Sklaverei und Islam
Den Begriff Sklaverei verbinden wohl die meisten Menschen mit der Sklavenhaltung in den amerikanischen Südstaaten, die 1865 abgeschafft wurde. Auch über die damit verbundene Rassentrennung zwischen Weißen und Schwarzen und die Diskriminierung letzterer – die damals keineswegs ein Ende fand – und über ihren Ausschluss von wirtschaftlicher und politischer Macht weiß man Bescheid.1 Doch Sklaverei heute? Und Sklaverei in Verbindung mit dem Islam? Beides nicht unbedingt unsere erste, aber eine berechtigte Assoziation, wie wir im Folgenden untersuchen werden.
In den 1980er Jahren begann der Soziologe Kevin Bales (geb. 1952)2, sich mit dem Thema moderne Sklaverei auseinanderzusetzen. "Ich war bestürzt, dass ein so grundlegendes Menschenrecht wie das auf Freiheit nach wie vor nicht für alle galt – und niemand sich darum zu scheren schien. [...] Sklaverei [...] bedeutet nicht nur, die Arbeit eines anderen zu stehlen – er wird seines gesamten Lebens beraubt. [...] Sie muss ein Ende nehmen."3
Es ist schwierig, aktuelle Statistiken über die offiziell illegale Sklavenhaltung zu erstellen. Die Zahlen reichen, abhängig von einer enger oder weiter gefassten Definition von Sklaverei, von 21 Millionen4 bis 45,8 Millionen Menschen5, die heute in einer Form von Sklaverei leben. Über die Hälfte der Betroffenen findet man in den Ländern Indien, China, Pakistan, Bangladesch und Usbekistan.6 Letzteres zählt zu den weltweit größten Baumwollproduzenten und zwingt jährlich große Teile seiner Bevölkerung – darunter rund zwei Millionen Kinder – zur zweimonatigen Erntearbeit.7 Dabei ist in Usbekistan wie in 173 weiteren Staaten das Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation über die Abschaffung der Zwangsarbeit (ILO Konvention 105) in Kraft.8 Es bestehen noch weitere internationale Abkommen Sklaverei und Zwangsarbeit betreffend. Die Mitgliedsstaaten verpflichten sich u. a. dazu, Zwangsarbeit zu beseitigen und in keiner Form zu verwenden.9
Dennoch gibt es heute "mehr Sklaven, als zur Zeit des transatlantischen Sklavenhandels in Afrika gefangengenommen und verschifft wurden."10 Meist arbeiten sie in der Landwirtschaft, aber auch in der Ziegelherstellung, in Bergwerken, Steinbrüchen, Stoff- und Teppichwebereien, Frauen besonders häufig auch als Prostituierte und Haushaltssklavinnen. Die viel zitierten niedrigeren Lohnkosten in Drittweltstaaten, aufgrund derer multinationale Gesellschaften dort produzieren lassen, sind beträchtlich mit Sklaverei verbunden,11 denn "bezahlte Arbeiter, gleichgültig, wie effizient sie arbeiten, können [...] nie und nimmer mit unbezahlten Arbeitskräften konkurrieren – mit Sklaven."12
Sklaverei ist untrennbar mit Armut und Gewalt verbunden. Am häufigsten kommt sie in Form von Schuldknechtschaft vor und ist besonders in Indien und Pakistan verbreitet. Stark zunehmend ist die sog. Vertragssklaverei, wobei Menschen mit Arbeitsverträgen geködert werden, jedoch, von Gewalt bedroht, als unbezahlte Sklaven enden. Dies ist oft in Südostasien, Brasilien, einigen arabischen Staaten und am indischen Subkontinent der Fall. Einen kleineren Teil der heutigen Sklaverei macht die Leibeigenschaft aus, die unserem traditionellen Bild von Sklaverei entspricht und die in einigen arabischen Ländern sowie in Nord- und Westafrika vorkommt, ganz besonders in Mauretanien.13
