Zwangsheirat im Islam
Eine erzwungene Verheiratung ist eine Menschenrechtsverletzung, die sowohl Frauen als auch Männer treffen kann, wobei zumeist Frauen davon betroffen sind. Im Artikel 16 Absatz 2 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948, die für alle Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen gilt, steht: "Eine Ehe darf nur bei freier und uneingeschränkter Willenseinigung der künftigen Ehegatten geschlossen werden."2
Trotzdem kommen Zwangsheiraten in verschiedensten Kontexten vor. Es gibt sie in muslimischen, aber auch in hinduistisch und christlich geprägten Kulturen. Häufig sind sie religiös begründet, obwohl in allen großen Religionen, wie dem Judentum, dem Christentum, dem Islam, dem Hinduismus und dem Buddhismus, das Einverständnis beider Ehepartner zu einer Heirat vorausgesetzt wird.3 Formen der arrangierten Ehe waren auch in Europa bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein durchaus üblich. Besonders betroffen waren die Adeligen, bei denen arrangierte Ehen, aber auch Zwangsheiraten die Norm darstellten. In den vom Islam geprägten Kulturen entwickelte sich das Phänomen der Zwangsheirat nicht aus der religiösen Überlieferung, sondern aus der kulturellen Tradition. Vor allem in ländlichen Gebieten dienen die Ehen oftmals der Existenzsicherung der Familien.4 Grundsätzlich muss zwischen einer Zwangsheirat und einer arrangierten Ehe unterschieden werden. Unter Zwangsheirat wird eine Verheiratungspraxis verstanden, bei der mindestens einer der Ehepartner durch physischen oder psychischen Druck zu der Heirat genötigt wird, während bei einer arrangierten Ehe beide Ehepartner einverstanden sein müssen.
Es konnte allerdings auch beobachtet werden, dass in Gebieten, in denen arrangierte Ehen üblich sind, Zwangsheiraten häufiger vorkommen.5 In diesen kulturellen Kontexten besteht ein großes Interesse der Familie, bestimmte eheliche Verbindungen herbeizuführen, was als solches noch nicht problematisch ist. Im Idealfall stimmen alle Beteiligten einer Heirat zu und die Ehe ist für alle eine gute Lösung. Daneben gibt es Arrangements, bei denen die Betroffenen an der Partnerwahl nicht beteiligt sind und ihnen nur ein Vetorecht zugestanden wird. Meist kommt es bei dieser Konstellation zu einem Kompromiss. Bei einer Zwangsheirat verlieren die Beteiligten jede Autonomie. Es ist jedoch oft nicht einfach, eine arrangierte Ehe von einer Zwangsheirat abzugrenzen.6
Die Gründe für Zwangsheiraten sind vielfältig. Eine zentrale Rolle spielen längerfristige familiäre Interessen. Es gibt aber auch akute Anlässe für eine Zwangsverheiratung, wie die Bedrohung und Gefährdung der Ehre, finanzielle Schwierigkeiten, aber auch der Wunsch, einer im Ausland lebenden Person eine Migration zu ermöglichen.7
Auch wenn die Zustimmung beider Ehepartner zu den Bedingungen für einen gültigen islamischen Ehevertrag gehört, ist es trotzdem wichtig, zu einem Bewusstsein zu gelangen, wo die Tradition und die Religion miteinander verflochten sind und welche Auslegungen eventuell einer Zwangsheirat Vorschub leisten könnten. Im älteren islamischen Recht gibt es den Begriff des walī mudschbir, welcher gesetzlicher Vertreter ist, der das Recht hat, ein minderjähriges Mädchen ohne ihr Einverständnis zu verheiraten. Dies hat mit sehr alten, zum Teil auch vorislamischen Bräuchen zu tun, als es üblich war, dass die Eltern für ihre Kinder Ehegelöbnisse vereinbarten. 1993 wurde diese Einrichtung aber im Zuge der Reformierung des marokkanischen Familienrechtes offiziell aufgehoben.8
Das Thema Zwangsheirat begegnet uns auch in Hadithen:
"Buraida sagte, dass eine junge Frau zum Propheten kam und sagte: 'Mein Vater verheiratete mich mit dem Sohn seines Bruders, um sein Ansehen unter den Leuten zu erhöhen.' Der Prophet machte damit die Gültigkeit der Ehe von ihrer Entscheidung abhängig. Daraufhin sagte die junge Frau: 'Ich akzeptiere und befürworte die Entscheidung meines Vaters, doch ich wollte den Frauen nur beweisen, dass Väter in dieser Sache keinen Zwang ausüben können.'"9
