Geduld (ṣabr) – eine hochgeschätzte Tugend im Islam

Artikel 26.09.2022 Redaktionsteam

Der vorliegende Artikel beschäftigt sich mit der Bedeutung der Geduld (arab. ṣabr) im islamischen Glauben. Nach einer Einführung in die Begrifflichkeit wird das Konzept von ṣabr mithilfe von Koranversen und Hadithen erläutert. Am Ende des Artikels werden die Kategorisierungen der Geduld von den muslimischen Gelehrten Faḫr ad-Dīn ar-Rāzī und Abū Ḥāmid Muḥammad al-Ġazzālī dargestellt.


Etymologie

Geduld ist eine hochgeschätzte Tugend im Islam, die ihren Ursprung in der Rede Gottes, dem Heiligen Koran, hat. Der arabische Begriff ṣabr stammt aus der Wurzel ṣ-b-r und kann nur schwer mit einem einzigen Wort ins Deutsche übersetzt werden. Vielmehr handelt es sich hierbei um ein Konzept, welches im Zuge dieses Beitrages vorgestellt werden soll. Dennoch gibt es Bestrebungen, den Begriff ṣabr mit nur einem einzigen Wort zu übersetzen; Geduld oder Ausdauer werden hierfür am häufigsten benutzt. Das Verbalsubstantiv hingegen kann die Bedeutung fesseln oder binden haben. Allerdings ist anzumerken, dass der Begriff bzw. Ableitungen davon (ṣābirīna1, ṣabarū2, ṣabbārin3) im Koran hauptsächlich in Zusammenhang mit der Geduld vorkommen.4

Ṣabr als Konzept

Wie schon in der Einleitung erwähnt, steckt hinter dem Begriff ṣabr vielmehr ein Konzept als ein einfaches Wort. Dieses Konzept der Geduld trifft oft mit dem Konzept der Dankbarkeit Gott gegenüber (ḥamd) sowie auch mit jenem des Vertrauens in Gott (tawakkul) zusammen.

Nach dem islamischen Glauben stellt das Leben insgesamt eine Herausforderung für die Menschen dar.5 Diese besteht aus unterschiedlichen kleineren oder größeren Prüfungen in allen Lebensbereichen. So heißt es in Koran 2:155: „Und ganz gewiß werden Wir euch prüfen mittels Gefahr und Hunger und Verlust von weltlichen Gütern und Leben und Früchten (der Arbeit). Aber gib jenen frohe Kunde, die geduldig in Widrigkeit sind.“6

Aus diesem Koranvers geht hervor, dass jeder Mensch vor unterschiedliche Herausforderungen gestellt wird und dass es darauf ankommt, diesen mit Geduld zu begegnen – einer Tugend, die sowohl für das Diesseits als auch für das Jenseits von Relevanz ist.

Im Falle von Schicksalsschlägen ist es geboten, Ruhe zu bewahren und sich zu gedulden. So ist vom Gesandten Muhammad Folgendes überliefert: „Die wahre Geduld ist beim ersten Anzeichen eines Unglücks.“7 Geduld und Dankbarkeit sind hochgeschätzte Eigenschaften, wenn einem Menschen etwas Schlechtes zustößt. Denn Gott verspricht im Koran, dass er keinen Menschen mit etwas prüfen wird, was dieser nicht aushalten kann. So heißt es in Koran 2:286: „Gott belastet keinen Menschen mit mehr, als er gut zu tragen vermag […].“8 Weiters verspricht Er in Koran 94:6, dass mit jeder Herausforderung auch eine Entlastung stattfindet: „Wahrlich, mit jeder Härte kommt Erleichterung!“9 Eine Person, die sich aktuell in einer schwierigen Lage befindet, kann durch Geduld und Dankbarkeit das Gute in der jeweiligen Sache sehen, was im besten Fall zu einer Verbesserung des seelischen Zustandes führen kann. Denn Gott sagt im Koran sinngemäß, dass der Mensch eine Sache begehren kann, die für ihn schlecht ist, und wiederum eine Sache verachten, die gut für ihn ist.10

Gottvertrauen (tawakkul) ist eine weitere Tugend, die im Zusammenhang mit der Geduld kommt. Ein Beispiel, bei dem sowohl die Geduld (ṣabr) als auch das Gottvertrauen (tawakkul) zum Vorschein kommen, ist jenes des Propheten Hiob (arab. Ayyūb). Dieser soll ein vermögender und gesunder Mann gewesen sein, bis er von Gott geprüft wurde und sowohl sein Vermögen als auch seine Gesundheit verlor. Trotzdem zeigte sich Hiob geduldig und bat erst dann um Gesundheit, als die Krankheit seine Zunge zu treffen drohte und er somit nicht mehr in der Lage gewesen wäre, Gott anzubeten. In Koran 21:83 heißt es diesbezüglich: „Und (gedenke) Hiobs, als er zu seinem Erhalter ausrief: ‚Heimsuchung hat mich getroffen: aber du bist der Barmherzigste der Barmherzigen!‘“11 Auf Gott zu vertrauen und geduldig zu bleiben heißt allerdings nicht, dass man nicht trauern darf. Denn Trauer ist eine natürliche menschliche Emotion. Vielmehr ist es der betroffenen Person geboten, sich stets an die Barmherzigkeit Gottes zu erinnern und auf Besserung zu hoffen. „Damit ist Geduld keine Passivität oder Legitimation fürs Nichthandeln, sondern auch eine aktive Handlung, Hilfe bei Gott und den von ihm erschaffenen Mitteln zu suchen.“12

