Salafismus - zwischen Realisierbarkeit und Illusion

Artikel 08.08.2016 Redaktionsteam

Der vorliegende Artikel beschäftigt sich mit dem Thema Salafismus. Zu Beginn erfolgt eine Begriffserklärung und Abgrenzung zu themenverwandten Begriffen. Im weiteren Verlauf wird die Entstehung des Salafismus im historischen Kontext und im Zusammenhang mit der islamischen Jurisprudenz gezeichnet, bevor abschließend die Realisierbarkeit salafistischer Vorstellungen kritisch diskutiert wird.


Der Begriff Salafismus weckt nicht selten die Assoziationen mit einer textfokussierten Auffassung und absoluten Umsetzung der Quellen Koran und Sunna. Der Salafismus gibt vor, die "wahre Religion" und der "echte Islam" zu sein.1 Dabei ist der Begriff nicht ganz eindeutig. Heute wird meist über die Strömung seit den neunziger Jahren gesprochen, deren Anhänger vorgeben, strenggläubig und fromm zu sein. Rüdiger Lohlker grenzt diese Strömung als "Neo-Salafismus" ab.2 Die salafistische Ideologie wird heftig diskutiert, da sie die islamischen Rechtsschulen und den Sufismus ablehnt. Ihre Anhänger vertreten die Auffassung, wonach alle Vertreter derjenigen Positionen als ungläubig gelten, die nach den ersten drei Generationen, den "Altvorderen" (salaf), entstanden sind.3 Hinzu kommt die Bedeutungsebene des Salafismus als ein bedrohliches und mit Terrorismus in Verbindung stehendes Gebilde, das seine historische Entstehung in den Hintergrund drängt.4 Um einen Einblick in das Gedankensystem dieser Strömung bekommen zu können, ist es ergiebig, zuvor die Begriffe Salafismus, Islamismus und Dschihadismus voneinander abzugrenzen und zu definieren.

Salafismus, Islamismus und Dschihadismus

Salafisten sind Fundamentalisten und halten deshalb kompromisslos an ihren Ansichten fest. Sie neigen jedoch nicht zwingend zu Gewalt. Zwar sind viele gewaltbereite Muslime Salafisten, jedoch gibt es auch eine große Zahl an Salafisten, die ihre Frömmigkeit in privatem Raum praktizieren.
Grundlegende Kennzeichen für den Islamismus sind die politische Auffassung und Überzeugung, die sie im Gegensatz zu den Salafisten auch in der Gesellschaft durchsetzen wollen. Islamisten sind bestrebt, den Staat nach ihrer eigenen Auffassung zu organisieren und ihr politisches System zu etablieren. Die Mitglieder der ägyptischen Muslimbruderschaft werden als Islamisten angesehen.5
Hauptanliegen der Dschihadisten ist, ähnlich wie das der Islamisten, ihre persönlichen politischen Auffassungen durchzusetzen und die Gesellschaft zu verändern. Im Gegensatz zu den Islamisten wenden sie zur Durchsetzung Gewalt an. ISIS ist ein Beispiel für eine dschihadistische Organisation, die islamistische Positionen vertritt, eine salafistische Ideologie verfolgt und mittels Gewalt ihre Überzeugungen realisieren will.6 Im öffentlichen Diskurs und in den Medien bezeichnet Salafismus pauschal meist eine antidemokratische und radikale Vorstellung einer Ideologie.7

Vom islamischen Recht zum modernen Salafismus

Das Hauptmerkmal der salafistischen Strömung ist der Anspruch darauf, der einzig "wahre" und "richtige" Islam zu sein und jedes andere Islamverständnis als "falsch" zu erklären. Die Bereiche der islamischen Glaubenslehre und des islamischen Rechts werden bei den Salafisten nicht eindeutig voneinander unterschieden. Die Anhänger dieser Denkrichtung geben vor, nicht eine Rechtsschule im Islam zu sein, sondern die Rechtsschule des Propheten, der alle Muslime ausnahmslos folgen müssen.8 Der Anspruch der Salafisten auf eine einzige und absolute Wahrheit bringt unweigerlich Probleme mit sich.

