Rechtsschulen - Eine Diversität in der islamischen Einheit
Der Islam gehört heute nach dem Christentum mit rund 1,6 Milliarden Anhängern zur zweitgrößten Weltreligion.1 Schätzungen zufolge leben gegenwärtig ca. 600.000 MuslimInnen in Österreich.2 Dabei werden sie von außen oftmals als homogene Glaubensgemeinschaft wahrgenommen, obwohl nach dem Ableben des Propheten Muhammad unterschiedliche Denk- und Rechtsschulen entstanden sind. Beginnend mit einem historischen Rückblick soll der vorliegende Artikel in diesem Zusammenhang grundlegende Informationen über die unterschiedlichen Rechtsschulen geben, welche die Vielfalt in der islamischen Rechtswissenschaft abbilden. In Anbetracht dieser Vielfalt werden jedoch nur die größten Rechtsschulen in einer sehr allgemeinen Übersicht dargestellt.
Bereits zu Lebzeiten des Propheten gab es unter den MuslimInnen unterschiedliche Meinungen bezüglich einigen Lehren bzw. Interpretationen des Islam. Im Unterschied zu den nachfolgenden Generationen hatten sie jedoch die Möglichkeit, den Propheten als höchste Autorität direkt zu konsultieren. Mit dem Ableben des Propheten entstand eine Lücke, die zur Verstärkung der innermuslimischen Diskrepanz in einigen Angelegenheiten führte. Insbesondere der Konflikt um die Leitung der Gemeinde zwischen dem vierten Kalifen, der zugleich der Schwiegersohn des Propheten Muhammad ʿAlī b. Abī Ṭālib (gest. 661) war, mit ʿĀʾiša bint Abī Bakr (gest. 678), der Frau des Propheten Muhammad, spaltete die muslimische Gemeinschaft (arab. Umma) - in Sunniten und Schiiten. Infolgedessen entwickelte sich aus der Gruppe vom vierten Kalifen eine schiitische Strömung, auch Schia (dt. Partei) genannt, die etwa 10-15 % der heutigen MuslimInnen darstellt.3 Dem gegenüber stehen die Sunniten, welche mit 85 % die Mehrheit der MuslimInnen repräsentieren. Die islamischen Expansionen ab dem 8. Jahrhundert trugen zu ihrer theologischen und rechtlichen Ausformung bei. Die MuslimInnen mussten nämlich in den eroberten Gebieten neue Rechtssysteme einführen und dabei die Rechtsfragen im Kontext der örtlichen Bedingungen neu überdenken.4 Dabei haben sich ferner lokale Gemeinschaften und in weiterer Folge regionale Rechtsschulen entwickelt, was als Geburtsstunde der Rechtsschulen (arab. maḏhab) in der islamischen Geschichte bezeichnet werden kann.5
Sie unterscheiden sich grundsätzlich in der methodischen Auslegung der Quellen, wodurch es zu unterschiedlichen juristischen Argumentationen kommt.6 Dieser Meinungspluralität schien dennoch eine Eingrenzung für die Konsistenz des Rechtssystems unerlässlich zu sein und so etablierten sich in der sunnitischen Strömung bislang die vier großen Rechtsschulen - die hanafitische, malikitische, hanbalitische sowie die schafiitische Rechtsschule.7 Aus der schiitischen Vielfalt konnten sich hingegen die Alawiten, Zaiditen, die Ismaeliten sowie die Zwölferschia konstituieren.8
Die Diskrepanz zwischen den Schiiten und den Sunniten blieb jedoch aufrecht. Während einige Schiiten die Bezeichnung das gemeine Volk (arab. al-ʽāmma) für die Sunniten verwenden, werden sie von einigen Sunniten als Abtrünnige (arab. rāfiḍī) angesehen. Infolgedessen gelten für die Schiiten die drei rechtgeleiteten Kalifen - Abū Bakr, ʽUmar sowie ʽUthmān - als Usurpatoren.9 ʿAlī b. Abī Ṭālib ist ihrer Auffassung nach der erste gottgewollte Nachfolger des Propheten. Die Sunniten lehnen jedoch diesen Vorwurf ab und akzeptieren ʿAlī als den vierten und letzten rechtgeleiteten Kalifen. Daraus kann man schließen, dass der Glaube an ʿAlī und seine Nachfolger, die Imame, zu den zentralen Bestandteilen der Schiiten und ihres Glaubensbekenntnisses gehört.10 Eine Übereinstimmung zeigen die beiden Hauptströmungen dagegen bei den folgenden Grundprinzipien des Islams: "der Einheit Gottes, dem Prophetentum sowie dem Glauben an die Auferstehung und den Jüngsten Tag".11
