Muslimisches Sizilien

Artikel 18.04.2017 Redaktionsteam

Dieser Beitrag befasst sich mit der muslimischen Präsenz und Herrschaft in Sizilien. In den letzten Jahren kam es zu einem neuen Erwachen des wissenschaftlichen Interesses an jener Epoche. Nach einem historischen Abriss wird im Text die Frage der konkreten arabisch-islamischen Beiträge und Einflüsse auf die Insel erörtert.


Sizilien, die im Herzen des Mittelmeers gelegene "Insel zwischen den Welten"1, war während ihrer facettenreichen Geschichte immer wieder von besonderer interkultureller Bedeutung.2 Einen Teil dieser Geschichte prägten die MuslimInnen, als sie etwa 250 Jahre lang die Insel beherrschten. Aber anders als etwa zu Andalusien, das 800 Jahre lang muslimischen Machthabern unterstand, ist die Quellenlage zum muslimischen Sizilien begrenzt und stützt sich hauptsächlich auf nichtmuslimische Überlieferungen und Reiseberichte.3 Doch nachdem jahrzehntelang mit Michele Amaris (gest. 1889) "Geschichte der Muslime Siziliens"4 alles Wissenswerte gesagt schien, erwachte in den letzten Jahren ein neues wissenschaftliches Interesse an diesem historischen Kapitel der Insel. Hier spielen neue archäologische Befunde und Textzeugnisse eine Rolle, aber auch eine neue Sicht auf Sizilien als "Raum vielfältiger kultureller Einflüsse und christlich-muslimischer Grenzregion"5 und als spannendes, interdisziplinäres Forschungsobjekt.

Die muslimische Eroberung Siziliens begann im Jahr 827 unter den Aghlabiden, die bereits im westlichen Tunesien, Libyen und Ostalgerien herrschten und in Sizilien relativ unabhängig vom Kalifat in Bagdad ein Staatswesen gründeten.6 Die Eroberung der Insel war erst nach über siebzig Jahren abgeschlossen, woraufhin 150 Jahre muslimischer Herrschaft folgten, ab 910 unter den Fatimiden bzw. später unter deren Stellvertretern, den Kalbiten.7 Das Christentum blieb weiterhin präsent, wobei Christen wie Juden zum Zahlen der ǧizyah8 verpflichtet waren. Muslime bildeten die herrschende Klasse, waren Krieger, Landbesitzer, Kaufleute und Handwerker.9 Generationen muslimischer Intellektueller, Gelehrter und Dichter bewohnten die Insel, bis es ab etwa 1030 zu Streitigkeiten und zur Aufspaltung in Kleinfürstentümer kam, woraufhin die Normannen unter Roger I. (gest. 1101) und dessen Bruder Robert Guiscard (gest. um 1085) mit der Eroberung Siziliens begannen. 1061 fiel Messina, Palermo folgte zehn Jahre später und nach heftigem Widerstand schließlich 1091 die letzte muslimische Festung im südwestlich gelegenen Noto. In der Folge lebten die MuslimInnen - viele waren bereits nach Andalusien und Nordafrika geflohen - als Minderheit unter christlicher Herrschaft.10

Bemerkenswert ist, dass während der normannischen Epoche die arabisch-islamische Kultur einen neuen Aufschwung erlebte. Unter den neuen Herrschern fand die in der muslimischen Zeit begonnene Periode kultureller, wissenschaftlicher und wirtschaftlicher Blüte eine Fortsetzung. Die Normannen übernahmen zu einem großen Teil Verwaltungssystem, Hofkultur und Sprache, die arabische Architektur wurde, vermischt mit byzantinischen und lateinisch-christlichen Elementen, weiter gepflegt.11 MuslimInnen und Jüdinnen/Juden erhielten das Recht auf freie Religionsausübung und unabhängige Rechtsprechung, wobei sie - wie zuvor Jüdinnen/Juden und ChristInnen unter der muslimischen Herrschaft - eine Kopfsteuer zu zahlen hatten.12 Sie blieben besonders unter Roger II. (gest. 1154) Teil des politischen, wirtschaftlichen, intellektuellen und künstlerischen Lebens.13

