Zwischen Demokratie und Islam – die Ansichten moderner Denker

Artikel 08.08.2016 Redaktionsteam

Im vorliegenden Artikel wird Demokratie im islamischen Kontext aus der Sicht dreier moderner muslimischer Denker dargelegt. Zu Beginn werden die Gedanken des Literaturwissenschaftlers Abu Zaid vorgestellt und im weiteren Verlauf der Vierstufenplan des Ingenieurs und Intellektuellen Šaḥrūr erklärt. Abschließend wird die mögliche Konzeption eines religiös-demokratischen Regimes nach Sorūš diskutiert.


Während in Ägypten heute ein autoritäres System und Unsicherheit herrschen und Libyen, Syrien und der Jemen als unkontrollierbar gelten, hat Tunesien es als einziger Staat zu einer modernen und demokratischen Verfassung geschafft.1 Was alle Staaten zu Beginn des Arabischen Frühlings jedoch gemeinsam hatten, war der Ruf nach Demokratie und die mit ihr verbundenen Prinzipien - Rechtsstaatlichkeit, gute Regierungsführung und die Achtung der Menschenrechte. Der Diskurs dreht sich demnach nicht mehr ausschließlich um die Frage der Fähigkeit der Muslime zur Demokratie, sondern er bezieht sich vor allem auf eine islamisch fundierte Demokratie als Mittelweg und theoretische Lösung.2 Über die Vereinbarkeit von Staat und Religion sowie über die Relevanz eines demokratischen Regimes haben sich verschiedene Positionen herausgebildet. Die modernen islamischen Intellektuellen Nasr Hamid Abu Zaid, Muḥammad Šaḥrūr und 'Abdo l-Karīm Sorūš erklären, in welchem Verhältnis die Religion zum Staat stehen könnte, um ein demokratisches Ziel zu verfolgen.

Nasr Hamid Abu Zaid

Der ägyptische Literaturwissenschaftler Nasr Hamid Abu Zaid (gest. 2010) warnte, wo "die Religion Staat ist, besteht die Gefahr, dass sie mit allen Unzulänglichkeiten (der Regierenden) oder - wie in Iran - mit den Verbrechen des Staates identifiziert wird".3 Er ist der Ansicht, Religion solle mit Politik so wenig wie möglich zu tun haben. Die Gründe dafür, dass in den muslimischen Gesellschaften die Demokratie fehlt, seien vielfältig und u. a. sozialer, kultureller, gesellschaftlicher sowie innen- und außenpolitischer Art. Sie sind demnach nicht unmittelbar mit dem Islam verbunden. Abu Zaid kritisiert außerdem die Gegner und die Befürworter von Demokratie gleichermaßen, da beide Positionen den Islam für ihre Zwecke ausnutzen. So behaupten die Befürworter, der Islam kenne die šura (Beratung), was ihrer Interpretation nach gleichbedeutend mit Demokratie ist.4 Dem stehen die Gegner der Demokratie gegenüber, wenn sie erklären, dass der Islam nicht für Demokratie, sondern für šura in ihrer Bedeutung als Beratung plädiert.5 Er schreibt, man könne "den Koran auch anders lesen (...), wenn man dies nur möchte", und es sei "die Sichtweise des Exegeten", die das Ergebnis der Lektüre vorherbestimmt.6 Abu Zaid zufolge kann jeder im Text auch das finden, was er sucht. Deshalb ist die Beachtung des Kontextes von essentieller Bedeutung. Šura beschreibt lediglich die Praxis von Stämmen der vorislamischen Zeit, in der die Beratung eine übliche Methode war.7

In diesem Zusammenhang betont Abu Zaid, dass es ein Missverständnis sei, dass die Durchsetzung der Scharia als unbedingte Voraussetzung für das Vorhandensein eines islamischen Staates gelten müsse. Die Islamisten sehen den Koran als absolute Gesetzesverkündung und erachten den geringen juristischen Teil als "eigentliche Botschaft", während der gesamte Rest eine zweitrangige Position einnimmt.8
Eine Trennung von Religion und Politik bedeute nicht zwingend die Trennung der Religion von der Gesellschaft, wie viele Islamisten einwenden, die Staat und Gesellschaft gleichsetzen.
Um Prinzipien einer Religion zu verwirklichen, bedürfe es keiner staatlichen Autorität, da Glaube nicht erzwingbar sein darf und lediglich die Beziehung zwischen dem Individuum und Gott betrifft. Deshalb sei die Trennung von Staat bzw. Politik und Religion notwendig, damit der individuelle Gläubige nicht gezwungen ist, das Glaubensverständnis der Herrschaftsmacht zu praktizieren.

