Zur Rolle der NichtmuslimInnen bei der Entstehung arabisch-islamischer Wissenschaften

Artikel 29.05.2017 Redaktionsteam

Dieser Beitrag handelt von den arabisch-islamischen Wissenschaften sowie der Rolle, die nichtmuslimische Gelehrte in ihrer Entstehung gespielt haben. Zunächst wird die Entstehungsphase skizziert und der Begriff "arabische Wissenschaften" definiert. Wir gehen auf den Aufschwung der Übersetzungsbewegung in Bagdad und die Weiterentwicklung der Wissenschaften ein sowie ihre Bedeutung für den Westen. Schließlich folgen biographische Skizzen einiger nichtmuslimischer Gelehrter.


Die islamische Welt des Mittelalters hat dem Westen ein reichhaltiges Erbe hinterlassen. So gelangten etwa eine Vielzahl von Kulturpflanzen sowie neue Bewässerungstechniken über Sizilien und Spanien nach Südeuropa.1 Einen weiteren Teil dieses Vermächtnisses bilden die islamische Kunst und Kultur sowie die arabische Wissenschaft und Medizin, auf die wir im Folgenden näher eingehen werden. Unser Fokus liegt dabei auf den NichtmuslimInnen, die an diesen Bereichen bedeutsamen Anteil haben.2

Die arabischen Wissenschaften entfalteten sich während der Zeit der Abbasiden im 8. bis 10. Jahrhundert zu großer Blüte.3 Der Islam hat insofern Anteil an dieser Entwicklung, als der Schwerpunkt der Gelehrtentätigkeit zu Beginn in der Beschäftigung mit dem Koran lag.4 Die sogenannten "Wissenschaften der Tradition" (ʿulūm an-naql), basierend auf der islamischen Offenbarung und Religion, galten lange als "die Krönung der Wissenschaften".5 Doch sie wurden befruchtet von den "Wissenschaften des Verstandes" (ʿulūm al-ʿaql), zu denen die griechische, persische und indische Wissenschaftstradition zählte mit Fächern wie Mathematik, Astronomie, Medizin, Botanik, Physik, Logik und Philosophie.6 Die Trennlinie zwischen diesen "religiösen" und "profanen" Wissenschaften war in der Praxis jedoch keine strikte,7 die meisten Gelehrten forschten als Universalgelehrte in mehreren Gebieten und verbanden in hohem Ausmaß theoretische mit praktischen Fragestellungen.8

Die Entstehungszeit der arabischen Wissenschaften war eine Epoche der "städtischen Kultur", an der sowohl Angehörige des Kalifenhofs als auch einer "gebildeten urbanen Schicht" mit unterschiedlichem religiösem Hintergrund Anteil hatten.9 Das Arabische war als Verwaltungssprache und Sprache der islamischen Religion von zentraler Bedeutung,10 wodurch innerhalb des sich ausdehnenden Reiches, das vom Atlantik bis zum Pazifik reichte, ab dem 8. Jahrhundert "ein einheitlicher sprachlicher Kulturraum"11 entstanden ist. Aufgrund ihrer Exaktheit wurde die arabische Sprache "das wichtigste Ausdrucksmittel der islamischen Gelehrsamkeit".12 Somit ist der Ausdruck "arabische Wissenschaften" gegenüber dem ebenfalls oft verwendeten Begriff der "islamischen Wissenschaften" eher gerechtfertigt, auch wenn die echten Araber nach Ibn Ḫaldūn (gest. 1406) verglichen mit Persern, Christen und Juden eine geringere Bedeutung für die Entwicklung der Wissenschaften hatten.13