Mit der Zeit nahmen jedoch Spannungen, Aufstände von und Massaker an MuslimInnen zu, woraufhin Friedrich II. (gest. 1250) sie 1220 auf das süditalienische Festland (Lucera, Apulien) deportierte. Schließlich wurden sie auch von dort entweder vertrieben oder versklavt, als Karl II. von Anjou (gest. 1309) im Jahr 1300 die muslimische Stadt Lucera zerstören ließ. Somit endete die muslimische Präsenz in Sizilien und Süditalien nach etwa 450 Jahren.14

Sizilianische Historiker des 19. Jahrhunderts wie Pietro Lanza (gest. 1855), Michele Amari u. a. betonten die Bedeutung der arabischen Präsenz in Sizilien "für die Entstehung einer spezifisch sizilianischen Identität, die sie vom Rest Italiens und Europas unterscheide."15 Diese "spezifisch sizilianische Identität" ist sicher nicht allein auf den Einfluss der MuslimInnen zurückzuführen. Tatsächlich aber ähneln sich beispielsweise Kultur und Lebensweise in Sizilien und im nahen Tunesien, und dies nicht nur hinsichtlich der Tatsache, dass in Sizilien als einzigem Ort Italiens Couscous ebenso Teil der traditionellen Küche ist.16

Die arabischen Beiträge zur Landwirtschaft Siziliens sind enorm. Die zuvor karge Landschaft veränderte sich dank neuer Bewässerungstechniken in einen blühenden Garten mit Nutz-, Heil- und Zierpflanzen.17 Die für uns typisch sizilianischen Zitrusfrüchte, Mandel- und Pistazienbäume, aber auch Dattelpalmen, Zuckerrohr, Reis, Baumwolle und Maulbeerbäume, Flieder, Jasmin und Rose sowie viele weitere Pflanzen verdankte die Insel ebenso den muslimischen Eroberern wie die Seidenraupenzucht, die Herstellung von Baumwoll- und Seidenstoffen und Lüsterkeramik.18 Die Abschaffung des Großgrundbesitzes hatte entscheidenden Anteil am sozialen und wirtschaftlichen Fortschritt, den die sogenannten Sarazenen (im Volksmund wurden die Araber als saracino bezeichnet, vom arabischen šarqi – östlich, morgenländisch) nach Sizilien brachten. All dies führte zu neuem Reichtum, nicht zuletzt auch in den abendländischen Sprachen, in die unzählige arabische Bezeichnungen einflossen.19

Auch wissenschaftliche Erkenntnisse, u. a. auf dem Gebiet der Medizin, Philosophie und Astrologie, zählen zu den Früchten jener Epoche.20 Islamisches Recht, islamische Theologie, Philologie und Grammatik wurden gepflegt.21 Zahlreiche arabische Gelehrte und Dichter wirkten auf der Insel, Ibn Qaṭṭā῾ (gest. 1124) zählte die Biographien von über 170 arabisch-sizilianischen Dichtern auf, darunter am bekanntesten Ibn Ḥamdīs (gest. 1133). Auch der berühmte malikitische Religionsgelehrte Imam al-Māzarī (gest. 1141) stammte aus Sizilien. In seinem Geburtsort Mazaro del Vallo ist heute die Piazza Imam al Mazari nach ihm benannt. Ibn Ẓafar aṣ-Ṣaqalī (gest. um 1170) gilt als der "Machiavelli Siziliens", sein Fürstenspiegel Sulwān al-muṭāʿ fī ʿudwān al-atbāʿ wurde ins Italienische, Englische und Französische übersetzt.22

Von der Zeit der muslimischen Herrschaft besonders profitiert hat die Stadt Palermo, die damals endgültig zur Hauptstadt aufstieg. Im 10. Jh. hatte die Stadt Ibn Ḥauqal (gest. um 977) zufolge bereits 300.000 Einwohner23 und wurde im gesamten islamischen Okzident nur von Córdoba übertroffen. Der Mönch Theodosius beschreibt Palermo folgendermaßen:

