Koranische Zugänge zum Menschsein
Im Kontext unserer pluralen und säkularen europäischen Gesellschaft ergibt sich aus muslimischer Perspektive die Notwendigkeit zu klären, wie mit der weltanschaulichen Vielfalt umgegangen werden kann, die dieser Gesellschaft innewohnt.1 Als diesbezüglicher Ausgangspunkt bietet sich das Menschenbild an. Denn es ist das „schlichte Menschsein“2, das alle Bewohner dieser Erde jenseits aller Glaubensüberzeugungen verbindet.3 Nun stellt sich die Frage, was aus koranischer Sicht dieses Menschsein heute bedeutet.
Aus dem Koran als Hauptquelle des Islams lassen sich unterschiedliche Menschenbilder herauslesen. Dies hängt einerseits mit der „Perspektivität der Menschen“4 zusammen, aber auch damit, dass sich „unterschiedliche, ambivalente, ja teilweise sogar widersprüchlich erscheinende Aussagen“5 im Koran finden, die sich vielfältig interpretieren lassen. Das Fehlen einer Institution „Kirche“ im Islam, die die Quellen verbindlich deuten würde, stellt im Hinblick auf diese Möglichkeitsoffenheit einen positiven Umstand dar. Unterschiedliche theologische Ansätze basieren auf unterschiedlichen Interpretationen. So liegen gewissen traditionellen, wenig Spielraum lassenden Theologien entsprechende einschränkende Menschenbilder – und damit verbunden auch Frauenbilder – zugrunde.6 Doch besteht ebenso gut die Möglichkeit, „aus den islamischen Quellen Menschenbilder zu gewinnen, die dem gegenwärtigen Kontext entsprechen, das humanistische Menschenbild bekräftigen und neue theologische Ansätze im europäischen Kontext ermöglichen.“7
Diese Möglichkeit zu nützen ist heute dringend geboten, wenn Musliminnen und Muslime als Teil der Gesellschaft an deren positiver Zukunft teilhaben und mitgestalten wollen.
Es gibt einige relevante Faktoren hinsichtlich der Überlegungen zu einem koranischen Menschenbild. Dazu zählen die Würde des Menschen, die Freiheit und die Vernunft. Die menschliche Verantwortung lässt sich aus diesen dreien herleiten.8 Auch die Geschöpflichkeit des Menschen stellt einen wichtigen Aspekt einer koranischen Anthropologie dar.9
Die Geschöpflichkeit des Menschen
Nach koranischer Auffassung erschuf Gott den Menschen aus freier Entscheidung und setzte ihn als Kalifen (arab. ḫalīfah), d.h. Statthalter (Asad übersetzt mit Erben10) auf der Erde ein (Koran 2:30).11 Mehrere Koranstellen nehmen auf die Erschaffung des Menschen Bezug und enthalten etwa den Hinweis auf „die Erschaffung des Menschen in der bestmöglichen Form (32:7) [und] die Einhauchung des göttlichen Geistes (32:9)“12. Solche Koranstellen verweisen auf die besondere Stellung des Menschen innerhalb der Schöpfung, woraus auch die menschliche Würde ableitbar ist.13
Die Würde des Menschen
Aus dem Koran geht klar hervor, dass Gott allen Menschen Würde verliehen hat. Daraus folgt, dass das Absprechen dieser Würde eines Menschen durch einen anderen nicht möglich ist, sie ist unantastbar und besteht unabhängig von Geschlecht, Ethnie, Religionszugehörigkeit und anderen Faktoren. So heißt es im Koran (17:70): „[N]un haben wir fürwahr den Kindern Adams Würde verliehen und sie über Land und Meer getragen und für sie Versorgung von den guten Dingen des Lebens bereitet und sie weit über das meiste unserer Schöpfung begünstigt".14
Dieser Vers stellt den direktesten koranischen Bezug zur menschlichen Würde her. Auch wenn im Koran nicht konkret definiert wird, worin genau diese Würde der „Kinder Adams“, also aller Menschen besteht,15 bildet sie die elementare Basis für „ein inklusivistisches Verständnis, aus dem dann auch die Menschenrechte begründet werden können.“16 Von muslimischer Seite oft (argwöhnisch) als westliches Produkt betrachtet, können diese „als eine moderne Auseinandersetzung mit der Menschenwürde und als Bestreben verstanden werden, dieser Würde eines jeden Menschen eine rechtsverbindliche und sanktionierbare Grundlage zu geben.“17
Unternimmt man an dieser Stelle einen kurzen Exkurs zur Stellung der Frau im Islam, so wird klar, dass in der islamischen Frühzeit diesbezüglich positive Grundlagen gelegt worden sind. So trägt etwa die Frau keine Urschuld und wurde nicht länger als erbbarer Besitz betrachtet, sondern erhielt ihrerseits das Recht auf Erbschaft. Diese Grundlagen wurden jedoch in der Folge in Theologie und Gesellschaft nicht weiterentwickelt.18 Vor dem damaligen Kontext waren sie ein bedeutender Fortschritt, doch stellen „die religiösen Bestimmungen hinsichtlich der Rechte der Frauen […] keine endgültige Norm dar, die nicht verbessert werden kann, sondern ein Minimum an Rechten, das nicht unterschritten werden darf.“19
Die Achtung und Anerkennung der Menschenwürde und damit zusammenhängend auch der Menschenrechte bildet heute „eine fundamentale Voraussetzung für die Gleichberechtigung aller Menschen und […] somit auch die Grundlage jeglicher Bildung, speziell interreligiöser Bildung.“20
Die Freiheit des Menschen
Mit der Würde des Menschen ist die menschliche Freiheit verbunden. Sie wurde im Laufe der islamischen Theologie- und Philosophiegeschichte in Abhängigkeit von den verschiedenen Denkschulen kontrovers diskutiert. Dabei ging es darum, Wesen und Grenzen dieser Freiheit zu definieren, denn Freiheit kann nicht auf die Autonomie des Menschen ohne „seine grundsätzliche Bezogenheit“21 auf „Gott, die Mitmenschen und die Welt“22 beschränkt werden.