Jenseits der Grenzen von Religionszugehörigkeit erlebte unter den Kalifen Harūn ar-Rašīd (reg. 786-809; gest. 809) und al-Maʾmūn (reg. 813-833; gest. 833) die Übersetzungsbewegung in Bagdad ihren Aufschwung. Griechische, syrische, persische und indische Texte aus Medizin, Astronomie und Mathematik wurden ins Arabische übertragen. Griechisches Wissen erlangten die Araber auch über die christlichen Städte Antiochia und Edessa, wo sie zuvor bereits ins Syrische übersetzt worden waren.14 Al-Maʾmūn begründete ein Zentrum der Gelehrsamkeit, das "Haus der Weisheit" (bait al-ḥikmah), an dem Christen, Sabäer und Juden beteiligt waren und dem später ein Krankenhaus, ein Observatorium und eine Bibliothek angeschlossen wurden.15 Die Sabäer oder Sabier konnten unter anderem als Hofärzte Bedeutung erlangen, nachdem sie von al-Maʾmūn als Schriftbesitzer definiert und somit laut Koran geschützt wurden.16 Aus dem ganzen Reich kamen Gelehrte nach Bagdad, wo aufgrund al-Maʾmūns Sympathie für die rationalistische Strömung der Mutaziliten eine gegenüber anderen Religionen und Kulturen tolerante Stimmung herrschte.17

Das erlangte Wissen aus der zunehmenden Anzahl übersetzter Texte führte zur verstärkten eigenständigen Forschung in den verschiedenen Wissensgebieten. Nach zweihundert Jahren endete die Periode der großen Übersetzungsbewegung, nachdem alle wichtigen Werke mehrfach ins Arabische übertragen, erforscht und mit Kommentaren versehen worden waren. Von nun an wurden eigenständige arabische Werke verfasst.18

Entgegen der üblichen Darstellung in westlichen Geschichts- und Schulbüchern ist das Verdienst der arabischen Wissenschaften nicht in einer reinen Überlieferung antiken griechischen Wissens unter Zugabe einiger weniger eigener Beiträge zu sehen. Vielmehr besteht es in der Bildung einer Synthese aus persischem, indischem und griechischem Wissen sowie der eigenständigen Weiterentwicklung der Wissenschaft in vielen Bereichen. Erst in dieser erweiterten Form wurde ab dem 11./12. Jahrhundert das ehemals griechische Wissen, übersetzt aus dem Arabischen, in Europa rezipiert.19 Besonders bedeutsam für den "geistigen Aufbruch des 12. Jahrhunderts"20 war die sogenannte Übersetzerschule in Toledo, wo auch nach der Rückeroberung der Stadt durch christliche Truppen (1085) zunächst weiterhin Muslime, Juden und Christen lebten.21

Im Folgenden sollen nun einige nichtmuslimische Gelehrte aus dem muslimischen Kulturkreis porträtiert werden, die einen entscheidenden Beitrag für die wissenschaftliche Entwicklung unter MuslimInnen geleistet haben.

Zunächst ist Ḥunain b. Isḥāq (gest. 873 oder 877) zu nennen, latinisiert Ioannitius. Er war ein nestorianisch-christlicher Arzt aus al-Hirah in Mesopotamien, der auf der Suche nach griechischer Literatur weite Reisen unternahm. Ḥunain übersetzte fast alle Werke Galens sowie Werke von Hippokrates und die berühmten Materia Medica des Dioskurides, außerdem philosophische Werke von Aristoteles und Plato. Eigene Schriften verfasste er etwa zur Augenheilkunde.22 Ḥunain fungierte nicht allein als Übersetzer ins Arabische für die MuslimInnen, sondern er fertigte auch syro-aramäische Übersetzungen für eine christliche Klientel.23 Er gehörte zu den Leibärzten des Kalifen al-Maʾmūn und soll später das "Haus der Weisheit" in Bagdad geleitet haben, in dem auch sein Sohn Isḥāq b. Hunain (gest. 910) wirkte. Dieser war ein christlicher Physiker und Mathematiker sowie Übersetzer von Aristoteles, Euklid, Archimedes und Ptolemäus ins Arabische und Syrische.24

Ebenfalls Übersetzer griechischer Texte war der christliche Arzt, Philosoph, Mathematiker und Astronom Qusṭā b. Lūqā (Kostas ibn Lukas, gest. um 912). Er war griechischer Abstammung und wirkte in Bagdad.25 Er verfasste ein Buch "über die medizinischen und hygienischen Vorbereitungen für den Hadsch (ḥağğ), die islamische Pilgerfahrt"26 sowie zahlreiche Werke über Medizin, Geometrie und das Astrolabium, das "wichtigste astronomische Instrument vor der Erfindung des Teleskops".27