In der Islamischen Republik Mauretanien wurde die Sklaverei mehrmals offiziell abgeschafft, dennoch existiert sie auf eine heute weltweit einzigartige Weise, mit jahrhundertealter Tradition. Sie ist fest verankert in der stark hierarchisch geprägten mauretanischen Gesellschaft, die nahezu zur Gänze muslimisch ist.14 Rechtsgelehrte und Imame leugnen heute zwar ebenso wie die Regierung die Existenz der Sklaverei.15 Von Gesetzes wegen sind die Sklaven Mauretaniens tatsächlich nicht mehr Eigentum ihrer Herren, praktisch aber stehen ehemalige Sklaven vor dem Nichts.16 Man fragt sich, weshalb die internationale Gemeinschaft nicht mehr Druck auf die Regierung ausübt, die immer noch existierende Sklaverei auszumerzen. Doch Mauretanien ist ein wichtiger Partner im Kampf sowohl gegen den Islamismus als auch gegen die Immigration nach Europa, den man nicht vergraulen will. Mittels einer Fatwa aus Saudi Arabien kam indes unerwartet Unterstützung: Es wurde angeregt, sich um umgerechnet circa 2.000 Euro einen mauretanischen Sklaven zu kaufen, und durch die Freilassung desselben die Tilgung von Sünden zu erlangen.17
In der Tat wird die Freilassung von Sklaven im Koran häufig empfohlen, auch als Sühneleistung für verschiedene Vergehen.18 Ein Verbot der Sklaverei findet man im Koran ebenso wenig wie in der Bibel, allerdings beschränkt Sure 8:67 die Versklavung von Menschen auf Kriegsgefangene und Sure 47:4 ordnet eigentlich deren Freilassung nach Kriegsende an. Folglich zielt der Koran theoretisch auf eine Abschaffung von Sklaverei ab19 und der Prophet Muhammad selbst betonte, dass "das bedingungslose Befreien eines Menschen aus Knechtschaft in der Sicht Gottes zu den lobenswertesten Handlungen gehört, die ein Muslim ausführen kann."20 Wenn also, wie u. a. Muhammad Asad (gest. 1992) betont, "das Befreien von Menschen aus Knechtschaft – und somit die Abschaffung der Sklaverei – eines der sozialen Ziele des Islam" ist21, dann haben die Muslime im Lauf von 1400 Jahren dieses Ziel nicht umgesetzt bzw. die betreffenden Koranstellen offensichtlich nicht in diesem Sinne interpretiert.
Historisch gesehen war der Sklavenhandel fester Bestandteil der traditionellen islamischen Gesellschaft.22 Hinsichtlich Status von und Umgang mit Sklaven jedoch unterschied sich Sklaverei im muslimischen Kontext durchaus von jener in Amerika. "Sklaverei war ein vom islamischen Recht sanktionierter Status. Nach diesem Recht konnte ein frei geborener Muslim nicht versklavt werden. [...] Sie [die Sklaven, Anm. d. Verf.] besaßen nicht die vollen Rechte der Freien, aber die schariʿa gebot, sie gerecht und freundlich zu behandeln."23 Der Besitzer hatte für den Unterhalt seiner Sklaven zu sorgen. Al-Ghazālī (gest. 1111) etwa riet zur menschlichen Behandlung der Sklaven mit der Warnung, dass die Rollen auch wechseln könnten, womit er sich auf ein diesbezügliches Hadith bezog.24 Ein Ausspruch des Propheten Muhammad lautet: "Eure Sklaven sind eure Brüder! Allah hat euch die Oberhand über sie gegeben. Wer dann die Oberhand über seinen Bruder hat, der soll ihm etwas zu essen geben, von dem er selbst isst, und ihm als Kleidung geben, von der er sich selbst kleidet. Tragt ihnen nicht das auf, was über ihre Kraft hinaus geht; und wenn ihr ihnen etwas auftragt, das über ihre Kraft hinaus geht, so helft ihnen dabei!"25
In europäischen Reiseberichten des 19. Jahrhunderts wurde die gute Behandlung der Sklaven durch die Muslime gelobt.26 Doch darf bezweifelt werden, dass die arabischen Sklavenhändler, die das Niltal und die Swahiliwüste auf der Suche nach Sklaven plünderten und so zu Wohlstand gelangten,27 sich besonders um diese islamkonforme gute Behandlung kümmerten. Und es bleibt die Tatsache bestehen, dass die Sklaverei in islamischen Ländern erst seit Mitte des 19. Jahrhunderts abgeschafft wurde, "unter massivem europäischem Druck [...], wobei Europa selber sich erst kurz zuvor [...] dazu durchgerungen hatte, dieser für die Nutznießer so bequemen Institution ein Ende zu setzen."28
