Vom Händedruck zur Integrationsdebatte
Im Zusammenleben von MuslimInnen und NichtmuslimInnen gibt es wahrhaftig viele Möglichkeiten zur Entstehung von Missverständnissen. Eine davon betrifft die adäquate Form, in der Menschen – insbesondere Frauen und Männer – einander begrüßen sollten.
In Österreich ist der Händedruck als Begrüßungsgeste kulturell tief verwurzelt.1 Es ist nicht allzu lange her, dass Kinder von ihren Eltern aufgefordert wurden, "schön die Hand zu geben", wann immer man Bekannte traf. Ein Kind, das allzu voreilig einem Erwachsenen die Hand hinstreckte, galt jedoch als unhöflich, ebenso wie ein Mann dies gegenüber einer Dame nicht zu tun hatte. Diese Feinheiten haben sich inzwischen etwas relativiert. Und in der Welt des Business gebührt allein dem Ranghöheren, egal welchen Geschlechts, das Recht, einen Händedruck zu initiieren.2
In einer Vielzahl wissenschaftlicher Untersuchungen haben sich ForscherInnen bereits mit der Wirkung dieser zwischenmenschlichen Geste befasst, die sich angeblich im Griechenland des fünften vorchristlichen Jahrhunderts als Beweis der friedlichen Absicht etablierte (man kam ganz offensichtlich ohne Waffe in der Hand), und zu einem Begrüßungsritual entwickelte, das Vertrauen und Respekt signalisiert. Der gegenseitige Händedruck aktiviert den WissenschaftlerInnen zufolge bestimmte Hirnregionen und begünstigt beispielsweise faires Verhalten in Geschäftsverhandlungen. Will man einen guten ersten Eindruck hinterlassen, der bekanntlich besonders zählt, vor allem auch in der Arbeitswelt, gilt es beim Händedruck gewisse Regeln einzuhalten. Er soll kurz und kräftig sein, keinesfalls schlaff. Die Hände werden dabei nicht geschüttelt. Man begleitet den Händedruck mit einem freundlichen Lächeln sowie einem verbalen Gruß. Wichtig ist auch der Augenkontakt.3 Am Gegenüber vorbeizusehen, wird als unhöflich interpretiert, im schlechteren Fall gar als verschlagen oder schuldbewusst.4
Der soeben beschriebene Händedruck ist im westlichen Kulturkreis als Begrüßungsform etabliert, bekanntlich herrschen in anderen Ländern jedoch andere Sitten. In Japan und China beispielsweise verbeugt man sich voreinander und in muslimischen Ländern geben sich üblicherweise nur Personen desselben Geschlechts die Hand.5 Eine körperliche Berührung zwischen Männern und Frauen, die nicht verheiratet oder eng miteinander verwandt sind, ist unter MuslimInnen eher unüblich. Dies wird unter anderem auf das Beispiel des Propheten Muhammad zurückgeführt, der etwa bei der Abnahme des Treueeides den Männern, nicht aber den Frauen die Hand gereicht haben soll. Deren Eid nahm er ohne Körperkontakt entgegen.6 Auch wird überliefert, dass der Prophet "nie eine Frau berührte, mit der er nicht verheiratet war."7 Allerdings kann sprachlich gesehen "berühren" auch eine Umschreibung für sexuellen Verkehr sein und würde somit ein Händedruckverbot nicht begründen. Generell jedoch weichen Männer und Frauen in der muslimischen Welt wie oben erwähnt mehr oder weniger strikt jeder körperlichen Berührung aus, es gilt "jede Art von Versuchung zwischen Mann und Frau" zu vermeiden, so eine Erklärung von Gelehrten.8
Hier sind wir an dem Punkt angelangt, an dem unterschiedliche Vorstellungen von Höflichkeit und Respekt aufeinanderprallen. Was in Österreich als alltägliche, auch zwischen Männern und Frauen völlig harmlose Höflichkeitsbezeugung gilt, deren Verweigerung als Affront empfunden wird, bedeutet aus muslimischer Sicht ein Zu-nahe-Treten. Auch der direkte Augenkontakt kann als unhöflich oder gar als Grenzüberschreitung einer höher gestellten Person gegenüber gelten.9
Doch man sollte davon ausgehen können, dass Zuwanderer, die bereits seit langem in Österreich leben, mit der hier üblichen Begrüßung vertraut sind. Sie müssen keine unziemliche Absicht dahinter vermuten, wenn die Lehrerin dem Vater ihrer Schülerin die Hand zur Begrüßung reicht. Die Absicht (niyyā) spielt im Islam stets eine wichtige Rolle, denn bei Gott werden die Taten danach bemessen, welche Absicht dahinterstand.10 Muslime können also die hierzulande übliche höfliche Begrüßung im Wissen um die unbedenkliche Absicht ebenso höflich akzeptieren, anstatt ihrerseits eine Unhöflichkeit zu begehen und die ausgestreckte Hand des Gegenübers zu ignorieren.
