Scharia – Zwischen Weltordnung und Normenlehre
Einführung
Einer der Begriffe, der in der gegenwärtigen Islamdebatte für sehr viel Unsicherheit und Misstrauen sorgt, ist der Begriff Scharia. Die heutigen Diskurse über den Begriff Scharia sind geprägt von Divergenz. Auf der einen Seite wird mit der Scharia gerechte Ordnung in einem stabilen und sicheren System assoziiert, auf der anderen Seite kommt das Gefühl von Unfreiheit durch verheerende Strafen in einer rückständigen Gesellschaft auf.1
Insbesondere im gegenwärtigen Diskurs zeigt sich, dass nur wenige Vertreter der verschiedenen Positionen Kenntnisse aufweisen oder gar wissen, was Scharia genau bedeutet. Der Begriff Scharia wird nun häufig mit islamischem Recht gleichgesetzt. Diese Übersetzung ist jedoch nicht richtig, da Scharia wesentlich mehr bezeichnet als das, was unter Recht verstanden wird. Im Folgenden soll kurz auf diese Problematik eingegangen werden.
Was ist Scharia?
Der Begriff Scharia bezeichnet ein System von Normen (aḥkām) bzw. das islamische Normensystem. Dieses Normensystem wird in drei Normkategorien unterteilt - Glaubensnormen, Ethiknormen und Handlungsnormen.
Die Glaubensnormen enthalten zu verinnerlichende Glaubensinhalte, worunter u. a. der Monotheismus (tawḥīd), die Offenbarungen sowie Propheten und Gesandte fallen. Die Ethiknormen umfassen alle moralischen Eigenschaften und Tugenden, wie Dankbarkeit und Geduld, die ein Mensch haben sollte. Bei der dritten Kategorie handelt es sich um die Handlungsnormen. Sie werden wiederum unterteilt in Normen ritueller Handlungen (ʿibādāt) und Normen zwischenmenschlicher Beziehungen (muʿāmalāt). Die islamischen Rechtswissenschaften (fiqh), die Antwort darauf geben, was getan und wie gelebt werden soll, behandeln diese Handlungsnormen. Islamisches Recht hingegen ist lediglich der Teil der Scharia, der die zwischenmenschlichen Beziehungen (muʿāmalāt) gemäß zeitlicher und räumlicher Veränderungen regelt.2
Demnach wird ersichtlich, dass es falsch ist, die Scharia mit dem islamischen Recht auf eine Stufe zu stellen, da sie im Sinne eines islamischen Normensystems zusätzlich Glaubensnormen, Ethiknormen und rituelle Normen enthält, die im Gegensatz zum Recht nicht weiterentwickelt werden, sondern unveränderlich sind.3 Zwar basiert das islamische Recht auf der Scharia, jedoch nicht alles, was in der Scharia vorkommt, hängt unmittelbar mit dem islamischen Recht zusammen. Sogar im Koran lässt sich der Begriff Scharia in keinem juristischen Zusammenhang finden. Er kommt in Sure 45:18 mit der ursprünglichen Bedeutung "der Weg, der zur Quelle führt" bzw. "der von Gott gebahnte Weg" vor.4
Auch die Beurteilungen sind nicht einfach im Koran oder den Überlieferungen zu finden, wie in der gegenwärtigen Zeit häufig von fundamentalistischen Positionen behauptet wird. Vielmehr haben die muslimischen Gelehrten im Laufe der Zeit eine eigenständige wissenschaftliche Disziplin entwickelt. Diese Rechtsmethodologie (uṣūl al-fiqh) zielt darauf ab, sowohl unter Berücksichtigung der muslimischen Quellen als auch des Kontextes und des Allgemeinwohls, Verhaltensregeln aufzustellen.5
Ist das islamische Recht gottgemacht?
Auch die Auffassung, wonach die juristischen Urteile direkt aus den Quellen stammen, ist falsch. Somit hat sich in der islamischen Tradition ein Richter bei der Erledigung seiner täglichen Aufgaben der Rechtsprechung keineswegs mit Religion befasst. Vielmehr griff er auf Handbücher seiner Rechtsschule zurück, aus welchen der Richter die zur Urteilsfindung nötigen Informationen zitierte.6 Dementsprechend basiert das Urteil also auf "menschengemachten" Rechtshandbüchern, die mit einem Gesetzeskommentar vergleichbar sind. Es ist lediglich "fehlbares Menschenwerk" und beansprucht somit auch keine "höhere göttliche Legitimation".7 Das islamische Rechtssystem erschließt sich in stetiger Entwicklung über die Rechtsquellen- und Rechtsfindungslehre (uṣūl al-fiqh).8 Schriften, die Rechtsbestimmungen enthalten, sind folglich zwar "Scharia-konform", aber nicht die Scharia selbst, denn diese ist weder ein Buch, noch als etwas Ganzes vom Menschen erfassbar.9
Die Aufgabe menschlicher Juristen ist demnach simplifiziert ausgedrückt die Herausarbeitung des Rechts auf der Grundlage dieser Quellen sowie in Verbindung mit dem Konsens der Fiqh-Gelehrten. Gibt es zu bestimmten Situationen keine Textquelle, so findet die Methode des Analogieschlusses (qiyās) Anwendung, durch welche neue Regeln anhand definitiver Regeln durch einen Umkehrschluss formuliert werden.10 Als Voraussetzung dieser Methode gilt, dass die definitive Regel und die neue Regel auf dem gleichen Grund (ʿilla) basieren. Das klassische Beispiel für diesen Prozess ist die Übertragung des Ursprungsfalls aus Sure 5:90, welche den Konsum von Wein ausdrücklich verbietet, auf das Drogenverbot, das sich weder im Koran noch in der Sunna explizit findet. Relevant ist hierfür die Frage nach dem Grund des Weinverbots, der offensichtlich die berauschende Wirkung des alkoholischen Getränks und somit eine Beeinträchtigung des Verstandes darstellt. Die Norm fußt demnach auf dem Zweck, die Zurechnungsfähigkeit zu wahren und schädliche Folgen für den Konsumenten und die Gesellschaft zu verhindern, was durch das Verbot von Rauschmitteln im Allgemeinen erfüllt wird. Ausschlaggebend für das Verbot ist daher weniger der Grund, sondern die Realisierung des Zwecks.11