"Sehr berühmte und bevölkerte Stadt mit einer ungeheuer großen Bevölkerung von Einheimischen und Fremden. Man könnte meinen, dass die gesamte Rasse der Sarazenen hier zusammengeströmt sei. Von Osten nach Westen, von Norden bis zum Meer reichte die Stadt nicht aus für die Zahl ihrer neuen Bewohner."24

Nach 200 Jahren als "prächtiger Mittelpunkt" Siziliens wurde Palermo in normannischer Zeit zur "neuen Metropole eines christlichen Königreiches, das ganz vom orientalischen Geist und morgenländischer Lebensart geprägt war."25 Der Reisende und Schriftsteller Ibn Ǧubair (gest. 1217) schreibt im 12. Jahrhundert über Palermo:

"Palermo erscheint wie eine Vision aus der Zauberwelt: Zwischen den Plätzen und Räumen kommt es einem wie ein endloser Garten vor. Seine hinreißenden Bauten und Paläste erinnern an Córdoba." Und weiter: "In dieser Stadt haben die Muslime einen Teil ihres Glaubens bewahrt. Sie folgen dem deutlich zu hörenden Ruf des Muezzins, um in den Moscheen ihr rituelles Gebet zu verrichten."26

Das Erbe des Islam ist im heutigen Sizilien vor allem noch an Personen- und Ortsnamen ablesbar. Aus der Zeit der islamischen Herrschaft sind hauptsächlich Münzen und Inschriften sowie die halb zerstörten Bäder von Cefalù bei Palermo erhalten. Aus der normannischen Epoche aber zeugen weltberühmte Bauwerke wie die Cappella Palatina und die Paläste von Zisa und Cuba vom Können muslimischer bildender Künstler.27

Das Thema Sizilien im Zusammenhang mit dem Islam ist - abseits aller Romantisierung einerseits und Unterschätzung andererseits – ein spannendes Feld, in dem es noch viele Einzelheiten zu erforschen gibt. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass diese Insel unter der arabischen sowie der nachfolgenden normannischen Herrschaft eine dreihundert Jahre währende wirtschaftliche wie kulturelle Blütezeit erlebte, die "eine ganz eigene Synthese byzantinischer, arabischer, berberischer, jüdischer und normannischer Elemente hervorbrachte."28 In unserer gegenwärtigen Zeit der großen Flüchtlingsströme, in der Unterschiedliches, einander Fremdes aufeinandertrifft, gewinnt diese historische Periode Siziliens neue Aktualität als positives Beispiel interkulturellen Zusammenlebens.

1 Zitat aus dem Titel von: Wolfgang Gruber/Stephan Köhler (Hg.): Siziliens Geschichte. Insel zwischen den Welten (= Expansion – Interaktion – Akkulturation, Band 24), Wien: Mandelbaum Verlag 2013.

2 Vgl. dazu die Einleitung in: ebd., S. 9-12.

3 Vgl. Hakkı Arslan: Muslimische Geschichte in Sizilien, 19.03.2016, www.islamiq.de/2016/03/19/muslimische-geschichte-in-sizilien/, abgerufen am 04.07.2016.

4 Michele Amari: Storia dei Musulmani di Sicilia, erstmals erschienen von 1854-1872, vgl. Kordula Wolf: Muslimisches Sizilien, in: QFIAB 95 (= Heft 1/ April 2016), S. 459-462, hier S. 459.

5 Ebd.

6 Vgl. Erdmute Heller: Arabesken und Talismane. Geschichte und Geschichten des Morgenlandes in der Kultur des Abendlandes (= Beck'sche Reihe, Band 474), München: Beck 1993, S. 107.

7 Vgl. Francesco Gabrieli: Der Islam in der Mittelmeerwelt, in: Joseph Schacht/C. E. Bosworth (Hg.), Das Vermächtnis des Islams (= Band 1), München: Dt. Taschenbuch-Verl. 1983, S. 96. Vgl. auch W. Gruber et al. 2013, S. 70.