In der Stadt Salzburg sorgt man dafür, dass auch neu Zugezogene gut informiert sind und das Händeschütteln nicht missverstehen. Im welcome guide11 heißt es: "ÖsterreicherInnen schütteln sich oft die Hände zur Begrüßung oder beim Verabschieden. Sowohl Männer als auch Frauen schütteln sich gegenseitig die Hände und schauen sich in die Augen." Und weiter: "Lächeln wird üblicherweise nicht als Flirten interpretiert, auch dann nicht, wenn man mit unbekannten Personen spricht. Die Menschen versuchen normalerweise einfach nur freundlich zu sein. Egal ob Männer oder Frauen!" Die Formulierungen in diesem an (muslimische) Flüchtlinge gerichteten Leitfaden verdeutlichen, dass man um den möglichen Gewissenskonflikt weiß und die Flüchtlinge zur Akzeptanz der hier üblichen Sitten bringen möchte.
Als der ehemalige österreichische Bundespräsident Heinz Fischer (geb. 1938; amt. 2004-2016) zu einem Empfang anlässlich des muslimischen Opferfestes lud, einigten sich die anwesenden muslimischen Frauen darauf, dem Präsidenten als Repräsentanten Österreichs den Händedruck nicht zu verweigern, da dies in ihren Augen symbolisch einer Respektlosigkeit oder Ablehnung dem österreichischen Volk gegenüber gleichgekommen wäre.12 Obwohl Heinz Fischer, als Staatsmann mit den muslimischen Gepflogenheiten durchaus vertraut, sicher auch eine andere Grußform problemlos akzeptiert hätte, was offenbar nicht auf alle Europäer zutrifft, die in die Situation kommen, muslimische Frauen oder Männer zu begrüßen.
Wie es scheint, wird muslimischen Männern, die mit "Hand aufs Herz" grüßen, grundsätzlich Missachtung der Frau vorgeworfen. Das mag in Einzelfällen zutreffen, wie es auch frauenverachtende Nichtmuslime gibt, aber generell liegt die Motivation in dem Bewusstsein, einer Frau nicht zu nahe treten zu dürfen, selbst wenn keine sexuelle Absicht dahintersteckt. Die deutsch-jüdische Autorin Ramona Ambs wundert sich in einem treffenden Artikel über "eine seltsame Sehnsucht, dieser neu erwachte Wunsch nach partiell-intensivem Körperkontakt mit Muslimen, bei gleichzeitig steigender Islamfeindlichkeit allerorten." Und sie fragt: "Müssen sich nun eigentlich künftig alle anfassen, um gegenseitig Respekt zu zeigen?"13 Sie erinnert an den Kampf der Frauenbewegung für die Selbstbestimmung darüber, "wann man wo von wem wie angefasst wird. Soll das für Muslime oder orthodoxe Juden nicht gelten?"14
Wir leben in einer Zeit, in der unterschiedliche Kulturen, Religionen und Wertvorstellungen aufeinandertreffen. Dies sollte nicht Angst hervorrufen, sondern vielmehr Neugier auf andere Sitten und Gebräuche, die eine Bereicherung sein können, ohne deshalb das Eigene verdrängen zu müssen. Im Koran werden die verschiedenen Völker erwähnt, die entstanden sind, damit die Menschen einander kennenlernen.15
Alle Seiten sollten mehr Gelassenheit im Umgang miteinander an den Tag legen und das Gespräch miteinander suchen, bevor aus falschen Vermutungen Missverständnisse und Kränkung entstehen. Vielleicht nicht gerade beim ersten Zusammentreffen sinnvoll, kann sich bei späteren Gelegenheiten durchaus ein Gespräch über unterschiedliche Vorstellungen von Respektsbekundung und Höflichkeitsgeboten ergeben. Eine für alle Seiten angenehme Begrüßungsform zu finden, sollte für erwachsene Menschen guten Willens kein Problem darstellen. Und falls jemand – wer und aus welchen Gründen auch immer – es vorzieht, auf einen Handschlag zu verzichten, kann das durchaus auch auf charmante Art tun. Vielleicht nach dem Vorbild der no-hands-Kampagne: "Wir verzichten auf das Händeschütteln ... und schenken Ihnen ein Lächeln."16