisten mit umfassender Gültigkeit aufgefasst und unreflektiert sowie ohne Berücksichtigung des Entstehungskontextes umgesetzt, sodass nicht selten andersdenkende Intellektuelle als Apostaten abgestempelt werden und ihnen unfriedliche Gegenbewegungen drohen, wie die Ermordung des Schriftstellers Faradj Fuda 1992 in Ägypten.6

Auch die Versuche der mehrheitlich muslimischen Staaten, durch eine eigene Menschenrechtserklärung eine alternative "islamische" Menschenrechtserklärung zu etablieren, haben sich nicht bewährt. Diese Versuche haben aufgrund ihrer inhaltlichen Konzeption, den Anschuldigungen nicht entgegengewirkt, sondern diese nur noch bekräftigt.
So ist z. B. in Artikel I der Kairoer Erklärung der Menschenrechte von 1990 die Rede von "wahrhaftem Glauben" (Religion) als "Garantie" für das Erlangen der Menschenwürde und somit auch der Menschenrechte.7 Diese Formulierung stellt eine klare Diskriminierung der Nichtmuslime dar und kann deshalb als kein universales Menschenrecht angesehen werden. Auch die "Allgemeine Erklärung der Menschenrechte des Islam" von 1981 repräsentiert laut Wielandt lediglich die Ansichten "einer Gruppe dezidiert fundamentalistischer Theologen" und nicht die Gesamtheit und Vielfalt des Islams.8

Menschenrechtsprofil

Um als solche anerkannt zu werden, müssen Menschenrechte drei wesentliche Aspekte erfüllen. Erstens müssen sie für alle Menschen auf der Welt gelten, unabhängig von Herkunft bzw. Zugehörigkeit. So heißt es in der Präambel zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948, dass Menschenrechte "ein von allen Völkern und Nationen zu erreichendes, gemeinsames Ideal" seien.9 Zweitens müssen sie für jeden Menschen gleichermaßen gelten und sind deshalb auch Gleichheitsrechte im Sinne von gleicher Freiheit sowie dem Recht aller Menschen, ihre "besonderen Lebensentwürfe" zu verwirklichen. Sie entsprechen demnach einer "Gleichheit ohne Angleichung".10 Als fundamentale Rechte lassen sie eine Diskriminierung hinsichtlich Stand, Geschlecht oder Religionszugehörigkeit nicht zu und gelten als Schutznorm der Menschenwürde. "Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.", heißt es in Artikel I Absatz I.11 Drittens müssen Menschenrechte in verantwortlichen politisch-rechtlichen Institutionen durchsetzbar sein, welche die konkrete Schutzfunktion verkörpern.12

Zwischen Absolutheitsanspruch und Freiheit der Religion

Während moderne muslimische Denker wie Mohamed Merad oder Mohamed Talbi eine Möglichkeit sehen, die Scharia nicht als absolutes Gesetz, sondern lediglich als "religiös-ethische Wegweisung" anzuerkennen, gilt für Vertreter der fundamentalistischen und orthodoxen Positionen, dass sie zunächst auf ihren Absolutheitsanspruch verzichten müssen, um die Menschenrechtskriterien erfüllen zu können.13 Die Akzeptanz für den Pluralismus der Religionen muss geschaffen werden, während der Glaube an die Totalität des Islams mit seiner Gültigkeit von Regeln und Gesetzen für alle Bereiche des Lebens aufgehoben werden muss.14 Ein Hindernis hierfür stellt das auf der "versuchten Universalisierung des europäischen Demokratiemodells" basierende moderne Verständnis der Menschenrechte dar. Zwar haben die Werte der Menschenrechte ihren Ursprung in der europäischen Tradition, in kultureller Hinsicht gelten sie jedoch nicht mehr ausschließlich für den Westen. Es muss akzeptiert werden, dass diese Tradition zu einem "gemeinsamen, die Menschheit verbindenden Erbe" geworden ist.15 Demnach gibt es die Menschenrechte und Religionsfreiheit zwar in einer ganz bestimmten Kultur, sie können jedoch nicht einfach als diese identifiziert werden.16 Gerade das Bestreben zur Durchsetzung der Universalität des Islams ist nur wenig rekonstruktabel, da der Koran die Zwanglosigkeit in Sachen des Glaubens mitunter in Sure 2:256 betont. So führt Muhammad Asad in seiner Erklärung zur Koranübersetzung an, dass "jeder Versuch, einen Nichtgläubigen zu zwingen, den Glauben des Islam anzunehmen, eine schwere Sünde ist".17

