Der Umgang mit Behinderung aus islamischer Sicht
Behinderung als Begriff und in der Gesellschaft
Zahlreiche Menschen leben mit einer Behinderung oder kennen Menschen, die von einer solchen betroffen sind. Den Begriff „Behinderung“ in allen seinen Dimensionen zu definieren ist nicht einfach, denn was genau darunter zu verstehen ist und wie die Abgrenzung zur Nichtbehinderung erfolgt, hängt von der Art der Behinderung, aber auch dem gesellschaftlichen Verständnis ab. Im deutschen Sozialgesetzbuch IX § 2 wird Behinderung wie folgt definiert: „Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Sie sind von Behinderung bedroht, wenn die Beeinträchtigung zu erwarten ist“.1
Die Integration von Menschen mit Behinderung in der Gesellschaft hängt von der Einstellung und der Akzeptanzbereitschaft nichtbehinderter Menschen ab. Die Art der Behinderung, das Ausmaß ihrer Sichtbarkeit und andere Faktoren spielen dabei eine Rolle. Allgemein kann gesagt werden, dass Menschen mit Behinderung vielen Hürden ausgesetzt sind, weil sie den gesellschaftlichen Erwartungen nicht entsprechen und gewisse Handlungen nicht oder nicht allein oder in gleicher Weise wie Menschen ohne Behinderung ausführen können. Oft werden sie nicht als Individuum, sondern in erster Linie als eine Person mit Behinderung angesehen.2 Diese Einstellung zeigt sich auch innerhalb der muslimischen Gemeinschaft, wo Menschen mit Behinderung oft stark benachteiligt werden.
Aus islamischer Perspektive
Über das Thema Behinderung wird im Koran nur wenig berichtet. Die in diesem Zusammenhang auftauchenden Begriffe wie taub, stumm oder blind sind meist metaphorisch zu verstehen: Menschen, die die Wahrheit erkannt haben und sie wegen ihres Egoismus leugnen, werden im Koran oft als blind und taub bezeichnet.3
Im Islam wird eine Behinderung als eine gottgegebene Sache und nicht im Sinne von Strafe, sondern im Sinne einer Prüfung oder anderer Gründe, die nur Gott kennt, verstanden. Die Prüfung gilt dabei oft nicht der behinderten Person selbst, sondern indirekt ihren Bezugspersonen. Für solche Prüfungen und die damit verbundene aufgebrachte Hilfe und Geduld können die Bezugspersonen auf Belohnung im Jenseits hoffen. Dahinter steht der ethische Gedanke der Fürsorge, die betroffenen Menschen nicht mit ihrem Schicksal alleine zu lassen und ihnen zu helfen.4
Als Grundlage für die Thematik dient folgender Vers: „(Ihr alle, o Gläubige, seid Brüder: daher) trifft den Blinden kein Tadel, noch trifft den Lahmen Tadel, noch trifft den Kranken Tadel (dafür, milde Gaben vom Gesunden anzunehmen), und auch nicht euch selbst dafür, zu essen (was immer euch von anderen angeboten wird, ob es Speise sei, erhalten) von euren Häusern (eurer Kinder) oder den Häusern eurer Väter oder den Häusern eurer Mütter […].“5
Die genannten Eigenschaften blind (aʿma), lahm (aʿraǧ) und krank (marīḍ) können hierbei stellvertretend für alle anderen physischen und psychischen Einschränkungen verstanden werden. Dieser Vers bringt zum Ausdruck, wie MuslimInnen Menschen mit Behinderung behandeln sollten: Ein/e MuslimIn sollte nicht zwischen einem Menschen mit und ohne Behinderung unterscheiden – Gesunde können ihre Mahlzeit mit Kranken und Behinderten ebenso teilen wie mit nichtbehinderten Menschen. Man nimmt an, dass Gott mit diesem Vers gegen die Gewohnheit in vorislamischen Gesellschaften vorgehen wollte, in denen es Menschen mit Behinderung sowie Kranken nicht gestattet war, gemeinsam mit Gesunden an einem Tisch zu essen. Behinderte und Kranke galten als verdammt oder als Missetäter, die ihr Schicksal als Bestrafung verdient hätten, während die Einwohner von Medina beispielsweise mit Behinderten und Kranken nicht speisten, da sie diese für schmutzig hielten. Gott möchte durch diesen Vers die gesellschaftliche Stellung von Kranken und Behinderten verbessern, indem Er sagt „trifft den Blinden kein Tadel…“ Durch diesen Vers wird die Annahme verworfen, Menschen mit Behinderung seien in irgendeiner Weise selbst schuld an ihrem Schicksal oder würden den Preis für die Sünden der eigenen Eltern bezahlen.
