Der Terror hat keine Religion

Zeitungsinterview 10.08.2016 Alexandra Aschbacher

Lässt sich Gewalt im Namen Gottes rechtfertigen? Was hat Terrorismus mit dem Islam zu tun? Zekirija Sejdini, Professor für Islamische Religionspädagogik an der Universität Innsbruck, sagt: Muslime müssen ihren Glauben zeitgemäß interpretieren. Mit Zekirija Sejdini sprach Alexandra Aschbacher.


ff: Die Attentäter von Paris berufen sich auf Allah, Sie glauben an Allah. Lässt Sie der Terror am Islam zweifeln?

Zekirija Sejdini: An meinem eigenen Glauben zweifle ich überhaupt nicht. Was ich nicht vestehen kann und was mir Sorgen bereitet, ist die Frage, wie Menschen diesen Glauben so interpretieren, dass sie in dessen Namen andere Menschen umbringen. Es stellen sich mir Fragen wie: Was führt dazu, eine Religion dermaßen misszuverstehen? Wie kann Glaube in Gewalt umgewandelt werden? Das macht mich nachdenklich.

Im Namen des Islam werden heute entsetzliche Grausamkeiten verübt.

Sejdini: Für mich ist klar: Zum Glauben gehört immer auch eine gesunde Dosis Skepsis. Das ist ein nachdenklicher, ein reflektierender Glaube. Es ist wichtig, seinen eigenen Glauben immer wieder zu hinterfragen, das bedeutet noch lange nicht, dass man gleich von ihm abrückt. Auch im Koran steht, dass der Glaube sich manchmal festigen kann, manchmal aber auch schwächelt - je nach Erlebnissen und Lebensmomenten.

Können Sie das Misstrauen vieler Menschen verstehen: Fast alle Terroranschläge werden im Namen Ihrer Religion verübt.

Sejdini: Ich versuche, das nachzuvollziehen. Ich weiß, wie die Menschen reagieren, nicht nur in Bezug auf den Islam. Wenn die Menschen Angst haben, fällt es immer schwer, differenziert zu denken. Diese Angst wird durch die jüngsten Terroranschläge geschürt, aber auch durch die undifferenzierten Analysen seitens vieler Medien und durch Pauschalierungen. Die Folge ist, dass man dazu tendiert, die Welt nur noch in Schwarz-Weiß zu sehen. Solche Ängste haben aber nicht nur die Nicht-Muslime derzeit. Auch wir Muslime haben Ängste. Es wäre falsch zu glauben, die Terroristen würden nur Nicht-Muslime attackieren. Jenen, die das Blutbad in Paris angerichtet haben, war egal, ob sich unter den Menschen auch Muslime befanden. Diese Terroristen sehen die Welt in Schwarz-Weiß - wir dürfen uns ihre Angewohnheiten nicht auch zu eigen machen. "Darum, wenn sie sich von euch fernhalten und nicht gegen euch kämpfen, sondern euch Frieden bieten; dann hat Allah euch keinen Grund gegen sie gegeben."1

Wie stark spüren Sie diese Ängste unter Muslimen zurzeit?

Sejdini: Die Angst ist auch unter Muslimen sehr groß. Die Muslime sind doppelt betroffen: Sie sind mögliche Opfer, sie sind aber auch Täter. Das macht in den Augen vieler alle Muslime gleich verdächtig.

Was wollen die Terroristen erreichen?

Sejdini: Sie wollen das zerstören, was wir hier in Europa haben. Sie haben ein Problem damit, dass wir in Frieden und Demokratie leben, in einer multikulturellen und multireligiösen Gesellschaft. Unser Zusammenleben widerspricht ihrer These, dass die Welt schwarz-weiß ist und dass alle Muslime auf der einen Seite sind, nämlich auf ihrer. Europa ist ganz anders, als sie es gerne hätten.

Die große Mehrheit der Flüchtlinge, die nach Europa kommen, sind Muslime. Was für einen Islam bringen sie mit?

Sejdini: Diese Menschen wollen in einer freien, demokratischen Gesellschaft leben, in der sie sich entfalten können. Und je mehr Muslime hierher kommen, desto größer wird der Widerspruch zu dieser radikalisierten Theologie des Islam. Man sollte deshalb Maßnahmen treffen, damit das Miteinander hier auch gelingt. Wir dürfen die Integration nicht wieder verschlafen, wie bereits in Vergangenheit. Es hat niemanden interessiert, was hier passiert, niemand wäre vor 20 Jahren auf die Idee gekommen, ein Theologiestudium zu gründen, obwohl die Muslime hier auch ihre Theologie bekommen sollten, damit wir das nicht ständig importieren von irgendwo.

