Sufismus: Das andere Gesicht des Islam
Einführung
Wie viele Religionen besitzt auch der Islam eine sehr reiche mystische Tradition. Die Auseinandersetzung mit der islamischen Mystik im heutigen Kontext gewinnt an besonderer Bedeutung, wenn man bedenkt, dass die spirituelle Dimension des Islams durch die aktuellen Ereignisse sehr in den Hintergrund getreten ist. Doch genau diese Formalisierung und Verengung des Islams war der Grund für die Entstehung der islamischen Mystik. Zunächst manifestierte sich dieser Widerstand in dem sogenannten Weltverzicht (zuhd), der sich mit der Zeit in den Sufismus umwandelte.
Der Sufismus, auch Sufik1 (arab. taṣawwuf) genannt, bezeichnet die mystische Dimension des Islam mit ihren unterschiedlichen Facetten. Der Sufismus ist eine religiöse Strömung der Hingabe und Ergriffenheit.2
Über den Ursprung des Begriffes ṣūfī sind sich die Gelehrten nicht einig.3 Die Mehrheit leitet das Wort von ṣūf (dt. Wolle) ab, was für das Wollgewand der Asketen steht.4 Die Sufis selbst werden auch Derwische (pers. darwīš) oder Fakire (arab. faqīr) genannt, was übersetzt "Armer" heißt.5
Sufismus bedeutet, aktiv einem spirituellen Weg zu folgen, der auf dem Koran und der Sunna basiert.6 Dabei begeben sich die Sufis auf eine Reise hin zu Gott und folgen damit dem Vorbild des Propheten, der auf seiner nächtlichen Himmelsreise zu Gott gelangte.7 Der Weg, auf den sich der Suchende begibt, wird Pfad (ṭarīqa) genannt und führt ihn durch mehrere Stationen (maqāmāt), bis er am Ende sein letztes Ziel erreicht.
Das Göttliche wird oft als Meer symbolisiert, in dem das individuelle Selbst aufgeht wie ein Tropfen.8 Dabei gibt es keinen feststehenden Weg, da mystische Erfahrungen als Gottes Gnade angesehen werden. Es gibt aber verschiedene Stufen des Aufstieges, die unterschiedlich kombiniert werden können. Dazu gehören die Reue, das Abwenden von der Welt und den Begierden; das Gottvertrauen, die Hingabe an Gott; die Armut, Freiheit vom Streben nach Besitz; die Geduld, Glück und Unglück annehmen; die Dankbarkeit; die Zufriedenheit; die Furcht vor Gott und die Hoffnung auf Gnade; die Erkenntnis; die Liebe, die Vernichtung des Liebenden in Gott; das Entwerden, die Vernichtung des Ich und das Bleiben in Gott.9 Auf dieser Reise ist ein spiritueller Führer (muršid, pīr oder šaiḫ genannt) von essentieller Bedeutung. Er ist den Weg schon gegangen und kann so den Schüler (murīd) begleiten und anleiten.10
Das Wissen der Sufis beruht auf Erfahrung, was bedeutet, dass es nur bedingt über Bücher weitergegeben werden kann. Der Schüler braucht ein Vorbild, einen Lehrer, der ihn auf dem Sufi-Pfad begleitet und anleitet.11 Die Funktion des Lehrers ist es, den Geist des Schülers zu öffnen. Ein Sufi-Meister vermittelt mehr als reines Wissen, mehr als eine Methode des Denkens oder die Möglichkeit der Selbstverwirklichung.12
"Hör auf mit all dieser Gerissenheit und all diesem Planen, denn die Liebe verschließt das Tor des Göttlichen vor den Herzen derjenigen, die sich nicht vollständig auf dem Pfad der Hingabe verlieren." (Hafiz)13
Neben der ausgedehnten Koranlektüre und den allgemeingültigen Pflichten des Muslims/der Muslimin spielen im Sufismus vor allem die verschiedenen Formen der Anbetung eine große Rolle.14 Eine der zentralen Praktiken ist der Dhikr (ḏikr), wörtlich übersetzt das Erinnern oder Eingedenken (Gottes). Dabei wird eine Formel rhythmisch wiederholt. Als Formel wird der göttliche Name Allah, einzelne der 99 Gottesnamen, die erste Hälfte der šahāda oder ein Ausruf wie Allahu Akbar verwendet. Diese wird dann bis zu tausende Male wiederholt. Der Dhikr kann individuell oder in der Gruppe, laut oder leise und mit oder ohne Instrumentalbegleitung durchgeführt werden. Auch Tanz kann zum Dhikr gehören, wie bei den "Tanzenden Derwischen" des Mevleviyya-Ordens, der auf Rumi zurückreicht.15 Bei verschiedenen Sufi-Orden spielt die Musik eine große Rolle, besonders ausgeprägt im indo-pakistanischen Raum in Form des Qawwali, einer Musikform, die bis ins Jahr 1300 zurückgeht.16 Der Sufismus inspirierte auch großartige literarische, vor allem poetische Werke auf Arabisch, Persisch, Türkisch und verschiedenen südasiatischen Sprachen.
Die Anfänge des Sufismus finden wir im 8. und 9. Jahrhundert in Khorassan, dem heutigen Nordostiran, sowie in Teilen Afghanistans und Mittelasiens. Aus diesen Regionen kamen zahlreiche bedeutende Mystiker, die den ganzen islamischen Orient stark beeinflussten.17 An dieser Stelle sollen nur ein paar der bekanntesten Sufis genannt werden, wie Abū Saʿīd al-Ḥasan ibn Abi l-Ḥasan al-Baṣrī (643-728), Rābiʿa al-ʿAdawiyya al-Qaysiyya (713-801), Al-Muḥāsibī (751-857), Abū Yazīd Ṭaifūr ibn ʿĪsā al-Bisṭāmī (9. Jahrhundert), Abū l-Muġīṯ al-Ḥusain ibn Manṣūr al-Ḥallāǧ (hingerichtet 922), Abū Ḥāmid Muḥammad b. Muḥammad al-Ġazzālī (1058-1111) und Muḥyī d-Dīn Abū ʿAbd Allāh Muḥammad ibn ʿAlī Ibn ʿArabī al-Ḥātimī aṭ-Ṭāʾī (1165-1240).
Die islamische Mystik entwickelte sich in verschiedenen Phasen. Die erste kann als Phase der Askese bezeichnet werden. In dieser Frühzeit des Islams, im 8. und 9. Jahrhundert, konzentrierten sich die Mystiker als Gegenbewegung zum steigenden Reichtum und der zunehmenden Diesseitsbezogenheit, die mit der Ausdehnung des Reiches einhergingen, auf die Askese, das Gebet und die Ethik.18
Die zweite Phase, zwischen dem 9. und 13. Jahrhundert, wird als klassische Phase bezeichnet. In dieser Zeit trat der Begriff Sufi in Erscheinung und die islamische Mystik etablierte sich. Verschiedenste Werke zu den theoretischen Grundlagen der Mystik wurden verfasst.19 Die dritte Phase beginnt im 12. Jahrhundert und ist die Gründungsphase der Orden, die zum Teil heute noch von großer Bedeutung sind.20