"Dabei ist es die Verantwortung eines jeden Muslims, die Gesetze Gottes zu befolgen, und nicht die Verantwortung einiger weniger, die an der Macht sind. Vielleicht einigt sich die Mehrheit auf ein Gesetz, das der Scharia widerspricht. Vielleicht verständigt sich die Mehrheit auf eine Politik, die mit den Prinzipien des Islams nicht im Einklang ist. Das ist eine berechtigte Angst. Aber es ist nicht berechtigt, wegen dieser Angst den Menschen die Entscheidung abzunehmen. Es gibt keine eingeschränkte oder halbe Demokratie." (Abu Zaid)9

Doch Abu Zaid kritisiert auch den Westen. Dieser suche den eigenen Vorteil und unterstütze diktatorische Herrschaftsformen der islamischen Welt, wie in Saudi-Arabien, während Staaten, durch die er keinen Vorteil hat (Iran oder Sudan), streng getadelt werden. Der Westen sei deshalb mitverantwortlich für das Scheitern demokratischer Annäherungsversuche.10

Muḥammad Šaḥrūr

Im Gegensatz zu Abu Zaid setzt der syrisch-arabische Ingenieur und islamische Intellektuelle Muḥammad Šaḥrūr in seinem Werk Zeitgenössische Islamische Studien über Staat und Gesellschaft (Dirāsāt islamiyya mu'āṣira fī d-dawla wa-l-muǧtama') die Beratung (šura) gleich mit Demokratie. Jedoch sei sie seit der Zeit der vier rechtgeleiteten Kalifen nicht mehr durchgesetzt worden.11
Die analytische Herangehensweise des Ingenieurs spiegelt sich auch in seinen Gedanken zur Demokratie wider. Um das Gedankensystem der arabischen Muslime ändern zu können, so der Aufklärer Šaḥrūr, müsse das Demokratieverständnis bzw. die Akzeptanz gegenüber Demokratie gestärkt werden. In The Qur'an, morality and critical reason nennt er einen Vierstufenplan, dessen Umsetzung zum Erreichen demokratischer Prinzipien führen könnte.
Es müsse erstens ein sich auf die Spiritualität beziehendes Abkommen getroffen werden, wonach der Glaube an Gott im Ermessen jedes individuellen Menschen selbst liegt. Somit sind Freiheit sowie die freie Wahl des Glaubens und der Religion als Grundlage dieses spirituellen Vertrags anzusehen.
Zweitens müsse ein Vertrag auf ethischer Ebene wirksam werden, der die gesamte Menschheit einschließt und dessen Fundament der Schutz aller Menschenrechte ist.
Des Weiteren würde ein Vertrag auf ziviler Ebene nach dem Vorbild von Rousseaus Civil Contract benötigt werden, durch den die Angehörigkeit zu einem Staat zugestanden wird. Der französische Philosoph Jean-Jacques Rousseau (gest. 1778) befürwortete die Vereinigung von Gemeinwohl und individuellem Interesse als Mittel zu einem Staat der Selbstverwaltung und Autonomie der Bürger.
Viertens seien ein politischer Vertrag bzw. ein Kodex zur politischen Partizipation, welche die tatsächliche Realisierung demokratischer Werte und Verfahren durchsetzen, unentbehrlich.
Šaḥrūr bedauert das fehlende Bewusstsein vieler Muslime für die Relevanz eines demokratischen politischen Systems zur Durchsetzung fundamentaler Rechte wie Meinungsfreiheit, Redefreiheit und Religionsfreiheit.12

'Abdo l-Karīm Sorūš

Anders als Abu Zaid und Šaḥrūr stellt der iranische Philosoph Abdo l-Karīm Sorūš die Relevanz der Demokratie fest, nachdem er zunächst das theoretische Modell einer religiös-demokratischen Konzeption diskutiert, welche die Trennung von Politik und Religion nicht zwingend voraussetzt. Seine Herangehensweise setzt somit nicht grundsätzlich eine Differenzierung voraus. Er befürwortet die Interpretationsvielfalt des Korans und spricht sich deutlich gegen eine eindeutige Religionserkenntnis und somit gegen den alleinigen Anspruch auf eine wahre Interpretation des Korantextes aus. Der Koran erlaube, wie jeder andere Text, Heterogenität der Interpretation und stünde deshalb in keinem Widerspruch zur Demokratie. Von erprobten Ideen und Systemen, deren Erfolg ausblieb und auch in Zukunft ausbleiben wird, solle abgelassen werden.13 Er schreibt, "(e)ine Zunft, die sich als Bewahrer einer einzigen Lesart der Religion versteht und darauf ihre politische Macht und materiellen Vorteile gründet, ist abzulehnen."14 Seine Position wurde deutlich abgelehnt, da er die Autorität der obersten religiös-politischen Instanz Irans, deren Religionserkenntnis lediglich "fehlbares Menschenwerk" sei, anzweifelte. Die dortige Auseinandersetzung wird maßgeblich durch die Ansicht des Staatsgründers Rūḥollāh Mūsawī Ḫomeinī beeinflusst. Demnach besitze allein Gott Rechte, während der Mensch ausschließlich Pflichten habe und sich der Gemeinschaft (umma) unterordnen müsse. Somit können keinerlei Freiheitsrechte gegenüber dem Staat geltend gemacht werden.15 Die Vermischung von Staat und Religion führe zu einer "Erstarrung des religiösen Denkens", da die Geistlichkeit durch ihre Finanzierung "zu einer Schicht" würde, die "um ihre Privilegien besorgt" sei und deshalb ein Monopol beanspruche.16 Für den religiösen Philosophen sind Menschenrechte Teil der menschlichen Vernunft. Als mögliches Konzept schlägt er deshalb eine religiös-demokratische Regierung vor, die sowohl islamisch als auch demokratisch zugleich ist. In Anbetracht des starken Kontrasts zwischen einer modernen demokratischen Regierung und einer religiösen Regierung, müsste die religiös-demokratische Regierung ein Gleichgewicht zwischen den Ansichten religiöser und nichtreligiöser Menschen schaffen und die Zufriedenheit der Menschen mit Gottes Anerkennung in Einklang bringen. Demzufolge stellt sich die religiös-demokratische Regierung weitaus schwierigeren Aufgaben als ein rein demokratisches oder rein religiöses System.17 Der demokratische Grad eines religiösen Regimes hänge einerseits von der kollektiven Vernunft ab und andererseits vom Ausmaß des Respekts gegenüber den Menschenrechten. Zwar könnte eine Kombination aus Religion und Demokratie Sorūš zufolge eine theoretische Annäherung von Vernunft und Offenbarung erreichen, jedoch gilt für ihn die Religionsfreiheit als unabdingbare Voraussetzung für eine religiöse Gesellschaft und ist somit ein ausschlaggebendes Kriterium, welches für das demokratische System spricht.18