Beginnend mit der sunnitischen Strömung werden nun vor diesem Hintergrund die bereits genannten Rechtsschulen kurz dargestellt:
- Die hanafitische Rechtsschule (Hanafiten), benannt nach ihrem Begründer Abu Hanifa (gest. 767), stammt aus Kufa. Sie ist hauptsächlich in der Türkei, am Balkan sowie in Mittelasien verbreitet und kennt neben den Rechtsgrundlagen Koran, Sunna, Idschma (Konsens) und qiyās (Analogieschluss) auch ra'y (die persönliche Ratio) sowie istiḥsān (etwas, das für die Gesellschaft für besser gehalten wird) als Rechtsmittelfindung.12
- Die schafiitische Rechtsschule (Schafiiten), benannt nach ihrem Begründer asch-Schāfi'ī (gest. 820), ist die zweitgrößte Rechtsschule. Die Uṣūl al-fiqh-Lehre von asch- Schāfi'ī setzte sich im Laufe des 9. Jahrhunderts durch und verdrängte dabei die persönliche Ratio (ra'y) in den Hintergrund. Demnach stützen ihre Rechtsurteile auf Koran, Sunna, Idschma und qiyās. Diese Schule ist insbesondere in Südostasien sowie in Ostafrika verbreitet.13
- Die malikitische Rechtsschule (Malikiten), benannt nach ihrem Begründer Mālik ibn Anas (gest. 796), entstand zur gleichen Zeit wie die hanafitische Rechtsschule in Medina. Sie ist in Zentralafrika sowie in West- und Nordafrika verbreitet und kennt neben den Rechtsgrundlagen Koran, Sunna, Idschma und qiyās auch istiṣlāh (Rechtsableitung nach öffentlichem Interesse) als Rechtsmittelfindung. Sie war auch vor der Rückeroberung Spaniens (Reconquista) dort verbreitet.14
- Die hanbalitische Rechtsschule (Hanbaliten), benannt nach ihrem Begründer Ahmad ibn Hanbal (gest. 855), ist heute in den arabischen Golfstaaten sowie in Syrien verbreitet und bildet die kleinste Rechtsschule des sunnitischen Islam.15
- Die bedeutendste und zahlenmäßig größte Gruppe unter den Schiiten bilden die Zwölferschia, Anhänger der zwölf Imame, wonach ʿAlī b. Abī Ṭālib (gest. 661) nach Ableben des Propheten als erster Nachfolger und Imam die Leitung der Gemeinde übernehmen hätte sollen. Im Zentrum dieser Gruppe, die heute vor allem im Iran, im Irak und im Libanon verbreitet ist, steht die Unfehlbarkeit und Allwissenheit ihrer zwölf Imame, die als direkte Nachkommen Muhammads gelten. Von entscheidender Bedeutung ist auch der Glaube an die Verborgenheit ihres 12. Imams, der nach ihrer Auffassung als Mahdi (dt. der von Gott Rechtgeleitete) wiederkommen wird.16
- Die zweitgrößte Gruppe bilden die Ismaeliten, auch Siebenerschia genannt, da sie nur sieben Nachfolger von ʿAlī b. Abī Ṭālib (gest. 661) anerkennen. Ismā'īl (gest. 760), der ältere Sohn des 6. Imam Ǧaʿfar ibn Muḥammad aṣ-Ṣādiq (gest. 765), starb nämlich noch vor seinem Vater und gilt für die Ismaeliten als 7. und letzter Imam. Nach ihrer Auffassung ist er in die Verborgenheit gegangen und wird mit seiner Wiederkunft alle anderen Religionen aufheben. Die Ismaeliten sind heute mit ihrem Oberhaupt Aga Khan vor allem in Afghanistan, Tadschikistan, Jemen und Ostafrika verbreitet.17
- Darüber hinaus gibt es in der schiitischen Strömung die Alawiten in Syrien, zu denen der syrische Staatschef Baschar al-Assad zählt, die Aleviten in der Türkei sowie Zaiditen, benannt nach dem 5. Imam Zaid ibn ʿAlī b. al-Ḥusain (gest. 740), die im nördlichen Jemen verbreitet sind.18
Diese Vielfalt wurde mit einigen Ausnahmen in der islamischen Tradition generell als eine Bereicherung angesehen.19 Leider gibt es bestimmte Epochen, in denen die Vielfalt, wie auch in anderen Religionen, aus verschiedenen, wirtschaftlichen und machtpolitischen Gründen bekämpft worden ist. In Europa ist es gelungen, trotz der schwierigen weltpolitischen Lage ein friedliches Zusammenleben all dieser Gruppierungen zu sichern.