Ein zweiter Hadith belegt, dass es nach dem Einspruch der Frau auch zur Auflösung der Ehe gekommen ist:
"Hansa Bint Hidam Al-Ansariyya berichtet, dass sie als verwitwete Frau von ihrem Vater wiederverheiratet wurde, und dass sie damit nicht einverstanden war. Sie begab sich deshalb zum Gesandten Allahs und er machte ihre Ehe rückgängig."10
Die ausdrückliche Zustimmung der Frau zur Ehe ist also eine Bedingung für die Gültigkeit des Ehevertrages. Nach klassisch islamischer Auffassung geben junge Frauen diese Zustimmung bereits durch ihr Schweigen. In einem Hadith heißt es: "Die Zustimmung einer Jungfrau ist ihr Schweigen."11 Damit dieser Hadith nicht missverstanden wird, ist es wichtig, die Hintergründe zu kennen. In einer ausführlicheren Version erfahren wir, dass dieser Zusatz zum Gebot des Einverständnisses der Frau, durch eine Frage ʿĀʾišas entstanden ist. Sie wollte damit die Zustimmung für sehr schüchterne junge Frauen erleichtern. Heutzutage ist dies wohl überholt, da es Mädchen in den meisten Fällen gewohnt sind, für sich zu sprechen und damit auch ein möglicher Missbrauch verhindert werden kann.12
"Obwohl Zwangsheirat eine Straftat ist, für die bei einer Verurteilung bis zu fünf Jahre Haft drohen (§ 106/1/3 StGB), schätzen Expert/innen, dass in Österreich jährlich um die 200 Mädchen und junge Frauen von Zwangsheirat betroffen sind. Es sind dies meist Mädchen mit österreichischer Staatsbürgerschaft, die bereits in zweiter oder dritter Generation hier leben. [...] In Österreich ist Zwangsehe, d. h. die Nötigung zur Ehe, ein Offizialdelikt. Damit kann auch ein Dritter, ohne Zustimmung der betroffenen Frauen und Mädchen, gegen die Zwangsehe rechtlich vorgehen. Mit dieser Regelung im Strafrechtsänderungsgesetz 2006 wurde den Betroffenen der emotionale Druck genommen und es leichter gemacht, sich gegen die Zwangsheirat zu wehren."13
Der Wiener Verein "Orient Express" berät und unterstützt Frauen, die von einer Zwangsheirat betroffen sind. Der Verein sieht sich als Beratungs-, Bildungs- und Kulturinitiative und als Ansprechpartner für Frauen, die sich von ihrer Familie unter Druck gesetzt fühlen, die gegen den eigenen Willen gezwungen werden zu heiraten, solchen, die bereits verheiratet worden sind und Betroffenen, die befürchten, wegen einer Verlobung oder Verheiratung ins Heimatland der Eltern gebracht zu werden. Die Beratungen sind kostenlos und anonym, auch online möglich und finden in verschiedenen Sprachen statt. Seit dem 1. August 2013 stellt der Verein auch eine Notwohnung zur Verfügung, in der von Zwangsheirat betroffene und bedrohte junge Mädchen und Frauen vorübergehend eine Unterkunft finden.14
Zwangsheiraten galten lange Zeit als charakteristisch für traditionell patriarchalische Familien. Man muss aber vorsichtig sein damit, die Schuld nur bei autoritären Familienstrukturen zu suchen, die oft mit Migrantinnen und dem Islam in Verbindung gebracht werden. Die seriöse Forschung sieht kaum einen Zusammenhang zwischen Zwangsheiraten und religiösen Vorstellungen. Vielmehr zeigt eine deutsche Untersuchung, dass die Ursachen zumeist im sozialen und familiären Umfeld zu finden sind.15 So finden Zwangsheiraten fast immer in Familien statt, in denen Gewalt an der Tagesordnung steht, es finanzielle Probleme gibt und oftmals eine Suchtproblematik eine Rolle spielt.16 Wichtig ist es, sich bewusst zu sein, dass die Darstellung der Zwangsheirat als Gebot im Islam oder in einer "rückständigen" Kultur eine große Gruppe von Menschen diffamiert und eine Ausgrenzung fördert, statt zu integrieren. Benötigt werden Maßnahmen, welche die Betroffenen unterstützen, ohne die Islamophobie zu fördern.17