Begründung der Menschenwürde

Genügend weitere Verse im Koran zeigen, dass der Mensch ein freies Wesen ist, das sowohl seinen Weg als auch seine Religion selber wählen kann.18 Da alle Menschenrechte Freiheitsansprüche artikulieren und das generelle Ziel verfolgen, eine Freiheitsordnung zu schaffen, die "der Würde des Menschen als ein Subjekt freier Selbstbestimmung gerecht wird", entsprechen Menschenrechte einem Konzept zum Schutz der Menschenwürde.19 Im Koran finden sich verschiedene Stellen, welche genau diese Menschenwürde sowohl theologischen als auch philosophischen Argumenten entsprechend begründen. Als Nachfolger und Stellvertreter (Kalif) Gottes ist der Mensch zugleich ein Vernunftwesen, das zu einer eigenständigen Ordnung der Welt in der Lage ist. Dem Koran sind des Weiteren sämtliche Vorschriften zu entnehmen, die jegliche Verletzung der Menschenwürde verurteilen.20 All diese Verse haben gemein, dass sie die "Würde ohne Würdigkeit" beinhalten. So schrieb der islamische Rechtsprofessor Abū Zahra schon 1965, dass dem Menschen die Menschenwürde allein "kraft seines Menschseins" zukäme und sie im "Menschsein selbst" bestünde. Bei diesen koranischen Begründungen der Menschenwürde treten zweifellos die Problembereiche der Sklaverei und der Stellung der Frau in den Vordergrund. Als authentische Antwort darauf gilt die zeitlich begrenzte Gültigkeit von koranischen Regelungen, die heute nicht mehr anwendbar sind. Der modern eingestellte muslimische Denker 'Allāl al-Fāsī hat z. B. ein eigenes Denkmodell entwickelt, das die "Aussagen des Koran über die Frau mit neuzeitlichen Vorstellungen von menschlicher Würde in Einklang" bringt.21

Ansätze für eine Menschenrechtskonzeption

Auch weitere modernistische Denker plädieren für Akzeptanz gegenüber modernen Ideen, und zeigen gleichzeitig, dass die Prinzipien einer modernen Gesellschaft dem Islam nicht zwangsläufig widersprechen müssen und begründen dies mittels dynamischer Methoden zur Interpretation des Korans. Dementsprechend ist z. B. Fazlur Rahman (gest. 1988) und Mohamed Talbi zufolge eine Koraninterpretation nur dann richtig, wenn zunächst die ursprüngliche Bedeutung im historischen Kontext erforscht wird, in einem weiteren Schritt generelle ethische Prinzipien bzw. "Intentionen" abgeleitet und diese schließlich im Moment der Interpretation aktualisiert und auf die moderne Situation angewendet werden.22 Die Frage nach der Vereinbarkeit von Islam und Menschenrechten ist also abhängig von der Dynamik - je entwicklungsfähiger das islamische Recht aufgefasst wird, umso größer ist die Vereinbarkeit. Hierbei stehen sich Universalität und islamische Legitimität gegenüber.23
Bassiouni schlägt eine Konzeption vor, die genau auf diesen generellen Intentionen basiert. Die Intention der islamischen Offenbarungs- und Rechtsnormen ist der Schutz des Lebens, der Vernunft, der Religion, der Nachkommenschaft und des Eigentums. Diese Güter entsprechen grob den grundlegenden menschlichen Bedürfnissen, wie sie auch Maslow definiert hat. Der Schutz der menschlichen Bedürfnisse - Gesundheit, Sicherheit, Zugehörigkeit, Anerkennung und Sinngebung - ist unabhängig von jeder Religion unbedingt notwendig für die Existenz des Menschen. Demnach können Menschenrechte als Institution zum Schutz menschlicher Bedürfnisse gesehen werden, die einerseits islamisch legitimiert sind, da sie den Zweck des islamischen Rechts darstellen, und andererseits universal konsensfähig sind, da menschliche Bedürfnisse für jeden gleich wertvoll sind. Der Umfang der menschenrechtlichen Ansprüche wächst nicht nur mit dem technischen Fortschritt und dem ökonomischen Wandel, sondern auch mit neuen Möglichkeiten zum Schutz.24 Die Vielfalt an Positionen, die in diesem Diskurs aufeinandertreffen, zeigt, dass es nicht "der Islam" ist, der für die westlichen Anschuldigungen bezüglich der Menschenrechte verantwortlich ist, sondern jeweils ein "bestimmtes Islamverständnis". Der Umgang mit dem islamischen Recht spielt hier eine entscheidende Rolle.25 Die "fehlende Fähigkeit zu rationaler Auseinandersetzung mit Kritik" steht der Fähigkeit zur Akzeptanz moderner Ideen gegenüber.26

