Toleranz und das Verhältnis zu anderen Religionen in der islamischen Mystik

Artikel 04.08.2016 Redaktionsteam

Der vorliegende Artikel beschäftigt sich mit dem Thema der religiösen Toleranz in der islamischen Mystik. Das im Sufismus, aber auch im Buddhismus zentrale Gleichnis von den Blinden und dem Elefanten wird besprochen sowie weitere Texte von Rumi und Ibn Arabi.


Einführung

Die aktuellen politischen Ereignisse, aber auch die Schwierigkeiten, die sich im Zusammenleben von Menschen verschiedener Religionen und Herkunft ergeben, führen dazu, dass eine Polarisierung zwischen den Religionen gefördert wird. In Vielfalt zusammenzuleben, ist anstrengend und spannungsreich und erfordert ein grundsätzliches Wohlwollen. Es ist wichtig, die Anderen und ihre Anliegen ernst zu nehmen und zu respektieren, mehr Sensibilität und Verständnis für die unterschiedlichen Bedürfnisse entgegenzubringen, das Wissen übereinander zu vergrößern sowie Bereitschaft und Geduld, sich auf den langwierigen Prozess der Verständigung einzulassen.1

Der Sufismus repräsentiert in besonderer Weise die Ideale der Toleranz und des Humanismus im Islam. Die für Sufis zentrale Gottes- und Menschenliebe, aber auch die Wertschätzung der mystischen Erfahrungen anderer Religionen führten zu einer toleranten Haltung Nicht-MuslimInnen gegenüber.2

Als der bekannte persische Dichter und Sufi Rumi (Ǧalāl ad-Dīn Muḥammad ar-Rūmī), der für seine religiöse Toleranz bekannt war, 1273 n. Chr. in Konya verstarb, kamen zu seinem Begräbnis auch unzählige ChristInnen, da sie ihn als Mystiker schätzten. Über seinem Mausoleum ist eine Inschrift angebracht, die als Vermächtnis seiner religiösen und philosophischen Weltoffenheit verstanden werden kann:3

"Komm nur, komm, wer oder was du auch seist, komm! Ob gottlos, ob Heide, ob Parse, wer du auch seist, komm! Bei uns lebt die Hoffnung und niemals Verzweiflung, warst du auch rückfällig, und sei's hundertmal, komm nur, komm!"4

Rumi ist aufgrund seiner Aufgeschlossenheit anderen Religionen gegenüber auch 800 Jahre später für viele Menschen verschiedener Religionen, die auf der Suche nach Spiritualität und einem alternativen Religionsverständnis sind, noch von zentraler Bedeutung.5

Rumis mystische Religiosität fügt sich nicht in den orthodoxen Islam ein, wenn er in seinem Gedichtband Großer Diwan schreibt:

"Was soll ich tun, o ihr Muslims? Ich kenne mich selber nicht: Ich bin weder Christ noch Jude, auch Parse und Muslim nicht; Vom Osten nicht, noch vom Westen, vom Festland nicht, noch vom Meer, Nicht stamm ich vom Schoß der Erde und nicht aus des Himmels Licht."6

Rumi bildet mit seiner Metaphorik aber keine Ausnahme unter den Sufis, sondern entwickelt ältere Traditionen weiter.

Von Ibn Arabi (Muḥyī d-Dīn Abū ʿAbd Allāh Muḥammad ibn ʿAlī Ibn ʿArabī al-Ḥātimī aṭ-Ṭāʾī), einem Zeitgenossen Rumis, welcher 1240 n. Chr. in Damaskus verstorben ist, stammt das vielzitierte Gedicht:7

"Mein Herz ist offen für jede Form: Es ist eine Weide für Gazellen, ein Kloster für christliche Mönche, ein Götzentempel, die Kaaba des Pilgers, die Tafeln der Thora und das Buch des Koran. Ich übe die Religion der Liebe. In welche Richtung immer die Karawane zieht, die Religion der Liebe wird meine Religion und mein Glaube sein."8

