Experte: Radikalisierung nicht primär religiös motiviert

Zeitungsbeitrag 10.08.2016 Gabriele Starck

Übergriffe von Flüchtlingen auf Frauen, Terroranschläge - all das wird in Europa gern mit dem Islam in Verbindung gebracht. Doch hat es wirklich etwas mit Religion zu tun?


Innsbruck - Die Stellung der Frau unter den Muslimen ist für Zekirija Sejdini durchaus verbesserungswürdig. Doch ein ausschließlich religiöser Hintergrund für sexuelle Übergriffe auf westliche Frauen wäre für den islamischen Religionspädagogen von der Uni Innsbruck eine viel zu einfache Erklärung. Die Täter mögen muslimisch sein, doch sie handelten nicht aus ihrer muslimischen Perspektive heraus, sagt er: "Denn ein gläubiger, frommer Mann trinkt nicht, geht nicht zu solchen Feiern und fasst schon gar nicht eine fremde Frau an."

Sejdini räumt ein, dass die Frau in einigen muslimischen Ländern heute sogar schlechter gestellt sein könnte als noch vor 1400 Jahren - zur Zeit des Propheten. Denn in seinen Anfängen sei der Islam revolutionär gewesen. Gott habe damals etwa über Mohammed offenbart, dass Frauen erbberechtigt seien. Doch der progressive Ansatz von damals wurde nicht weiterentwickelt, beklagt Sejdini. "Das liegt nicht an der Religion, das liegt an der Faulheit und Feigheit der Muslime." Jede Revolution verblasse mit der Zeit, wenn sie nicht weitergeführt werde. Dabei wäre "Gott nicht beleidigt, wenn man die Stellung der Frau verbesserte. Es wäre sogar ganz in seinem Sinne."

Für Sejdini liegt ein Problem darin, dass der Koran vielfach wortwörtlich genommen wird, ohne zu hinterfragen, in welchem Kontext - also in welcher Zeit, an welchem Ort und in welcher Situation - die Botschaft damals gesendet wurde. "Aber wenn wir etwas verstehen wollen von unserer Religion, dann müssen wir den Sinn erfassen und ihn ins Heute transferieren." Darin sieht er auch seine primäre Aufgabe als Religionspädagoge an der Uni. "Ich sage meinen Studierenden immer, dass wir manchmal nicht einmal in der Lage sind, Texte zu verstehen, die vor 50 Jahren geschrieben wurden. Also kann es auch nicht leicht sein, einen 1400 Jahre alten Text zu verstehen - selbst wenn es sich um Gottes Wort handelt." Ein angemessener Zugang zu den religiösen Quellen benötige Mündigkeit und einen kritischen Geist.

Sejdini versteht die Ängste der Europäer nach den Vorfällen von Köln oder den Attentaten von Paris oder Brüssel. Er warnt aber davor, die Radikalisierung für primär religiös motiviert zu halten. Das hänge viel mehr mit dem Umfeld zusammen bzw. auch damit, dass jemand persönlich oder sozial in Schwierigkeiten gerate, sich in einer Sackgasse fühle. So werde man empfänglich für radikale bzw. idealisierte Weltrettungsvorstellungen und das gelte nicht nur für Muslime. Auch verweist er darauf, dass die Attentäter von Paris und Brüssel alle einen kriminellen Hintergrund hatten - Autodiebe oder Bankräuber waren - und nicht besonders religiös oder gar fromm waren.

Um auf falsche Bilder nicht hereinzufallen hält es der Wissenschafter deshalb für unerlässlich, die Kontingenzsensibilität beider Seiten zu stärken. Was er damit meint, ist, dass auch etwas anderes möglich sei, als es tatsächlich ist, und dass wir das Mögliche nicht geringer schätzen als das Wirkliche. Und dass man diese Kontingenz nicht als Hindernis sieht, das aus dem Weg geräumt werden muss, sondern als Potenzial, aus dem man schöpfen kann. "Ohne dieses Bewusstsein kann eine multireligiöse Gesellschaft nicht bestehen."

In diesem mangelnden Bewusstsein sieht der Religionspädagoge auch die momentan größte Gefahr für Europa. Gerate man in Panik, erreiche der Terror sein Ziel, nämlich durch das Misstrauen dem anderen gegenüber das Zusammenleben unmöglich zu machen. Sehe man in jedem Andersgläubigen eine Gefahr, funktioniere die Gesellschaft nicht mehr, warnt er und richtet seine Worte an Muslime wie Christen. "Das wissen die Angreifer. Ihnen ist klar, dass sie uns militärisch nie besiegen könnten. Aber wenn sie im Inneren Unfrieden und Misstrauen stiften, dann schaffen sie es, dass wir uns selbst zerstören." Sejdini ist optimistisch, dass "wir die Herausforderung bewältigen können". Er sagt: "Die europäische Gesellschaft ist stärker, als die Terroristen glauben."

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