Das islamische Recht bildete sich stufenweise mit dem Koran und der Sunna als Basis heraus. So etablierten sich durch intellektuelle Diskussionen aufgrund verschiedener Auffassungen eine Reihe von Rechtsschulen, die das Recht stetig weiterentwickelt haben. Die heutigen Rechtsschulen (Hanafiten, Malikiten, Schafiiten, Hanbaliten) bauen sowohl auf Vernunft als auch auf Tradition auf und respektieren sich gegenseitig. Durch regelmäßige Aktualisierungen von Rechtsbestimmungen konnten alte Bestimmungen an veränderte Gegebenheiten angepasst werden, was jedoch für einige zugleich eine Entfernung von der Tradition bedeutete.9 Diese Erneuerungen hatten zudem zur Folge, dass es im 19. Jahrhundert zu Reformbewegungen kam, die den "politischen und kulturellen Verfall der muslimischen Welt durch heilsame Wiederherstellung des Früheren" aufhalten wollten. Die Probleme hierbei waren, erstens eine Definition für den Begriff "früher" festzulegen und zweitens den Zeitpunkt des Beginns für den sogenannten "Verfall" zu bestimmen. Zentral für die Reform wurden zur Überwindung dieser Schwierigkeiten einerseits die Überlieferung (ḥadīṯ) und andererseits die Orientierung an den "Altvorderen" (salaf). Die Bewegungen der ahl al-ḥadīṯ - wie sich die Anhänger der Reform nannten - begannen in Britisch-Indien und reichten bis nach Saudi-Arabien sowie in den Jemen. Ihre Anhänger plädierten für "Erneuerung (taǧdīd) durch Neuauslegung (iǧtihād)" mit den ursprünglichen Quellen als Grundlage. Außerdem sollten die bisherigen Entwicklungen des Rechts und das Konzept der Nachahmung (taqlīd), wonach eine Orientierung an der jeweiligen Rechtsschule zum Entscheiden und Handeln geboten ist, verworfen werden.10
Die Vermischung von theologischem Verständnis und Rechtswissenschaft im Salafismus führt dazu, dass rechtliche Bestimmungen weitgehend auf den Überlieferungen des Propheten basieren. Der Auffassung der Salafiyya zufolge hatten die anderen Rechtsschulen sich mit der Weiterentwicklung des Rechts zu weit von den ursprünglichen Quellen entfernt, sodass die muslimische Gesellschaft nur noch wenig Zugang zu diesen Quellen gehabt habe. Diese Anschuldigungen an die anderen Rechtsschulen war der Beweggrund für den Wunsch nach einer "Rückkehr" zu der Zeit der Altvorderen und zum "ursprünglichen Islam". Außerdem wird der Standpunkt vertreten, dass alle Rechtsschulen ohnehin den ahl al-ḥadīṯ entsprangen und somit deren Rechtsschule die einzig wahre und schon immer anerkannte Rechtsschule sei.11
Insgesamt war die klassische Salafiyya zusammengesetzt aus einer Reihe Gelehrter und Denker. Als Gruppenbezeichnung entstand der Begriff jedoch erst im 20. Jahrhundert.12 Zur Zeit einiger bekannter Vertreter dieser modernistischen Reformbewegung, wie Muḥammad Rašīd ibn ʿAlī Riḍā (gest. 1935), existierte die Theorie einer "salafistischen Rechtsschule" noch nicht. Rašīd Riḍā war nicht direkt ein Gegner des Rationalismus, sondern verlangte zunächst verlässliche Überlieferungen, da er lediglich unzufrieden mit und enttäuscht von der europäischen Kolonialpolitik war. Der ḥadīṯ-Gelehrte Muḥammad Nāṣir ad-Dīn al-Albānī (gest. 1999), dessen Islamverständnis später zur Grundlage des Salafismus wurde, folgte Riḍā dahingehend und wurde vor allem deshalb populär, da er keine spezielle Ausbildung genossen hatte, sich sein Wissen selbst aneignete und somit den "Idealtypus für Salafisten als mündiger Muslim" repräsentierte. Mit al-Albānī verstanden sich seine Anhänger dann als "salafistische Rechtsschule".13

