Zwischenmenschliche Vergebung und Versöhnung im Islam
Vergebung und Versöhnung im Kontext von Religionen und Wissenschaft
Zwischenmenschliche Streitigkeiten und gegenseitige Verletzungen sind menschlich und kommen in allen Gesellschaften vor. Dabei werden sie meist geregelt bzw. gelöst, ohne dass direkt über Vergebung nachgedacht wird. Dies nennt man „Alltagsvergebung“. Im Alltag werden Ecken und Kanten des Gegenübers meist toleriert oder stillschweigend ohne großen Aufwand vergeben. Übersteigen jedoch die Verletzungen das gewohnte Ausmaß, wird um Vergebung gebeten, das heißt entweder ausgesprochen oder für sich selbst in Gedanken vom Anderen gefordert. Neben dem Alltagsvergeben gibt es aber auch Fälle, in denen die betroffene Person sehr verletzt ist und es im besten Fall schließlich nach gegenseitiger Absprache zur Vergebung und Versöhnung kommt.1
An dieser Stelle sollen die beiden Begriffe „Vergebung“ und „Versöhnung“ und deren Unterschied geklärt werden. Beim „Vergeben“ verzichtet eine Person auf den Schuldvorwurf und auf einen Anspruch auf Widergutmachung des erlittenen Unrechts, ohne die Verletzung zu mildern oder zu entschuldigen. Vergeben kann man, ohne dass der „Täter“ davon Bescheid weiß. Sie ist somit ein innerseelischer Prozess, der unabhängig vom Täter vollgezogen werden kann. Versöhnen hingegen geht darüber hinaus: Es ist ein zwischenmenschliches Geschehen, wobei Versöhnen voraussetzt, dass der Täter seine Tat einsieht, bereut und beide den Wunsch nach einer zukünftigen guten Beziehung haben.2
Vergebung und Versöhnung sind ein wichtiges Thema innerhalb der Religionen. Gerade hier ist es wichtig, sich der Tatsache bewusst zu sein, dass Vergebung ein primär religiöses Konstrukt ist und sich somit immer in einem religiösen Verständnisrahmen bewegt.
„Vergebung ist eine über tausend Jahre alt religiöse Praxis. Das Verständnis von Vergebung ist in die jeweilige geschichtlich gewachsene religiöse Weltanschauung eingebettet.“3
In den letzten Jahren geriet das Thema Vergebung jedoch zunehmend mehr in den Fokus von empirischen Untersuchungen, welche sich mit der Auswirkung von Vergebung auf die psychische Gesundheit bis hin zur Ausarbeitung von Vergebungsinterventionen beschäftigen – also weg von einem religiösen Vergebungsverständnis und hin zu einem säkularen Menschenbild.4 Nichts desto trotz sollte das Thema aus religiöser Perspektive nicht an Aufmerksamkeit verlieren, weshalb nun die islamische Ansicht dargestellt wird.
Koran und Sunna zu Vergebung und Versöhnung
Dass der Mensch von Natur aus den Willen oder die Bereitschaft zum Streiten in sich trägt, nimmt der Koran wahr und deutet darauf hin, wenn es heißt: „[…] Der Mensch ist jedoch vor allem anderen immer zum Streit geneigt […]“5 Aus den Überlieferungen des Propheten Muhammad lässt sich ableiten, dass Streiten eine von Gott ungeliebte menschliche Verhaltensweise ist:
ʿAʾischa, Allahs Wohlgefallen auf ihr, berichtete, dass der Prophet, Allahs Segen und Heil auf ihm, sagte: „Es gibt unter den Menschen solche, die von Allah nicht geliebt werden, und es sind diejenigen, die zank- und streitsüchtig sind.“6
Hingegen haben Vergebung und Versöhnung einen hohen Stellenwert und sind äußerst erwünscht. Streitende Menschen zu versöhnen ist laut Koran und Sunna eine gute Tat. Eine weitere Überlieferung, welche Vergebung und Versöhnung thematisiert, ist folgende:
„Anas Ibn Malik, Allahs Wohlgefallen auf ihm, berichtete, dass der Gesandte Allahs, Allahs Segen und Heil auf ihm, sagte: „Schürt keinen gegenseitigen Haß unter euch. Seid einander nicht neidisch. Wendet euch nicht voneinander ab und seid Allahs Diener, brüderlich zueinander. Es ist dem Muslim nicht erlaubt, seinen Bruder länger als drei Tage zu meiden.“7
Im Koran findet man generell zwar wenige Stellen zu dieser Thematik, jedoch kann uns der folgende Vers dienlich sein:
„Darum, wenn ihr auf einen Angriff (im Streit) antworten müßt [sic!], antwortet nur im Maße des gegen euch gerichteten Angriffs; aber euch mit Geduld zu betragen, ist fürwahr weit besser für (euch, da Gott mit) jenen (ist), die geduldig in Widrigkeit sind.“8