Idries Shah (gest. 1996 in London), der die Lehren der islamischen Mystik im Westen bekannt machte, interpretiert die Metapher "die Religion der Liebe" in diesem Gedicht als Sufismus. Ihm zufolge geht es Ibn Arabi um die innere Wahrheit, wenn er zwar jeden Formalismus akzeptiert, aber gleichzeitig betont, dass es darüber hinaus noch eine andere Wahrheit gibt.9 Was ein Sufi in der Meditation beziehungsweise auf seiner Reise zu Gott erfährt, übersteigt die Glaubensformen aller Religionen und lässt die herkömmlichen Grenzen der Religionen hinter sich.10

Dies bedeutet aber nicht, dass sich diese Sufis nicht an die islamischen Normen gehalten haben. So ist von Rumi überliefert, dass er nach dem vorgeschriebenen Ritus betete, sich an das Fastengebot im Ramadan hielt und als Gelehrter den religiösen Pflichten nachgekommen ist. Ähnliches ist uns auch über Ibn Arabi überliefert.11 Allerdings war es für diese Mystiker wichtig, dass das Äußere der Religion im Hintergrund bleibt und das Wesentliche, nämlich das Innere bzw. Spirituelle, in den Vordergrund tritt. Sie waren stets bemüht, die Formalisierung des Glaubens zu verhindern.

Im dritten Buch seines großen Gedichtbandes Mathnawī macht uns Rumi mit dem Gleichnis von einem Elefanten in einem dunklen Raum bekannt. Diese Parabel zählt zu den am häufigsten zitierten Texten Rumis. Darin wird ein aus Indien in ein islamisches Land gebrachter Elefant in einen dunklen Raum gestellt, wo ihn Menschen, die noch nie ein solches Tier gesehen haben, abtasten können. Da die Menschen jeweils nur einen kleinen Teil des Elefanten erreichen können, gewinnen sie sehr unterschiedliche Vorstellungen über sein Aussehen und seine Beschaffenheit. Rumi dürfte das Gleichnis von dem bekannten Mystiker und Hofdichter Sanai (Hakim Abul-Majd Majdūd ibn Ādam Sanā'ī Ghaznavi), der eineinhalb Jahrhunderte vor ihm in Ghazna, dem heutigen Afghanistan gelebt hat, übernommen und neu interpretiert haben.12 In Sanais Epos Ḥadīqat al-ḥaqīqat (Der Garten der Wahrheit) finden wir einige Lehrerzählungen, die bis heute von großer Bedeutung sind für den Sufismus, aber auch darüber hinaus. Darunter ist auch die Geschichte von den Blinden und dem Elefanten.13

"[...] und jeder, der ein Glied von ihm berührte, erfuhr nur das, was seine Hand verspürte, und jeder machte sich ein falsches Bild und band sein Herz an Phantasiegebild! Als sie zur Stadt zurückgekehrt im Lauf, da führten sie sich gar großmäulig auf, da alle nach der Form des Tieres fragten, und lauschten gut auf das, was jene sagten. Der eine griff des Elefanten Ohr und redete dem, der ihn fragte vor: 'Welch eine Form das Riesen-Untier hatte - ganz breit und schwer und weit, wie eine Matte!' Und der den Rüssel griff mit seiner Hand, sprach: 'Dieses ward mir ganz genau bekannt: Er ist so lang wie eine Regenrinnen, ganz fürchterlich, und auch ganz hohl von innen!' Und wer berührte von dem Elefanten mit seiner Hand die Füße des Giganten, der sprach: 'So stark und fest in seine Form wie einer kegelförm'gen Säule Norm!' Denn jeder hatte nur ein Teil berührt - so waren in die Irre sie geführt, befangen in unnützer Phantasie, im Sack gefang'ne Idioten sie! Denn den Geschöpfen ist Gott nicht bekannt - zu Ihm hat keine Wege der Verstand!"14

Dieses Gleichnis finden wir auch im Pali-Kanon, der klassischen Schriftsammlung des älteren Buddhismus, entstanden circa 1400 Jahre vor dem Wirken Rumis. Dort trägt es den Titel Die Blindgeborenen und weicht kaum von Rumis Version ab. Buddha erzählt seinen Schülern diese Parabel, als sie von heftigen Streitereien mehrerer Religionsgelehrter verunsichert waren.