Ausgrenzung behinderter Menschen in der muslimischen Gesellschaft
Obwohl also behinderte Menschen nach islamischem Verständnis in die Gesellschaft integriert leben sollten, befinden sie sich auch heutzutage nicht selten in einer schwierigen Lage. Oft sehen Angehörige und Nahestehende die Ursachen einer Behinderung nicht ein, weshalb häufig mit falschen Annahmen und Begründungen versucht wird, die Behinderung der betroffenen Person zu legitimieren. Dies kann den behinderten Menschen verletzen und ihm ein Gefühl der Ausgrenzung geben.6
Die Ausgrenzung behinderter Menschen in der muslimischen Gesellschaft wird auch aus einer Statistik aus dem Jahr 2002 zur Anzahl der Menschen mit Behinderung in ausgewählten MENA-Staaten (Staaten des Mittleren Ostens und Nordafrikas) ersichtlich, wobei man davon ausgeht, dass die Zahlen zu niedrig geschätzt sind, denn viele Fälle werden den Behörden gar nicht gemeldet, sondern von den Familien verschwiegen, was mit vorherrschenden Einstellungen und Traditionen zu tun hat. Aus diesem Grund erscheinen die Zahlen behinderter Menschen in den MENA-Staaten, in denen Großteils Muslime leben, so gering und damit auf den ersten Blick unproblematisch.7
Die Wahrheit ist allerdings, dass Menschen mit körperlichen, geistigen oder psychischen Einschränkungen in diesen Ländern in ihrem Alltag vor großen Herausforderungen stehen. Dazu gehören fehlende oder stark beschränkte Zugangsmöglichkeiten zu öffentlichen Einrichtungen. Grundsätzlich fehlt behinderten Menschen der Raum, sich selbst zu entfalten und auch zur Entwicklung des eigenen gesellschaftlichen Umfeldes beitragen zu können.
Muslimische Kinder und Behinderung
Die Ablehnung gegenüber behinderten Menschen in der islamischen Welt macht leider auch vor den Kleinsten nicht Halt; so zeigt eine weitere Studie zu Behinderungen von Kindern in Kairo8 klar eine Ablehnung behinderter Kinder in der ägyptischen Gesellschaft. Demnach werden diese Kinder oft als minderwertig wahrgenommen. Zudem sind sie wegen ihrer Behinderung stärker gefährdet, misshandelt zu werden, was insbesondere auf diejenigen zutrifft, die in speziellen Einrichtungen betreut werden. Durch einen noch weit verbreiteten Volksglauben, demzufolge böswillige Geister, sog. Dschinn, Kinder und Erwachsene mit Behinderungen „strafen“, werden Betroffene von der Mehrheitsgesellschaft immer mehr ausgegrenzt und an den sozialen Rand gedrängt.9
Die muslimische Sozialpädagogin Rukiye Kilic fokussiert sich in dieser Thematik vor allem auf das Eltern-Kind-Verhältnis und erzählt dabei in einem Interview mit der „Citizenship Education and Islam“ über den Alltag von muslimischen Kindern mit Behinderung. In diesem Interview behauptet auch sie, dass behinderte Personen in muslimisch geprägten Ländern meistens nicht als „vollkommen“ betrachtet werden. Sie werden zwar nicht gänzlich ausgeschlossen, doch wird ihnen nur sehr wenig Selbstständigkeit zugestanden, was vor allem Kinder daran hindert, sich tatsächlich entfalten zu können. Darüber hinaus sei eine Auseinandersetzung mit der Beeinträchtigung kaum vorhanden und die gesellschaftliche Annährung findet eher auf der emotionalen Ebene statt, indem man den Betroffenen und deren Familien Mitleid entgegenbringt. Zudem gibt es in vielen muslimischen Familien Eltern, die ihre behinderten Kinder von der Außenwelt isolieren. Eine Separation behinderter Menschen von ihrer Umwelt und sozialen Umgebung ist jedoch mit islamisch-ethischen Vorstellungen nicht vereinbar, es sei denn, es handelt sich um eine ärztliche Verordnung.
Die Rolle von Familie und Gesellschaft
Ein Leitgedanke der islamischen Soziallehre basiert auf dem Grundgedanken, dass eine durch Krankheit oder Behinderung in Not geratene Person immer auf den Schutz der islamischen Gemeinschaft zählen kann. Hilfe und Pflege erfolgen in muslimischen Familien meistens durch eigene Familienmitglieder. Viele Familien setzen auf Koranrezitationen und bestimmte Gebete oder suchen Hilfe bei einem Imam. Neben dieser spirituellen, traditionell-religiösen Unterstützung wird natürlich auch therapeutische Behandlung und innovative Medizintechnik in Anspruch genommen. Außer von Familienangehörigen erhalten Betroffene Hilfe aber auch von außen nach dem Prinzip des bereits erwähnten Schutzes der islamischen Gemeinschaft10: Oft werden an Freitagsgebeten in Moscheen, in muslimischen Gemeinden und Hilfsorganisationen Spenden für Betroffene gesammelt, denn der Koran fordert die MuslimInnen an vielen Stellen auf, sich für andere Menschen und ihr Wohlergehen einzusetzen.
Ausblick
Der Umgang mit Menschen mit Behinderung hat sich in den letzten 40 Jahren kontinuierlich verbessert. In allen Bereichen wird dafür Sorge getragen, diesen Menschen das Leben zu erleichtern und sie in die Gesellschaft zu integrieren. Inklusion ist in allen Lebensbereichen zu einer wichtigen Aufgabe geworden, auch wenn noch viel Nachholbedarf besteht. Ohne generalisieren zu wollen, kann aber behauptet werden, dass der Umgang mit Menschen mit Behinderung unter MuslimInnen, mit wenigen Ausnahmen, noch nicht das Niveau der europäischen bzw. westlichen Länder erreicht hat. Die Gründe dafür sind vielschichtig und können nicht monokausal erläutert werden. Dennoch sticht hervor, dass die klassischen theologischen Ansätze, neben vielen anderen Faktoren, eine wesentliche Rolle dabei spielen, dass Inklusion kein großes Thema in mehrheitlich muslimischen Gesellschaften ist und im Hinblick auf den Umgang mit Menschen mit Behinderung noch viel zu tun ist. Hier neue Zugänge und Ansätze zu schaffen bildet also eine dringende Aufgabe der islamischen Theologinnen und Theologen.