Der Theologe Mahmoud Abdallah erklärt in einem Beitrag diesen Vers und sagt, dass der Mensch gerecht sein solle, um ein friedliches Zusammenleben unter den Menschen garantieren zu können. Noch besser als Gerechtigkeit gegenüber einem Schuldigen ist die Geduld des bzw. der Betroffenen, weil Stärke sich durch die Vergebung auszeichne. Auch werde überliefert, dass dieser Vers nach der berühmten Schlacht von Uhud im Jahre 625 herabgesandt worden sei. In dieser Schlacht hatten die Muslime eine Niederlage erlitten, wobei viele Männer gefallen und ihre Leichname geschändet worden waren.9 In Trauer und Wut schworen die Muslime dem Feind Rache im Übermaß. „Das ist nun ein Gedanke, den der Koran ablehnt. Deshalb erinnert der Vers an die Gerechtigkeit – selbst im Kriegszustand“10, so Abdallah. Er erklärt außerdem das Begriffspaar „Bestrafung“ (ʿuqūba) und „Vergebung“ (ʿafw) als Hauptaspekte im Verhältnis der Menschen zueinander und zu Gott und erläutert zunächst die Begriffe etymologisch. Bei den Begriffserklärungen zitiert er den islamischen Juristen Al-Kafawīyi (gest. 1683) und sagt, dass man unter ʿafw neben dem Wegfallen einer Strafe ebenso die Vergebung verstehe in dem Sinne, dass der Vergebende das Thema bzw. die Schuld des Schuldigen nie wieder thematisiert. Der Koran spricht an zahlreichen Stellen von ʿafw, vor allem als Appell an die Menschen, und zeigt, dass Vergebung an sich ein schwieriger und mühsamer Prozess ist, zu dem nicht jeder Mensch ohne Weiteres imstande ist. Der Koran macht die Menschen auch darauf aufmerksam, dass verzeihen zu können zu einem guten Charakter gehört. Abdallah stellt Überlegungen an, wie islamische SeelsorgerInnen das Begriffspaar Vergebung und Versöhnung in ihre Arbeit miteinbeziehen können, was im Folgenden kurz geschildert wird.
Vergebung und Versöhnung in der islamischen Seelsorge
Der Gedanke der Fürsorge gehört im Islam zu den Glaubensprinzipien und ist im alltäglichen Leben prägend. Bei der Zakat, der jährlichen Mindestzuwendung von 2,5% des Nettoeinkommens an Bedürftige, geht es beispielsweise um die materielle Zuwendung, die vor allem eine Erinnerung daran ist, anderen gegenüber achtsam zu sein und sich aktiv für die Besserung ihrer Lage einzusetzen. Außerdem bestärken zahlreiche Überlieferungen das Bewusstsein für die Fürsorge und betonen deren Wichtigkeit. Einem Hadith zufolge sei die Schlichtung zwischen Streitenden eine bessere Tat als etwa das Gebet, das Fasten und die Bedürftigensteuer, denn Streit führe zu Leid und Last. Folglich gehört für MuslimInnen die Fürsorge gegenüber anderen zu den alltäglichen Aufgaben und es ist selbstverständlich, sich um andere zu kümmern, Streit zu schlichten, selbst zu vergeben und sich zu versöhnen.11
Die islamische Seelsorge kann hierbei eine wichtige Rolle spielen. Abdallah ist allerdings der Meinung, dass durch eine unreflektierte Auseinandersetzung mit dem Konzept von Vergebung und Strafe im Islam in der Seelsorge ein Missverständnis entstehen kann, welches die Bestrafung im Vordergrund stellt und damit die Barmherzigkeit aus dem Blickfeld verschwindet. SeelsorgerInnen stehen vor der Herausforderung, der Ansicht, in jedem Schicksalsschlag eine Rache oder Strafe Gottes wahrzunehmen, entgegenzuwirken.
Wird der Inhalt von Koran 16:126 weitergedacht, gilt für die Seelsorge, dass die Barmherzigkeit Gottes vor und in seiner Gerechtigkeit steht. Daher rückt der Gedanke der Vergebung in den Vordergrund. Auch impliziert ʿafw, dass das Opfer dem Täter sogar entgegenkommen und von sich aus die Vergebung anbieten kann. Diese Sichtweise ist für die Seelsorge von besonderer Bedeutung, denn sie gibt demjenigen, der mit Schuldgefühlen lebt, nicht nur Hoffnung, dass Gott seine Reue annimmt und ihm das unangemessene Benehmen gegenüber Mitmenschen verzeiht, sondern darüber hinaus, dass Gott einem auch ohne Bitte um Verzeihung vergeben kann.12
Fazit
Streitigkeiten und Diskussionen waren schon immer Bestandteil der menschlichen Gesellschaft, weswegen die Themen Vergebung und Versöhnung eine wichtige Rolle spielen. Aus islamischer Perspektive kann anhand von Überlieferungen des Propheten und des Korans aufgezeigt werden, dass Vergebung und Versöhnung von Gott erwünschte Taten sind, da sie ein friedliches Zusammenleben garantieren. Außerdem ist das Vergeben für die eigene persönliche Entwicklung vom Vorteil, weil es Stärke, Standhaftigkeit und Geduld eines Menschen erfordert. Wie der Theologe Mahmoud Abdallah schildert, bezeichnen die Begriffe ʿuqūba und ʿafw Hauptaspekte in zwischenmenschlichem Beziehungen, wobei es ihm ein großes Anliegen ist, die Ansicht aufzuheben, im Islam stehe die Strafe im Vordergrund, und die wichtige Stellung der Vergebung und Güte zu verdeutlichen. Dieses Anliegen kann vor allem durch islamische SeelsorgerInnen umgesetzt werden.