Wie lassen sich die Prinzipien Europas mit jenen des Islam vereinbaren?

Sejdini: Den Islam gibt es ja nicht. So wie es das Christentum oder das Judentum nicht gibt. Auch einige christliche Strömungen zum Beispiel wären mit einer Demokratie nicht vereinbar gewesen. Es kommt nicht auf den Islam an, sondern auf die Theologie, die Glaubensvorstellungen, die daraus abgeleitet werden. Die wortwörtliche, unverrückbare Ableitung ist ein Theologieverständnis, das unserer Realität nicht entspricht.

Wieso gibt es so verschiedene Interpretationen des Islam?

Sejdini: Die Verschiedenheit hängt mit der Verschiedenheit der Menschen zusammen. Unterschiedliche Interpretationen sind im Grund eine Gnade - wir wollen ja nicht uniformiert werden. Problematisch ist, wenn das eine Gruppe missdeutet. So etwas kann man jedoch nie ausschließen oder vermeiden. Die Geschichte der Religionen ist voll mit solchen Vorkommnissen. Was man tun kann: sich klar gegen solche Splittergruppen stellen, sich nicht mit ihnen solidarisieren.

Sie sagen also, jede Religion muss immer wieder neu interpretiert werden, um ihren Bezug zur Gegenwart zu bewahren?

Sejdini: Wenn man den Glauben lebendig halten will, sollte er im Kontext der Gesellschaft interpretiert werden. Wir können Dinge nicht restlos verstehen, die vor 1.400 Jahren hinabgesandt wurden, auch weil wir den Kontext der damaligen Zeit nicht verstehen. Es gibt einige Verse im Koran, die schwer und problematisch zu verstehen sind - es wird über kriegerische Auseinandersetzungen gesprochen. Es hat keinen Sinn, solche Verse in die heutige Zeit wortwörtlich zu übertragen, weil die Realität und die Umstände völlig andere sind. Die Islamisten aber tun genau das.

Es gibt Passagen im Koran, in denen die Ermordung Andersgläubiger bejaht wird.

Sejdini: Stimmt. Aber die Islamisten übernehmen solche Verse, ohne dass sie zwischen dem Kontext der damaligen und der heutigen Zeit unterscheiden. Der Koran ist nicht in Kapitel eingeteilt, es steht auch nicht drinnen, wie man beten soll, was man essen darf, wen man töten soll und wen nicht. Es ist alles eingebettet in Erzählungen, so wie es in der Bibel ja auch großteils der Fall ist. Die unmittelbare Ableitung für die heutige Zeit ist problematisch.

Haben die Radikalisierten mit Religion also gar nicht viel am Hut?

Sejdini: Die Behauptung, die islamisch mitvierte Gewalt habe nichts mit dem Islam zu tun, ist genauso unreflektiert und falsch wie die Aussage, sie habe ausschließlich mit dem Islam zu tun. Es hat mit einer bestimmten Interpretation des Islam zu tun. Für diese Leute sind wir ungläubig - ich auch, indem ich all das sage, was ich jetzt gerade sage. Die Radikalisierten selbst behaupten, im Namen des Islam zu handeln. Ihr Islam sei der einzig wahre. Das ist falsch. Diese Leute berücksichtigen die islamische Tradition überhaupt nicht. Sie brechen mit der Tradition, indem sie einen völlig neuen, reformierten Islam ableiten. Für sie spielt es keine Rolle, was vor tausend Jahren gesagt wurde, sie versuchen, all das in ihrem Sinne auszulegen.

Was hat die Ideologie des Islamischen Staates noch mit dem Islam gemein?

Sejdini: Die Anhänger des Islamischen Staates (IS) haben vor Kurzem gesagt, sie würden auch die Kaaba in Mekka zerstören. Das sei Götzenanbeterei, sagen sie. Das steht im Widerspruch zu den islamischen Säulen, also zu all dem, was die Muslime seit 1.400 Jahren praktizieren. Trotzdem berufen sie sich immer wieder auf den islam. Es ist aber eine ganz bestimmte theologische Auslegung des Islam. Leider versuchen wir die derzeitigen Ereignisse nur religiös zu erklären. Das aber ist unzureichend, es gibt mehrere Ursachen.