Ṯābit b. Qurra (gest. 901) war ein sabischer Mathematiker, Astronom, Arzt und Philosoph aus Harran (Mesopotamien), der seine Blütezeit in Bagdad erlebte. Ursprünglich Geldwechsler auf den Märkten, zählt er zu den größten Übersetzern aus dem Griechischen und Syrischen ins Arabische, und schrieb selbst bedeutsame Werke zu Geometrie, Statik und Zahlentheorie. Seine Schriften wurden später - in lateinischer Übersetzung - sehr einflussreich im Westen.28

Sahl aṭ-Ṭabarī (gest. 845) war ein jüdischer Astronom und Arzt, auch er wirkte in Bagdad. Er soll einer der ersten Übersetzer des Almagest von Ptolemäus ins Arabische gewesen sein.29

Einer der ersten Astronomen der arabischen Welt war unter dem Namen Māšāʾ Allāh (gest. ca. 815) bekannt. Er hieß wahrscheinlich Manasseh und war ein ägyptisch-jüdischer Gelehrter in Bagdad. Er spielte eine Rolle bei der Vermessung des Bauplatzes für die Stadt Bagdad. Von seinen Schriften sind zahlreiche hebräische und lateinische Übersetzungen erhalten, darunter De scientia motus orbis.30

Wir verlassen nun Bagdad und wenden uns noch kurz nach Spanien, wo ab dem 11. Jahrhundert eine vom Osten zunehmend unabhängige, "eigenständige westislamische Wissenschaft"31 zu entstehen begann. Der berühmte jüdische Philosoph, Theologe und Astronom Mūsā b. Maimūn, bekannt als Moses Maimonides (gest. 1204), wurde in Córdoba geboren, musste Spanien jedoch, wie viele andere Juden unter den Almohaden, verlassen, und ließ sich in Ägypten nieder.32 Als einer der Ersten verstand er die Bedeutung der Hygiene in der Medizin und er versuchte, prophetische Visionen psychologisch zu erklären. Maimonides wurde der Leibarzt von Sultan Saladin (Ṣalāḥ ad-Dīn, gest. 1193).33 Er schrieb fast ausschließlich auf Arabisch, seine Werke gelangten in hebräischer Übersetzung zu großem Einfluss. Er war bemüht, Ibn Sīnās aristotelische Ansichten "mit der jüdischen Theologie in Einklang zu bringen, genau wie andere es mit der islamischen Theologie getan hatten, indem sie Glauben mit Vernunft kombinierten."34

Abschließend soll festgehalten werden, dass der Erfolg der arabischen Wissenschaften nicht ein Verdienst allein der Muslime ist. Diese "neigen manchmal dazu, alle möglichen Errungenschaften in Naturwissenschaft, Technik und anderen Bereichen für sich zu beanspruchen, häufig aus einem Minderwertigkeitskomplex heraus, weil die gegenwärtige Lage in vielen Teilen der islamischen Welt nicht gerade rosig aussieht."35 Vielmehr - und das ist das eigentlich Bedeutsame auch für die Gegenwart - sind die arabisch-muslimischen "Kulturleistungen als gemeinsame zu verstehen."36 Nicht die eigene wissenschaftliche Leistung der Muslime jener Epoche führte zur Schaffung eines Zentrums der Wissenschaft und Kultur, sondern ihre Offenheit für wissenschaftliche Erkenntnisse und ihre wertschätzende Haltung gegenüber kultureller und religiöser Vielfalt.

1 Vgl. M. A. Cook: Wirtschaftliche Entwicklungen, in: Joseph Schacht/C. E. Bosworth (Hg.), Das Vermächtnis des Islams (= Band 1), München: Dt. Taschenbuch-Verl. 1983, S. 255-292, hier S. 255f.

2 Vgl. Joseph Schacht: Einleitung, in: ebd., S. 13-21, hier S. 16f.

3 Vgl. Wolfram Reiss: Arabische Wissenschaft als Synthese antiker Wissenschaftstraditionen der griechischen, persischen und indischen Kultur, in: Gisbert Gemein (Hg.), Kulturkonflikte - Kulturbegegnungen. Juden, Christen und Muslime in Geschichte und Gegenwart, Bonn: Bundeszentrale für Politische Bildung 2011, S. 302-329, hier S. 302.