Der Koran enthält auch bezüglich der menschlichen Freiheit ambivalente und unterschiedlich deutbare Verse. So wird einerseits auf die Freiheit und Eigenverantwortung des Menschen hingewiesen (Koran 6:164), andererseits wiederum auf seine Vorherbestimmung (Koran 9:51; 57:22). Nach genauerer Analyse lässt sich anhand mancher Koranstellen zwar eine „prädestinatianische Sprache“23 feststellen, eine „prädestinatianische Lehre“24 kann aus dem Koran jedoch nicht abgeleitet werden. Mithilfe der prädestinatianischen Sprache werde klargestellt, dass der Mensch „seine Freiheit nicht gegen den Willen Gottes, sondern durch dessen ausdrücklichen Wunsch und Erlaubnis erhalten hat.“25 Der menschliche freie Wille könne als „ein Wesensmerkmal des Menschen“26 angesehen werden. Der marokkanische Philosoph Mohammed Aziz Lahbabi (gest. 1993) formuliert dies folgendermaßen: „Die Autonomie ist keine Ansicht des Geistes, sondern eine fundamentale, natürliche Grundstruktur unseres Seins“.27 Wichtig ist, nie zu vergessen, dass es „nicht um eine schrankenlose Verwirklichung der eigenen Freiheit gehen [darf], sondern um ein Wechselspiel von Autonomie und Interdependenz.“28
Die Freiheit des Menschen beinhalte auch die Möglichkeit, sich für oder gegen einen Glauben an Gott zu entscheiden: „Nur dort, wo es Freiheit gibt, für oder gegen Gott zu sein, kann von einer authentischen Religiosität ausgegangen werden. Dies wird auch im Koran verdeutlicht. Dort heißt es: »(Es ist) die Wahrheit (die) von eurem Herrn (kommt). Wer nun will, möge glauben, und wer will, möge nicht glauben! … « (18:26)“29
Dieser Zugang zu einem unaufgezwungenen, als persönliche Erfahrung gelebten Glauben kann heute zu einer „wertschätzenden Haltung gegenüber dem Anderem in einer multikulturellen und multireligiösen demokratischen Gesellschaft“30 leiten.31
Die Vernunft des Menschen
Der Glaube steht in enger Beziehung zur Vernunft. Sie wird als „Fähigkeit zur Verhältnisbestimmung zwischen Gut und Böse, zur Auseinandersetzung mit Freiheit und Bezogenheit, die Fähigkeit, die es ermöglicht, Freiheit und Bezogenheit in ein angemessenes Verhältnis zu bringen“32 bezeichnet. Der Koran fordert den Menschen zum Gebrauch der Vernunft auf.33 Durch sie ist es dem Menschen möglich, „sich von der göttlichen Botschaft ansprechen zu lassen und auf diese zu antworten.“34 Mithilfe der Vernunft ist der Mensch aber auch in der Lage – und er hat auch die Verpflichtung dazu – sich und die Gesellschaft, in der er lebt, weiterzuentwickeln.35
Die Verantwortung des Menschen
Mit Freiheit und Vernunft eng verbunden ist die Verantwortung, die „zum angemessenen Umgang mit Menschen und zum richtigen Gebrauch von Gütern leitet“.36 Dem Menschen wurde nach islamischem Verständnis die gesamte Schöpfung, für die er ein zeitlich begrenztes Nutzungsrecht hat, als anvertrautes Gut (arab. amānāh) übergeben.37 Gleichzeitig wird vom Menschen „ein verantwortungsvoller Umgang erwartet, der in letzter Instanz vor Gott verantwortet werde muss.“38
Das bisher Gesagte mag angesichts der historischen wie aktuellen Praxis vielen als allzu idealistische Theorie erscheinen. Doch soll aufgezeigt werden, welche Möglichkeiten der islamischen Religion innewohnen, „die ganze Menschheit anzusprechen“39 als „eine der hervorragenden Möglichkeiten und Wege, Mensch zu sein“40.