Salafistische Ideologie - ein Wunschtraum

Al Salman, der zum Kreis der Schüler von al-Albānī gehörte, verfasste das Buch Die Fehler der Betenden in Bezug auf das Gebet, durch das er die angeblichen Fehler beim Gebet aufzeigt. Bacem Dziri erkennt in diesem Zusammenhang, dass al Salman mit seiner Publikation nichts anderes tut, als die Leser zur Nachahmung (taqlīd) aufzurufen, was einen der vielen Widersprüche bei den Salafisten widerspiegelt, da sie sich deutlich gegen die Nachahmung (taqlīd) aussprechen. Genauer betrachtet bedeutet die Ablehnung von taqlīd, so Dziri, eine Trennung von anderen Rechtsschulen und das Überlassen der Entscheidungsmacht an die Salafisten. So sei jeder Schüler im Salafismus abhängig von seinem Lehrer und betreibe ebenfalls taqlīd oder Nachahmung; im Prinzip genau wie die Anhänger von al-Albānī, dessen Grundsätzen sie unkritisch folgen und diese Art von Nachahmung als "Festhalten an Koran und Sunna" ausgeben. Ein besonders auffälliger Widerspruch ist zusätzlich, dass die Anhänger des Salafismus den iǧtihād oder die Neuauslegung nur so lange befürworten, wie die Ergebnisse mit ihren Vorstellungen übereinstimmen. Bei al-Albānīs Schrift Das Gebet des Propheten, beschrieben vom Anfang bis zum Ende, als ob du es sehen würdest beschreibt bereits der Titel eine utopische Wunschvorstellung, da al-Albānī den Propheten beim Gebet nicht gesehen hat. Insgesamt spiegelt das gesamte Konstrukt der salafistischen Ideologie einen Wunschtraum wider, dessen Absolutheitsanspruch ebenfalls unrealistisch ist.
Das bedeutet jedoch nicht, dass jeder fromme Muslim, der nach der Sunna strebt, zwangsläufig als fundamentalistischer Salafist abgestempelt werden darf.14 Die große Gefahr, die von solch einer fundamentalistischen Strömung allerdings ausgehen kann, ist die Bildung von Untergruppen, die vor Gewalt und Waffenkampf zur Durchsetzung ihrer Ansichten nicht zurückschrecken.15 Soziale Netzwerke sind zur Anlaufstelle für Jugendliche geworden, in denen sie sich von Predigten mit radikalen Inhalten und Versprechungen vom Paradies immer weiter in diese Ideologie hineinsteigern können. Dabei verlieren sie den Bezug zur Realität und sehen über die Widersprüchlichkeit zwischen den Aufrufen zur Radikalisierung und den Verheißungen der vielversprechenden Propaganda blind hinweg. Nicht selten kommt es dann zur Bildung von Subkulturen, die nicht einmal mehr von ihren Begründern kontrollierbar sind. Zwar steckt große Bemühung hinter der Wahrung des Scheins, im Salafismus fände selbstständiges und rationales Denken mit Koran und Sunna als Grundlagen statt, jedoch ist es Tatsache, dass die Anhänger sich einer Autorität unterwerfen, die eine Utopie anstrebt, in sich widersprüchlich ist und ihre Ansichten als unabhängigen, "wahren" bzw. "einzigen" Islam, losgelöst und befreit von taqlīd, tarnt.

1 Vgl. Bacem Dziri:"Das Gebet des Propheten, als ob Du es sehen würdest" - der Salafismus als "Rechtsschule" des Propheten?, in: Salafismus: auf der Suche nach dem wahren Islam, 1st ed. Wien: Behnam T. Said 2014, S.132-159., 132.

2 Vgl. Lohlker, Rüdiger: Salafismus als Teil der Globalgeschichte, in: Salafismus in Deutschland, 1st ed. Bielefeld: Schneiders, Thorsten Gerald 2014, S.137-148., 137.

3 Vgl. B. Dziri, S. 132.

4 Vgl. R. Lohlker, S. 137.

5 Vgl. Andreas Armborst: Die Politisierung des Salafismus. in: Salafismus in Deutschland, 1st ed. Bielfeld: Schneiders, Thorsten Gerald 2014, S. 217-230., 220.

6 Vgl. ebd., S. 219.

7 Claudia Dantschke: "Lasst Euch nicht radikalisieren!", in: Salafismus in Deutschland, 1st ed. Bielefeld: Schneiders, Thorsten Gerald 2014, S. 171-186., 178.

8 Vgl. B. Dziri, S. 133.

9 Vgl. ebd., S. 134-6.

10 Vgl. ebd., S. 145-7.

11 Vgl. ebd., S. 151f.

12 Vgl. R. Lohlker, S. 144.

13 Vgl. B. Dziri, S. 148-9.

14 Vgl. ebd., S. 153-7.

15 Vgl. C. Dantschke, Claudia, S. 186.

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