4 Vgl. Jim Al-Khalili: Im Haus der Weisheit. Die arabischen Wissenschaften als Fundament unserer Kultur (= Fischer, Band 18358), Frankfurt am Main: Fischer-Taschenbuch-Verl. 2013, S. 77.

5 W. Reiss 2011, S. 302f.

6 Vgl. ebd.

7 Vgl. Gudrun Krämer: Geschichte des Islam (= dtv, Band 34467), München: Dt. Taschenbuch-Verl. 2011, S. 92.

8 Vgl. W. Reiss 2011, S. 309.

9 G. Krämer 2011, S. 91.

10 Vgl. Martin Plessner: Naturwissenschaften und Medizin, in: Joseph Schacht et al. (Hg.), Das Vermächtnis des Islams (=Band 2), München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1983, S. 203-237, hier S. 205.

11 Ulrich Rebstock: Die Naturwissenschaften im Islam, in: Rainer Brunner (Hg.), Islam. Einheit und Vielfalt einer Weltreligion, Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2016, S. 413-428, hier S. 413.

12 M. Plessner 1983, S. 205.

13 Vgl. ebd.

14 Vgl. J. Al-Khalili 2013, S. 91-93.

15 Vgl. W. Reiss 2011, S. 305-308.

16 Vgl. G. Krämer 2011, S. 99.

17 Vgl. J. Al-Khalili 2013, S. 54. Anm.: Jedoch gegenüber anderen Haltungen innerhalb des Islam ging Al-Maʾmūn später rigoros vor. Vgl. J. Al-Khalili 2013, S. 55.

18 Vgl. ebd., S. 96f.

19 Vgl. ebd., S. 303f.

20 Klaus Herbers: Geschichte Spaniens im Mittelalter. Vom Westgotenreich bis zum Ende des 15. Jahrhunderts, Stuttgart: Kohlhammer 2006, S. 214.

21 Vgl. ebd., S. 214f.

22 Vgl. Alfred Schlicht: Geschichte der arabischen Welt, Stuttgart: Reclam 2013, 82f. sowie J. Al-Khalili 2013, S. 416f.

23 Vgl. G. Krämer 2011, S. 99.

24 Vgl. ebd. sowie J. Al-Khalili 2013, S. 416f.

25 Vgl. J. Al-Khalili 2013, S. 423.

26 U. Rebstock 2016, S. 413.

27 J. Al-Khalili 2013, S. 96.

28 Vgl. G. Krämer 2011, S. 99 sowie J. Al-Khalili 2013, S. 95 und S. 427.

29 Vgl. J. Al-Khalili 2013, S. 424f.

30 Vgl. ebd., S.421f.

31 K. Herbers 2006, S. 214.

32 Vgl. ebd.

33 A. Schlicht 2013, S. 86f.

34 J. Al-Khalili 2013, S. 421.

35 Silvia Horsch: Der Islam - eine europäische Tradition. Vortrag am 6. Februar 2008 auf der Islamwoche Berlin, Berlin 2011, www.al-sakina.de/inhalt/artikel/Islam_Europa/islam_europa.html, abgerufen am 07.10.2016.

36 Ebd.

Al-Khalili, Jim: Im Haus der Weisheit. Die arabischen Wissenschaften als Fundament unserer Kultur (= Fischer, Band 18358), Frankfurt am Main: Fischer-Taschenbuch-Verl. 2013.

Plessner, Martin: Naturwissenschaften und Medizin, in: Joseph Schacht et al. (Hg.), Das Vermächtnis des Islams (= Band 2), München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1983, S. 203-237.

Reiss, Wolfram: Arabische Wissenschaft als Synthese antiker Wissenschaftstraditionen der griechischen, persischen und indischen Kultur, in: Gisbert Gemein (Hg.), Kulturkonflikte - Kulturbegegnungen. Juden, Christen und Muslime in Geschichte und Gegenwart, Bonn: Bundeszentrale für Politische Bildung 2011.

Schlicht, Alfred: Geschichte der arabischen Welt, Stuttgart: Reclam 2013.

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