Zum Beispiel?

Sejdini: Das Gewaltpotenzial, das dem Menschen innewohnt, wird in diesem Zusammenhang völlig ausgeblendet. Wir sind nun einmal nicht alle Engel. Es gibt viele nicht religiöse Menschen, die sehr viel Leid verursachen auf dieser Welt. Das sollte man mitberücksichtigen, wenn man auch verstehen und nicht nur urteilen will. Weiters gibt es die Geostrategie: Wir wissen nicht, wer wen aus welchen Gründen angreift, warum das Vakuum entstanden ist für die Entstehung des IS. Welche Umstände haben dazu geführt? Dazu kommen noch die sozialen Lebensumstände eines Menschen - Arbeit, ökonomische Verhältnisse, Integration in die Gesellschaft. Kommt dann noch die Hasstheologie dazu, dann entsteht eine gefährliche Mischung. Ich bin kein Radikalisierungsspezialist, ich bin Religionspädagoge, aber die Umstände drängen dazu, dass man sich mit all dem auseinandersetzt.

Die Islamisten missbrauchen die Religion für Ihre Zwecke?

Sejdini: Genau. Diese Hasstheologie findet aufgrund der eben genannten Umstände einen guten Nährboden. Menschen in solchen Situationen sind besonders anfällig und empfänglich. Es bringt uns nicht weiter, wenn wir uns also nur auf die Theologie konzentrieren, wenn wir die Ereignisse verstehen wollen.

Es ist also falsch, wenn sich der IS in seinem brutalen Vorgehen auf den Koran beruft?

Sejdini: Der Koran ist vor 1.400 Jahren geschrieben worden - die Situation der Menschen damals berücksichtigend. Für die Islamisten ist das irrelevant. Der Unterschied zwischen diesen und uns ist: Wir gehen den schwierigen Weg, den differenzierten, sie wählen den einfachen Weg: "Die Gesellschaft nimmt dich nicht an, komm zu uns, dann kannst du über Leben und Tod entscheiden. Du bist gut, die anderen sind schlecht."

"Diejenigen, die glauben, und diejenigen, die dem Judentum angehören, und die Christen und die Sabier (...), die brauchen keine Angst (wegen des Gerichts) zu haben, und sie werden (nach der Abrechnung am Jüngsten Tag) nicht traurig sein."2

Wie kommt die Gewalt in den Islam?

Sejdini: Die Gewalt kommt nicht in den Islam, sondern in die Theologie, also in das, was die Menschen aus dem Islam machen. Das hängt von jedem einzelnen Muslim selbst ab. Man kann in der Religion ein Gewaltpotenzial sehen - nicht nur im Islam, auch im Christentum, im Judentum und anderen Religionen. Wilfried Smith sagt, einige Leute werden durch Glauben, durch die Religion, zu großzügigen, guten, toleranten Menschen. Einige macht die Religion aber zu engstirnigen, schwierigen, isolierten Menschen. Es hängt von der Einstellung jedes einzelnen Menschen ab: Was erwarte ich mir von der Religion? Vom Koran? Was kann das heilige Buch mir geben? Übernehme ich alles eins zu eins oder nutze ich den freien Willen, den mir Gott gegeben hat?

Islamforscher werden immer wieder verfolgt und können ihrer Arbeit nur im Exil nachgehen. Warum ist es heute so riskant, über den Koran zu forschen?

Sejdini: Um mich selbst musste ich mir bisher zum Glück keine Sorgen diesbezüglich machen. Aber natürlich hört man von Kollegen immer weieder von Bedrohungen. Solche Entwicklungen betreffen uns alle. Es geht hier weniger um die Religion als vielmehr um eine Haltung. Wir müssen unseren Muslimen, die gerne hier leben, die aufgeschlossen sind, das andere Gesicht des Islam zeigen: So ist es nicht, wie die Islamisten das behaupten, es gibt auch die andere, zeitgemäße Interpretation des Islam. In Zeiten, wo es so viele Radikalisierte gibt, ist Aufklärung eine Verpflichtung.

Wo sehen Sie in diesem Zusammenhang Ihre Aufgabe?

Sejdini: Die islamische Theologie soll sich mit den eigenen Quellen und Lehren kritisch auseinandersetzen. Wir analysieren und diskutieren mit unseren Studierenden jene Stellen im Koran, die von den Islamisten missverstanden und missbraucht werden. Wie geht man damit um, wenn man Kinder in der Schule beim Anschauen solcher Hassvideos erwischt? Was kann man auch im Religionsunterricht tun, um dem entgegenzuwirken? Auch wir sind herausgefordert, unsere Schwerpunkte zu verlagern.