Kritisiert werden in der Erzählung jene Theologen, Philosophen und religiösen Denker, die ihre begrenzte Sicht nicht als begrenzt erkennen können und andere Religionen und Weltanschauungen abwerten. Bemerkenswert ist es auf alle Fälle, dass sich Sanai und Rumi von einem buddhistischen Gleichnis derart angesprochen fühlten, dass sie es aufnahmen und neu interpretierten und es seither im Sufismus eine zentrale Rolle spielt. Bezeichnend ist es auch, dass das Gleichnis von Sufis tradiert worden ist und nicht von Anhängern der islamischen Orthodoxie.15

Bei der Erzählung von den Blinden und dem Elefanten handelt es sich wohl um eines der schönsten und bekanntesten Gleichnisse dafür, dass die Menschen das Göttliche niemals in seiner Gesamtheit begreifen können, sondern immer nur einen kleinen Ausschnitt. Die Erkenntnis der eigenen Unwissenheit soll den Gläubigen zur Bescheidenheit und zur Akzeptanz von unterschiedlichen Wahrheiten verhelfen und somit eine respektvolle Begegnung mit dem Anderen ermöglichen.

1 Vgl. Verein Interreligiöser Think-Tank: Leitfaden für den Interreligiösen Dialog, Basel: Interreligiöser Think-Tank 2014, S. 6.

2 Vgl. Jürgen W. Frembgen: Reise zu Gott. Sufis und Derwische im Islam (= Beck'sche Reihe, Band 1380), München: Beck 2000, S. 15.

3 Vgl. Gerhard Schweizer: "Mein Herz ist offen für jede Form". Eine Reise in die Mystik der Sufis und Derwische (= Herder-Spektrum, Band 6660), Freiburg im Breisgau: Herder 2014, S. 44-45.

4 Ebd. S. 44-45.

5 Vgl. ebd. S. 45.

6 Maulana Dschelaladdin Rumi: Aus dem Diwan. Aus dem Persischen übertragen und eingeleitet von Annemarie Schimmel (= Unesco-Sammlung repräsentativer Werke: Asiatische Reihe. Universal-Bibliothek, Nr. 8911), Stuttgart: Philipp Reclam jun. 1964, S. 61.

7 Vgl. G. Schweizer, S. 46-47.

8 Ebd., S. 47.

9 Idries Shah: Die Sufis. Botschaft der Derwische, Weisheit der Magier (= Diederichs gelbe Reihe), Kreuzlingen, München: Hugendubel 2006, S. 132-133.

10 Vgl. G. Schweizer, S. 48.

11 Vgl. ebd. S. 54.

12 Vgl. ebd. S. 63.

13 Vgl. Annemarie Schimmel: Sufismus. Eine Einführung in die islamische Mystik (= C. H. Beck Wissen in der Beck'schen Reihe, Band 2129), München: Verlag C.H.Beck 2000, S. 52

14 Ebd. S. 52-53.

15 Vgl. G. Schweizer, S. 66-67.

Frembgen, Jürgen W.: Reise zu Gott. Sufis und Derwische im Islam (= Beck'sche Reihe, Band 1380), München: Beck 2000.

Maulana Dschelaladdin Rumi: Aus dem Diwan. Aus dem Persischen übertragen und eingeleitet von Annemarie Schimmel (= Unesco-Sammlung repräsentativer Werke: Asiatische Reihe. Universal-Bibliothek, Nr. 8911), Stuttgart: Philipp Reclam jun. 1964.

Pir-o-Murshid Hazrat, Inayat K.: Ein Sufi-Brevier, Heilbronn: Verlag Heilbronn 1991.

Schimmel, Annemarie: Sufismus. Eine Einführung in die islamische Mystik (= C.H. Beck Wissen in der Beck'schen Reihe, Band 2129), München: Verlag C.H.Beck 2000.

Schweizer, Gerhard: "Mein Herz ist offen für jede Form". Eine Reise in die Mystik der Sufis und Derwische (= Herder-Spektrum, Band 6660), Freiburg im Breisgau: Herder 2014.

Shah, Idries: Die Sufis. Botschaft der Derwische, Weisheit der Magier (= Diederichs gelbe Reihe), Kreuzlingen, München: Hugendubel 2006.

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