Zwar teilen sich die Ansichten an einigen Stellen, jedoch wird insgesamt deutlich, dass ein demokratisches System und die Wahrung islamischer Werte durchaus möglich sind. Vor allem bei Abu Zaid und Šaḥrūr fällt auf, dass sie für die Freiheit des Glaubens und der Religion als unbedingte Voraussetzung für eine funktionierende Demokratie einstehen. Šaḥrūr versucht eine mögliche Konzeption zu erstellen, die darauf abzielt, ein Demokratiebewusstsein zu schaffen, und die es allen Menschen unabhängig ihrer Religion ermöglicht, ihren Glauben zu praktizieren. Zur selben Zeit soll diese Konzeption verbieten, sich ein Urteil über andere zu bilden. Dem steht Sorūš gegenüber, der sich um ein System bemüht, das Religion und Demokratie vereint. Innerhalb seiner Argumentation stellt er jedoch selbst fest, dass ein derartiges Konzept Mängel aufweist und nur schwer durchsetzbar ist, da es die Freiheit nicht garantieren kann.
Insgesamt sind Offenheit für Demokratie und ihre Prinzipien wie politischer Pluralismus, Gleichheit, Pressefreiheit etc. unbedingt notwendig, um unabhängiges, kritisches Denken zu ermöglichen. Eine Gesellschaft ohne intellektuelle Autonomie und kritisches Denken wird unweigerlich Gefahr laufen, sich rückständig und fern jeglicher Chance zur Reform zu entwickeln.

1 The Economist: The Arab winter, [online] Available at: www.economist.com/news/middle-east-and-africa/21685503-five-years-after-wave-uprisings-arab-world-worse-ever [Accessed 26 Feb. 2016], 2016.

2 ZEIT ONLINE GmbH, G: Islam: Die islamische Demokratie, [online] ZEIT ONLINE. Available at: www.zeit.de/2011/09/P-Scharia [Accessed 28 Feb. 2016], 2011.

3 Vgl. Katajun Amirpur: Den Islam neu denken, München: Beck 2013, S. 83.

4 Siehe hierzu: Koran, Sure 42:38.

5 Vgl. K. Amirpur, S. 84.

6 Vgl. K. Amirpur: Sind Islam und Menschenrechte vereinbar? Zeitgenössische Menschenrechtsbegründungen: Von der demokratieorientierten Deutung des Korans zur Akzeptanz außer-religiöser Werte, in: Rumpf, Mechthild, Gerhard, Ute & Jansen, Mechthild M. (Hrsg.), Facetten islamischer Welten. Geschlechterordnungen, Frauen- und Menschenrechte in der Diskussion (global / local Islam), Bielefeld: transcript 2003, S. 163.

7 Vgl. K. Amirpur (2013), S. 84.

8 Vgl. ebd., S. 84-86.

9 Amirpur (2013), S. 85f.

10 Vgl. Amirpur (2013), S. 85-87.

11 Vgl. Sahiron Syamsuddin: Die Koranhermeneutik Muhammad Sahrurs und ihre Beurteilung aus der Sicht muslimischer Autoren, Würzburg: Ergon 2009, S. 19.

12 Vgl. Muhammad Shaḥrūr und Christmann, A. The Qur'an, morality and critical reason, Leiden: Brill 2009, S. 337f.

13 Vgl. K. Amirpur, S. 186-189.

14 Vgl. ebd., S. 182.

15 Vgl. ebd., S. 186-189.

16 Vgl. ebd., S. 182.

17 Vgl. Abdolkarim Soroush: Reason, Freedom and Democracy in Islam, New York: Oxford University Press, S. 122.

18 Vgl. ebd., S. 126.

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