„So gebt euch schöne Namen.“ Namen und Namensgebung im Islam
Einst war die Namensgebung Neugeborener generell stark von traditionellen (religiösen) Vorgaben1 dominiert. Heute bestimmen hauptsächlich die elterlichen Assoziationen mit dem jeweiligen Namen und damit verbundene Wünsche und Hoffnungen für ihr Kind die Namenswahl.2 Oft fällt die Entscheidung dabei zugunsten besonders ausgefallener Namen - vielleicht ein symptomatisches Merkmal unserer individualistischen Gesellschaft. Zu einer Erweiterung der Namensvielfalt trägt darüber hinaus auch die Zuwanderung bei.3 Auf das besondere Interesse am Thema Namen deutet die Vielzahl von Namensbüchern hin, die regelmäßig erscheinen und über Bedeutung und Herkunft sowohl alter als auch neuer Namen Auskunft geben.4 An der Namensgebung sind jeweils aktuelle Trends in einer Gesellschaft erkennbar, ebenso spiegelt sie politische und religiöse Strömungen. Daher bietet die Auseinandersetzung mit den Namen aufschlussreiche Informationen.5
Auf die islamische Welt bezogen stellt die Erkundung der Namensgebung allerdings ein "niemals endendes Unterfangen"6 dar angesichts der enormen Fülle an arabischen Wörtern, die im Lauf der Zeit als Eigennamen verwendet wurden. Ähnlich verhält es sich im persischen, türkischen und islamisch-indischen Kontext. Ausgehend von bestimmten erkennbaren Mustern lassen sich jedoch gewisse islamische Namenstypen charakterisieren.7 Erschwert wird die Beschäftigung mit der Namensgebung im Islam durch die übliche "scheinbar endlose Kette von Namen"8 einer einzigen Person. Hinzu kommt die Schwierigkeit bzgl. der Umschrift arabischer Namen, die im Persischen, Türkischen und in den indischen Sprachen jeweils unterschiedlich erfolgt und in der europäischen Fachliteratur etwa der englischen oder französischen Aussprache angepasst wird. Auch können manche arabische Laute von Nichtarabern nicht korrekt ausgesprochen werden.9 All dies kann zu Kuriositäten führen, wofür die Orientalistin Annemarie Schimmel (gest. 2003) folgendes Beispiel anführt:
"(...) und man fragt sich, warum ein hübsches Mädchen Samīna, "die Fette" genannt wird, bis man erkennt, daß nur die Transkription der indischen Aussprache von thamīna, "die Kostbare", zu diesem Mißgeschick geführt hat."10
Die Namensgebung Neugeborener ist wie in allen Kulturen und Religionen auch im Islam mit gewissen Ritualen verbunden. Der siebte Tag nach der Geburt eines Kindes - wobei auch der 14., der 21. oder ein anderer Tag möglich sind - ist der Tradition entsprechend der Tag der sogenannten ʿaqīqah. An diesem Tag erfolgt der erste Haarschnitt des Babys, woraufhin das Gewicht des Haares in Silber aufgewogen und als Almosen gespendet wird. Außerdem wird ein Opfertier geschlachtet, meist ein Schaf oder eine Ziege, dessen Fleisch teilweise verteilt wird. An diesem Tag erhält das Kind offiziell seinen Namen.11
Die Wahl eines passenden Namens durch die Eltern beruht teilweise bis heute auf der Beratung mit Familienangehörigen oder besonders angesehenen Personen, etwa einem Imam, und in sufistischen Kreisen wählt der Scheich einen Namen für das Neugeborene aus. Manchen türkischen und indischen Traditionen zufolge gebührt das Recht der Namensgebung der Familie des Kindsvaters bzw. der Tante väterlicherseits.12 Der Prophet Muhammad forderte die Gläubigen auf, schöne Namen auszuwählen, wie etwa in diesem Hadith: "Der Prophet sagte: Am Tag der Auferstehung werdet ihr bei euren Namen und den Namen eurer Väter gerufen werden. So gebt euch schöne Namen." (Abū Dāwūd)13 Die Namen des Propheten Muhammad (sowie aus derselben Wortwurzel gebildete Namen wie Aḥmad oder Maḥmūd14) in verschiedenen Schreibweisen und jene seiner Familienangehörigen wurden und werden bis heute überaus häufig gewählt. Muḥammad Iqbāl (gest. 1938) schreibt, dass "die Liebe zum Propheten wie Blut in den Adern seiner Gemeinde fließt."15 Besonders im östlichen islamischen Kulturkreis entstanden Namen wie Muḥammad-yār ("Freund Muhammads") und Muḥibb an-nabī ("Der den Propheten liebt") oder Iqrār an-nabī ("Bestätigung des Propheten").16 Auch auf die Namen der Prophetengefährten und der ersten Kalifen Abū Bakr, Omar (ʿUmar) und Osman (ʿUṯmān) trifft man häufig, wobei Schiiten zumindest seit dem neunten Jahrhundert die ersten drei Kalifen, aus schiitischer Sicht Usurpatoren, ebenso als Namensvorbilder ablehnen wie Aischa (ʿĀʾišah), die Prophetengattin und Tochter Abū Bakrs. Unter Schiiten sind dafür Fatima (Fāṭimah), Ali (ʿĀlī) und Ḥusain besonders beliebt. All diesen Namen schreibt man aufgrund ihrer Verbindung mit dem Propheten besondere Segenskraft zu, die sich auf das derart benannte Kind übertragen soll.17 Mit den Namen ist einerseits eine Vorbildfunktion durch die ursprünglichen Namensträger verknüpft, doch darüber hinaus scheint ihnen eine "sakrale Macht"18 innezuwohnen, worauf der Prophet selbst hingewiesen haben soll mit den Worten:
"Wer immer sein Kind mit meinem Namen nennt oder eines meiner Kinder oder Gefährten, aus Liebe zu mir oder zu ihnen, dem wird Gott im Paradies geben, was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat"19
Allerdings handelt es sich hier nicht um "Heiligennamen im christlichen Sinn"20, die mit der Hoffnung auf Fürsprache bei Gott durch den Namenspatron verbunden sind.21 Im orthodoxen Islam gilt Heiligenverehrung als verboten, obwohl in islamischen Gesellschaften teilweise durchaus "Parallelen zu christlichen Formen, bis hin zur Vorstellung der Fürsprache bei Allah"22 zu beobachten sind.
Es wird auch eine Empfehlung Muhammads zugunsten der Namen der Propheten sowie der Namen ʿAbdullāh und ʿAbdurraḥmān überliefert, da diese von Gott am meisten geliebt würden.23 Nach deren Muster werden viele weitere (sogenannte theophore24) Namen aus der Zusammensetzung von ʿabd ("Sklave") und einem der sogenannten 99 "schönsten Namen Gottes" gebildet, besonders jenen, die sich auf Milde, Großmut und Vergebung Gottes beziehen, wie ʿAbdulkarīm ("Sklave des Großzügigen") oder ʿAbdullaṭīf ("Sklave des Gütigen").25 Frauennamen setzen sich analog dazu aus amat ("Dienerin", "Sklavin") in Verbindung mit einem der Gottesnamen zusammen, dies kommt aber weitaus seltener vor.26
Aufgrund der besonders häufigen Verwendung von theophoren Namen sowie der Namen des Propheten Muhammad und vorislamischer Propheten wie Ibrahim, Ismael (Ismāʿīl), Mūsā, Yaḥyā und Isa (ʿĪsā) kann man "im Islam genauso wie im Judentum und im Christentum das Phänomen des Namensschwunds beobachten."27 Das dadurch entstehende Differenzierungsbedürfnis bei Personen gleichen Namens trägt zur Bedeutung von ergänzenden Namensformen bei, wobei das Namenssystem im islamischen Kontext "im interkulturellen Vergleich als besonders komplex" erscheint.28