Es ist auch anzumerken, dass das Üben von Geduld eine gottesdienstliche Handlung darstellt. So wird die betroffene Person einerseits dafür belohnt, andererseits werden ihr für das Leiden vergangene Sünden verziehen. Folgendes wird vom Propheten Muhammad überliefert: „[…] kein Muslim wird mit irgendeinem Schaden behaftet, ohne dass Allah seine Sünden beseitigen wird, wie die Blätter eines Baumes herabfallen."13

Der überaus hohe Stellenwert der Geduld zeigt sich auch darin, dass zu den sogenannten Schönsten Namen Allahs (asmāʾ Allāh al-ḥusnā) der Name aṣ-Ṣabūr (der Geduldige) gehört. So ist die Geduld Gottes die höchste und vollkommenste Art der Geduld.

Zahlreiche andere Koranverse thematisieren ebenso die Geduld, wie beispielsweise 3:17, 7:126, 39:10 und 8:66.

Kategorisierungen von ṣabr

Der muslimische Philosoph Faḫr ad-Dīn ar-Rāzī (gest. 1209) unterschied vier Arten von ṣabr. Die erste Art ist die Geduld bei komplexen intellektuellen Angelegenheiten, insbesondere bei Streitfragen, die keine klare Lösung geboten haben. Die zweite Art ist das konsequente Einhalten und Ausüben von gebotenen und empfohlenen Praktiken. Anknüpfend daran folgt als nächste Art der Geduldsausübung die Standhaftigkeit bei der Einhaltung von religiös verbotenen Handlungen. Ṣabr bei Schicksalsschlägen und Erschwernissen stellt die letzte Kategorie dar. Hierzu zählen auch zwischenmenschliche Beziehungen.14

Der bekannte Gelehrte Abū Ḥāmid Muḥammad al-Ġazzālī (gest. 1111) hingegen kennt zwei Arten von Geduld: die physische und die spirituelle. Unter physischer Geduld versteht er zum einen das aktive Ertragen von körperlichem Leid und zum anderen passives Leid, beispielsweise beim Ausführen von anspruchsvollen physischen Tätigkeiten. Auch kategorisiert er die Personengruppen jener, die Geduld üben. Die erste Gruppe stellen Menschen dar, bei denen sich die Geduld zu einer dauerhaften Charaktereigenschaft entwickelt hat. Die zweite Gruppe sind diejenigen, die ihre Triebe nicht kontrollieren können. Diejenigen, die in einem kontinuierlichen Kampf zwischen den ersten beiden Fällen sind, bilden die dritte Gruppe.15

Fazit

Wie aus den angeführten Beispielen ersichtlich, hat ṣabr eine überaus hohe Stellung im Islam. Ṣabr ist als ein Konzept zu verstehen, welches mit anderen Tugenden, wie Dankbarkeit oder Gottvertrauen, zusammenhängt. Geduld ist in allen Lebensbereichen geboten und wird belohnt. Zweifelsohne hat sich die Definition des Begriffes ṣabr im Laufe der Zeit und je nach Kontext weiterentwickelt. Grund dafür ist unter anderem, dass neue Herausforderungen eine neue Art von Geduld erfordern. Das heißt in weiterer Folge, dass auch in künftigen Zeiten die Definition dieses Begriffes beziehungsweise dieses Konzeptes variabel sein wird.

1  Vgl. Koran [2:155].

2 Vgl. Koran [28:54].

3 Vgl. Koran [14:5].

4 Vgl. A. J. Wensinck: »Ṣabr«, in: Encyclopaedia of Islam, Second Edition (2012), S. 1-4, hier S. 1.

5 Vgl. Koran [2:214]; [21:35].

6 Koran [2:155], nach Muhammad Asad: Die Botschaft des Koran. Übersetzung und Kommentar, Ostfildern: Patmos Verlag 2013.

7 Ṣaḥīḥ al-Buḫārī, 23, 60 (Übers. d. Verf.).

8 Koran [2:286], nach Asad 2013.

9 Koran [94:6], nach Asad 2013.

10 Vgl. Koran [2:216].

11 Koran [21:83], nach Asad 2013.

12 Cemil Şahinöz: Seelsorge im Islam. Theorie und Praxis in Deutschland, Wiesbaden: Springer 2018, S. 41.

13 Ṣaḥīḥ al-Buḫārī, 75, 7 (Übers. d. Verf.).

14 Vgl. A. J. Wensinck: Ṣabr, S. 2.

15 Vgl. ebd., S. 3.

Badawia, Tarek/Erdem, Gülbahar/Abdallah, Mahmoud: Grundlagen muslimischer Seelsorge, Wiesbaden: Springer 2020.

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