8 Anm.: Die ǧizyah ist eine spezielle Steuer, die den unter muslimischer Herrschaft lebenden ChristInnen und Jüdinnen/Juden auferlegt wurde. Diese galten als Schutzgenossen (ḏimmī) und genossen Religions- und eingeschränkte Ritualfreiheit sowie teilweise Gleichstellung in rechtlichen und sozialen Fragen. Vgl. Peter Heine: Der Islam, Düsseldorf: Patmos 2007, S. 53.

9 Vgl. F. Gabrieli 1983, S. 98. Vgl. auch W. Gruber/S. Köhler 2013, S. 70.

10 Vgl. H. Arslan 2016.

11 Vgl. ebd.

12 Vgl. W. Gruber/S. Köhler 2013, S. 101.

13 Vgl. E. Heller 1993, S. 108.

14 Vgl. H. Arslan 2016.

15 Ebd.

16 Vgl. Fabio Ghia: L'Islam in Sicilia, ben diverso dall'Isis, 26.02.2015, www.opinione.it/esteri/2015/02/26/ghia_esteri-26-02.aspx, abgerufen am 06.06.2016.

17 Vgl. E. Heller 1993, S. 107.

18 Vgl. W. Gruber/S. Köhler 2013, S. 257. Vgl. auch Maurice Lombard: Blütezeit des Islam. Eine Wirtschafts- und Kulturgeschichte 8.-11. Jahrhundert (= Fischer-Geschichte, Band 10773), Frankfurt: Fischer-Taschenbuch-Verl. 1992, S.96. Vgl. auch E. Heller 1993, S. 107.

19 Vgl. E. Heller 1993, S. 107. Zum Einfluss arabischer Wörter im Deutschen vgl. Nabil Osman (Hg.): Kleines Lexikon deutscher Wörter arabischer Herkunft (= Beck'sche Reihe, Band 456), München: Beck 2010.

20 Vgl. M. Lombard 1992, S. 98.

21 Vgl. F. Gabrieli 1983, S. 99.

22 Vgl. H. Arslan 2016.

23 Anm.: Lombard gibt im Vergleich dazu für das 20. Jahrhundert 400.000 Einwohner an. Vgl. M. Lombard: 1992, S. 97.

24 Theodosius zit. nach: ebd., S. 153, zit. nach: Michele Amari: Description de Palerme au milieu du Xe siècle de l´ère vulgaire par Ebn Haucal, Paris: Imprimerie Royale 1845.

25 E. Heller 1993, S. 108.

26 Ibn Ǧubair, zit. nach: ebd., S.108f, zit. nach: Manfred Fleischhammer (Hg.): Altarabische Prosa. Leipzig: Reclam-Verlag 1991.

27 Vgl. F. Gabrieli 1983, S. 100.

28 Gudrun Krämer: Geschichte des Islam (= dtv Band 34467), München: Dt. Taschenbuch-Verl. 2011, S. 140.

Ahmad, Aziz: A History of Islamic Sicily (= Islamic surveys, Band 10), Edinburgh: Edinburgh Univ. Press 1975.

Chiarelli, Leonard C.: A History of Muslim Sicily, Malta: Midsea Books 2011.

Gabrieli, Francesco: Der Islam in der Mittelmeerwelt, in: Joseph Schacht/C. E. Bosworth (Hg.), Das Vermächtnis des Islams (=Band 1), München: Dt. Taschenbuch-Verl. 1983, S. 83-131.

Gruber, Wolfgang/Köhler, Stephan (Hg.): Siziliens Geschichte. Insel zwischen den Welten (= Expansion – Interaktion – Akkulturation, Band 24), Wien: Mandelbaum Verlag 2013.

Heller, Erdmute: Arabesken und Talismane. Geschichte und Geschichten des Morgenlandes in der Kultur des Abendlandes (= Beck'sche Reihe, Band 474), München: Beck 1993.

Vanoli, Alessandro: La Sicilia musulmana, Bologna: Il Mulino 2012.

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