Neben dem eigentlichen persönlichen Namen (ʼism) ist der sogenannte Vatername (nasab) der zweite wichtige Namensteil, was auch in religiöser Hinsicht gilt (vgl. den oben zitierten Ausspruch Muhammads bezüglich des Auferstehungstages).29 Der nasab zeigt die Abstammungskette mithilfe des Vaternamens an und wird mit ibn- bzw. bin- ("Sohn") bzw. bei Mädchen mit ibnat- bzw. bint- ("Tochter") gebildet. Der nasab kann auch auf den Beruf des Vaters verweisen, wie bei Ibn-az-Zaiyāt ("Sohn des Ölhändlers").30
Ein weiterer Namensbestandteil ist die kunyah, die sich auf die Elternschaft des Namensträgers bezieht. Sie wird mit abū- ("Vater von") bzw. umm- ("Mutter von") gebildet. Die kunyah wird oft anstelle des persönlichen Namens benutzt, wie etwa bei Abū Bakr, und war ursprünglich ein Ehrenname mit Bezug auf den Erstgeborenen. Aber auch Kinderlose erhielten oft eine kunyah, verbunden mit dem Wunsch nach baldigem Kindersegen. Sie konnte aber auch auf Gewohnheiten, Vorlieben oder körperliche Merkmale hinweisen, wie beispielsweise Abū-'l-Atāhiyah ("Vater der Verrücktheit").31
Die nisbah spiegelt hingegen Orts- oder Stammeszugehörigkeit eines Menschen, wobei mehrere Angaben möglich sind. Schließlich ist noch der laqab, ein Ehren- bzw. Spitzname, Bestandteil der langen Namenskette, der auch Schmähungen beinhalten kann. Häufig wird dabei auf körperliche oder charakterliche Eigenschaften Bezug genommen, wie bei Šams-ad-Dīn ("Sonne des Glaubens") oder al-Ǧāḥiẓ ("der Glotzäugige").32 Die heutzutage üblichen, innerhalb einer Familie weitervererbten Zunamen, wurden in der islamischen Welt erst ab dem 19. Jahrhundert per Gesetz eingeführt, so etwa in Algerien 1882, in Ägypten erst 1970.33 In der Türkei sind seit 1934 Familiennamen nach europäischem Vorbild verpflichtend, was "zu einem vollkommenen Bruch in den Mustern der Namengebung"34 geführt hat, insbesondere, weil nur sechs Jahre zuvor die arabische Schrift durch die lateinische ersetzt worden war.
"Nach Schätzungen sind etwa 75% der neuen Namen nach persönlichen Neigungen und Vorlieben gebildet worden, so daß die Familienzusammengehörigkeit nicht mehr erkennbar war und auch Geschwister durchaus nicht immer den gleichen Familiennamen annahmen. (...) Der erste, der einen dieser neuen Familiennamen erhielt, war Atatürk, was "Vater der Türken" bedeuten sollte."35
Die Familiennamen, die die Menschen damals gewählt haben, zeugen von Phantasie und oftmals uralten Idealen. Alttürkische Helden wie Oğuz Khan und seine Söhne fanden ebenso Eingang in die neuen Namen wie die großen, historisch bedeutsamen Ströme Tuna ("Donau") und Idil ("Wolga") oder Raubtiere wie Arslan ("Löwe") und Kaplan ("Tiger"). Berufsbezeichnungen, einst als Beinamen verwendet, überlebten in den türkischen Familiennamen Demirci ("Schmied") oder Mumcu ("Kerzenmacher"), doch erfand man auch einfach neue Namen passend zur eigenen beruflichen Tätigkeit.36 Annemarie Schimmel berichtet von einem auf Knochenbrüche spezialisierten Arzt namens Dr. Demirağ ("Eisennetz") und einem Hals-, Nasen- und Ohrenarzt namens Dr. Boğazgören ("der die Kehle sieht").37 Ihr Band Herr "Demirci" heißt einfach "Schmidt". Türkische Namen und ihre Bedeutung (Köln 1992) bietet eine "vergnügliche Analyse türkischer Personennamen"38 und ist nicht nur für jeden Standesbeamten empfehlenswert, der "vor fremden Namen als bloßen Lautungetümen kapitulieren muß."39