Jahrhundertelang wurden Sklaven in der muslimischen Welt für unterschiedliche Zwecke eingesetzt. Sie waren Diener, Palastwächter, Leibgarde,29 arbeiteten in Bergbau und Landwirtschaft sowie als Moschee- und Haremswächter. Mit der Ausbreitung des Islam wuchs der Bedarf an Sklaven für Handel und Armee, die man sich aus den Grenzgebieten in Mittelasien, den eurasischen Steppen, West- und Ostafrika, Indien, dem Kaukasus und Europa beschaffte, da die Versklavung von Muslimen nach islamischem Recht nicht erlaubt war. Teilweise konnten Sklaven mit besonderen Fähigkeiten zu einer privilegierten Stellung gelangen. Gebar eine Konkubine ihrem Besitzer einen Sohn, führte dies ebenfalls zur Verbesserung ihrer Stellung wie im Fall der Mütter der osmanischen Sultane.30 Ganz im Gegensatz zur jahrhundertelangen Praxis, eine unbegrenzte Zahl von Konkubinen zu haben, wobei ein großer Harem für Macht und Reichtum stand, betont Asad, dass "weder der Qur ̍an noch das Lebensbeispiel des Propheten irgendeine Legitimation für den Geschlechtsverkehr ohne Heirat"31 bieten und somit das Konkubinat verboten sei.32
Besonders bedeutsam war das Sklavenwesen in der Mamlukendynastie, die während 250 Jahren in Ägypten und teilweise Syrien herrschte. "Der Sklavenstand war Voraussetzung für die Thronbesteigung und die Teilhabe an der mamlukischen Macht. [...] Die Mamluken rekrutierten ihren Bedarf an Mannen aus immer neuen Sklaven, die [...] aus ihren Ursprungsländern Südrussland bzw. Kaukasus im Knabenalter nach Ägypten entführt und dort in den Kasernen und Offiziersschulen der Mamluken erzogen wurden. [...] Das System erinnert an die sogenannte Devsirme, die zwangsweise Aushebung christlicher Knaben im osmanischen Hoheitsgebiet und deren Erziehung zur Elitetruppe der Hohen Pforte, den sogenannten Janitscharen [...]."33 Diese sogenannte "Knabenlese" wurde bis zum 17. Jahrhundert praktiziert. Das Osmanische Reich schaffte 1857 die Sklaverei offiziell ab, wobei der Hedschas ausgenommen war und sich so der Sklavenhandel weiterhin über Arabien und Libyen bis in die Türkei und Persien halten konnte.34
In der Praxis war Sklaverei also von Beginn an immer mit der islamischen Welt verbunden, auch wenn man erstaunt feststellt, dass sie nach dem Koran eigentlich beschränkt wird mit dem langfristigen Ziel der Abschaffung. Wie so oft scheint auch die Frage der Legitimität von Sklaverei eine Frage der Auslegung zu sein. Muslime waren sowohl Opfer – so waren etwa fünfzehn Prozent der in den amerikanischen Südstaaten versklavten Westafrikaner Muslime – als auch Täter.35
Dasselbe gilt für die Gegenwart. Nach Schätzungen der International Labour Organization (ILO) leben im Mittleren Osten ca. 600.000 Menschen als "Arbeitssklaven" in Haushalten und auf Baustellen. In manchen Golfstaaten wie Kuwait und Katar machen sie fast 70 Prozent der Bevölkerung aus.36 Häufig sind diese Menschen aufgrund der Visabedingungen für ArbeitsmigrantInnen von ihren Arbeitgebern völlig abhängig, sowohl rechtlich als auch hinsichtlich Ernährung und medizinischer Versorgung. Doch die Ausbeutung von Hausangestellten findet ebenso in Europa statt, wie ein 2011 veröffentlichter Bericht über Hausangestellte in Diplomatenhaushalten des Deutschen Instituts für Menschenrechte zeigt.37
Der 23. August wurde von der UNESCO zum Internationalen Tag der Erinnerung an Sklavenhandel und dessen Abschaffung erklärt. Er dient auch dazu, auf die Millionen von Menschen aufmerksam zu machen, die heute in neuen Formen der Sklaverei leben.38 Dazu zählen Zwangsarbeit und Schuldknechtschaft ebenso wie Menschenhandel, sexuelle Ausbeutung und schwere Fälle von Kinderarbeit.39 "Sklavenhaltung ist also kein auf die Vergangenheit beschränktes Grauen, das wir aus sicherer Ferne betrachten können; es gibt sie nach wie vor auf der ganzen Welt, selbst in hochentwickelten Ländern wie Frankreich und den Vereinigten Staaten."40