Gelehrte hatten schon früh erkannt, dass es nicht für jeden Fall, der nach der Offenbarung entstand, eine Antwort durch den genauen Wortlaut des Koran und der Sunna geben würde. Dies veranlasste dazu, die Zwecke (maqāṣid) bzw. Prinzipien der Scharia zu ergründen und anhand ihrer Absichten Regeln zu erstellen.12 "Da der Koran und die Sunna nicht für jede Lebenssituation eine explizite Antwort bereithalten, ist es (...) notwendig, das Recht durch rationale Ableitung (...) zu erweitern, um die Regulierung des menschlichen Lebens nicht der Willkür zu überlassen."13 Dieser explizite Wortlaut macht nur einen geringen Teil der Scharia aus, wichtiger sind die Zwecke, die er vermittelt. Der Gelehrte al-Ğuwayni, der die Basis für die islamischen Rechtszwecke (maqāṣid al šarī'a) schaffte, betont, wie unabdingbar die Erkenntnis der Zwecke sei, denn derjenige, der "nicht in der Lage ist, die Zwecke hinter den Geboten und Verboten zu erkennen, hat ebenfalls die Rechtfertigungsgrundlage der Scharia verkannt".14 Das Konzept der maqāṣid hat heute noch nahezu völlige Gültigkeit und stellt die Voraussetzung für das Leben und die Bedürfnisse der Menschen dar. Es beinhaltet den Schutz der Religion, des Lebens, der Vernunft bzw. des Verstandes, der Nachkommenschaft und des Eigentums. Somit hat jedes Gebot und Verbot mindestens einen dieser Zwecke, der durch die Norm erfüllt werden soll.
Fazit
Im Grunde ist die Scharia also kein Buch oder Gesetz. Sie ist ein System der islamischen Normenlehre, das religiöse Gebote und Normen enthält, jedoch nicht nur in Bezug auf einzelne Fälle, sondern vor allem bezüglich der Lehre von den Quellen. Mit anderen Worten antwortet sie auf die Fragen des Gültigkeitsanspruchs von Normen, ihrer Beziehungen zueinander sowie ihrer Interpretationsmöglichkeiten.15 Obwohl rechtliche und religiöse Vorschriften gleichermaßen verbindlich sind, unterscheiden sie sich in ihren Sanktionen. Religiöse Vorschriften sind im Gegensatz zum Recht nicht erzwingbar und unterliegen keinem vorgegebenen irdischen Strafsystem.16
In diesem Zusammenhang ist es nicht zwingend ein Widerspruch, als praktizierender Muslim in einer demokratischen rechtsstaatlichen Gesellschaft zu leben. Denn die absolute Mehrheit der Normen der Scharia sind die Bereiche, welche die Glaubensinhalte betreffen und die Essenz des Islams bilden. Der Bereich der islamischen Rechtsauslegung ist auf ein gewisses Maß beschränkt und lediglich eine dynamische menschliche Interpretation. Die Grundlage bilden hier nicht die Strafen, sondern die Zwecke, die durch Maßnahmen erfüllt werden sollen. Somit basiert die Bestrafung für Diebstahl darauf, den Schutz des Vermögens zu gewährleisten und nicht darauf, eine willkürliche und barbarische Bestrafung festzulegen. Die konkreten Maßnahmen stimmen mit den Traditionen überein, die in jener Zeit herrschten, und entsprechen den damaligen Umständen. Deshalb ist eine kontinuierliche Entwicklung von neuen Maßnahmen, die der gegenwärtigen Auffassung nach angemessen sind, unverzichtbar. Darüber hinaus widerspricht die Vorstellung, es sei Sinn und Zweck der Religion, sich mittels Strafmaßnahmen durchzusetzen, dem eigentlichen Sinn der Religion. Denn dieser ist die Schaffung einer gerechten Welt, worauf ein demokratisches Konzept bereits abzielt. Diesbezüglich ergeben sich jedoch dann Probleme, wenn Vertreter fundamentalistischer Positionen für die wortwörtliche Interpretation plädieren und auf der Verwirklichung überholter Strafen bestehen. Das islamische Recht kann folglich nur dann fortdauernd Gültigkeit beanspruchen, wenn es mittels regelmäßiger Ableitungs- und Interpretationsprozessen (iǧtihād) auf die sich verändernden Rechtsbedürfnisse der Menschen zugeschnitten wird.17
Schon im Jahr 1925 spricht sich der Islamgelehrte und Richter ʿAlī ʿAbd ar-Rāziq in seinem Buch Der Islam und die Grundlagen der Herrschaft (al-Islām wa-uṣūl al-ḥukm) gegen die Legitimation des Kalifats und für eine Trennung von Religion und Politik im Islam aus.18 Seiner Ansicht zufolge war das Kalifat nicht nur verzichtbar und gefährlich, sondern habe auch "nichts mit den religiösen Angelegenheiten zu tun".19