Das heißt konkret?

Sejdini: Bei der Ausbildung der Studenten sowie dem Religionsunterricht versuchen wir, uns mit diesen Problemen auseinanderzusetzen. Es ist wichtig, die alternativen Zugänge und Interpretationen des Islam zu erforschen, die es in der Tradition des Islam immer gegeben hat.

Wenn wir uns das Spanien ansehen im 8. bis ins 12. Jahrhundert - dort haben die Muslime in Frieden gelebt, sie haben in Wissenschaft und Kultur Großartiges geleistet, so dass wir heute vom goldenen Mittelalter sprechen.

Wir brauchen eine kritische Auseinandersetzung mit dem Koran und dem Islam. Wir müssen selbstkritisch sein, wir dürfen nicht in der Defensive bleiben.

Was sagen Sie einem jungen Muslim, der gegen den Wesen kämpfen woll?

Sejdini: Ich würde ihm erklären, dass das der leichte Weg ist und das nicht gottgewollt ist. Gott hat die Welt vielfältig erschaffen und uns Menschen mit dem freien Willen ausgestattet. Das hätte er nicht machen müssen. Ich würde ihm sagen, dass das kein Glaubenskrieg und der IS eine Struktur mit ihren eigenen Interessen ist, der die Religion egal ist.

Spielen diejenigen, die jetzt von Krieg reden, den Islamisten in die Hände?

Sejdini: Natürlich, weil der IS genau das will: einen totalen Krieg. Sie wollen die Harmonie in Europa zerstören und säen dafür Angst und Panik. Irgendwann weiß man nicht mehr zwischen Freund und Feind zu unterscheiden. Genau das wollen sie, denn sie wissen, militärisch werden sie Europa nicht zerstören können.

Wagen Sie eine Prognose?

Sejdini: Es ist schwierig abzuschätzen. Persönlich bin ich sehr besorgt. Diese Ereignisse nehmen so viel Energie in Anspruch, sind zugleich aber auch eine wichtige Chance für unsere Gesellschaft. Es ist eine Chance für uns Muslime, einen kritischen Blick auf unsere Theologie zu werfen. Es ist aber auch eine Chance für uns alle, die derzeitige Politik zu hinterfragen. Es ist auch eine Chance, noch näher zusammenzuwachsen, wenn wir den richtigen Weg gehen. Wir in Europa sind viel stärker, als die Islamisten glauben. Sie unterschätzen die Europäer und ihre aufklärerische Kraft. Mit ein paar Bomben können sie nicht das zerstören, was über Jahrhunderte aufgebaut wurde.

Europa selbst darf das auch nicht vergessen.

Sejdini: Richtig. Das ist die Chance, alles noch einmal neu zu bedenken und sich zu besinnen. Wir dürfen uns nicht auseinanderdividieren lassen. Wir können das nur gemeinsam schaffen.

Gibt es etwas, das am Koran besonders sympathisch ist?

Sejdini: Es gibt sogar sehr viele sympathische Verse im Koran. Aber wenn ich die schönen Stellen herausnehme, halten die Radikalen die anderen Stellen entgegen. Es ist dann gewissermaßen eine Pattsituation. Die Frage ist vielmehr: Was will der Koran leisten? Ist gedacht, dass man alles aus diesem Buch schöpft, oder geht es nur um einige Prinzipien? Ich sage, es sind einige Prinzipien. Es gibt zum Beispiel einen Vers, der besagt, dass es keinen Zwang gibt in der Religion. Oder: Juden und Christen haben nichts zu befürchten, weil sie im Jenseits zu jenen gehören, die gerettet werden. Noch ein Beispiel: Wenn euch jemand in Frieden begegnet, dann lässt euch Gott keine andere Möglichkeit, als auch mit Frieden zu begegnen.

Wir wissen seit Lessing: Es kommt immer drauf an, was man aus dem Glauben macht.

Sejdini: Richtig. Unsere Zukunft wird nicht geprägt von einigen Anschlägen oder von den Terroritsten des IS, sondern von unseren Antworten auf diese Ereignisse.

Interview: Alexandra Aschbacher

1 Auszug aus dem Koran. 2 Auszug aus dem Koran. © ff - Das Südtiroler Wochenmagazin: Nr. 49 (2015).
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