1 Vgl. Mahmoud Bassiouni: Menschenrechte zwischen Universalität und islamischer Legitimität, Berlin: Suhrkamp 2014, S. 30f.

2 Vgl. ebd., S. 234.

3 Vgl. Bassam Tibi: Im Schatten Allahs, München: Ullstein 2003, S. 28.

4 Vgl. ebd., S. 26; Heiner Bielefeldt: Muslime im säkularen Rechtsstaat, Bielefeld: Transcript 2003a, S. 53.

5 Vgl. Hiltrud Schröter: Das Gesetz Allahs, Königstein/Taunus: Ulrike Helmer Verlag 2007, S. 19.

6 Vgl. ebd., S. 35.

7 Vgl. ebd., S. 20; Anon, (2016). [online] Available at: www.humanrights.ch/upload/pdf/140327_Kairoer_Erklaerung_der_OIC.pdf [Accessed 11 Feb. 2016].

8 Vgl. Rotraud Wielandt: Menschenwürde und Freiheit in der Reflexion zeitgenössischer muslimischer Denker, in: J. Schwartländer, ed., Freiheit der Religion, 2nd ed. Mainz: Matthias-Grünewald-Verlag 1993, S.185.

9 Vgl. Heiner Bielefeldt: "Westliche" versus "islamische" Menschenrechte? Zur Kritik an kulturalistischen Vereinnahmungen der Menschenrechtsidee, in: M. Rumpf, U. Gerhard und M. Jansen, ed., Facetten islamischer Welten, 1st ed. Bielefeld: transcript Verlag 2003b, S. 124.

10 Vgl. ebd.; H. Bielefeldt (2003a), S. 33.

11 Vgl. dejure.org, (2016). Art. 1 GG - dejure.org. [online] Available at: dejure.org/gesetze/GG/1.html%20zuletzt%20abgerufen [Accessed 11 Feb. 2016].

12 Vgl. H. Bielefeldt (2003b), S. 125.

13 Vgl. H. Schröter, H. (2007), S. 18.

14 Vgl. ebd., S. 36.

15 Vgl. B. Tibi, S. 44.

16 Vgl. H. Bielefeldt (2003a), S. 55.

17 Vgl. Muhammad Asad: Die Botschaft des Koran, Ostfildern: Patmos-Verlag 2011, S. 95.

18 Siehe hierzu Suren: 16:93; 18:29; 74:54/55; 80:11/12.

19 Vgl. Bielefeldt (2003b), S. 124f.

20 Vgl. R. Wielandt, S. 187.

21 Vgl. ebd., S. 191-193.

22 Vgl. Sahiron Syamsuddin: Die Koranhermeneutik Muhammad Sahrurs und ihre Beurteilung aus der Sicht muslimischer Autoren, Würzburg: Ergon 2009, S. 50f.

23 Vgl. M. Bassiouni, S. 354-6.

24 Vgl. ebd., 356-360.

25 Vgl. ebd., S. 127.

26 Vgl. H. Schröter, S. 37.

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