Iḥsān - Verhalten und Handeln in der schönsten Art und Weise
MuslimInnen haben in den Augen der hiesigen Mehrheitsgesellschaft oftmals kein gutes Image. Dies ist keineswegs mehrheitlich in einer islamophoben oder rassistischen Einstellung begründet. Vielmehr erleben die Menschen tatsächlich häufig ein Verhalten ihrer muslimischen Mitbürgerinnen und -bürger im Alltag, welches sie als unhöflich und überheblich, im Speziellen auch als frauenverachtend, empfinden. Dies beginnt beim störend-lauten Auftreten im öffentlichen Raum im Gruppenverband und endet nicht beim respektlosen Verhalten muslimischer Schüler gegenüber ihren (nichtmuslimischen) Lehrerinnen. Natürlich stellt all dies ein einseitig negatives Bild muslimischen Verhaltens dar, welches nicht repräsentativ für die Gesamtheit österreichischer bzw. europäischer Musliminnen und Muslime ist. Selbstverständlich haben solche Verhaltensweisen auch nicht in der Religion des Islams ihre Ursache, sondern vielmehr in (patriarchalisch geprägten) kulturellen Hintergründen, die auch keineswegs notwendigerweise islamisch sind. Tatsache ist aber, dass Menschen dieses negative Verhalten wahrnehmen und mit dem Islam verbinden.
Wir wollen im Folgenden untersuchen, was „der Islam“ solchen Wahrnehmungen entgegenzusetzen hat. Einen Zugang dazu bildet das Konzept des iḥsān, welches nun näher untersucht werden soll.
Das Wort iḥsān leitet sich von „h-s-n“ = ḥusn (arab. حسن) ab. Dies meint bzw. beschreibt die Vorzüglichkeit und die Schönheit einer Sache oder einer Handlung. Aus dem Wortstamm lässt sich für das Wort iḥsān im Allgemeinen ableiten, dass damit das Verrichten guter Werke und die Wohltätigkeit gemeint sind.1 Diese erstrecken sich über zwei Ebenen:
- Zum einen geht es um die Person; man soll jemandem etwas Gutes tun und ihn mit Güte und Freundlichkeit behandeln.
- Zum anderen geht es um die bestmögliche Art und Weise, Aufgaben und Pflichten zu erledigen und sich zu verbessern.
Verbunden mit dem guten Verhalten sind der hierbei empfundene Respekt und die Hingabe des Gläubigen gegenüber Gott.
Eine Person, welche im Sinne des iḥsān handelt, wird als muḥsin (Pl. muḥsinīn) bezeichnet. Im Qur’an werden diverse Propheten als muḥsinīn bezeichnet, so etwa in der Sure al-Anʿām (6:83f.) die Propheten Abraham, Isaak, Jakob, Noah, David, Salomon, Hiob, Josef, Moses und Aaron. Dies impliziert deren vorbildliche Religiosität und bestes Verhalten.
Der muslimische Gelehrte Rāġib al-Isfahānī (gest. 1108), welcher sich mit Koranexegese und der arabischen Sprache befasst hat, aber auch viele weitere Gelehrte teilen die Meinung, dass iḥsān über dem Gerechtigkeitsbegriff stehe. Während es bei der Gerechtigkeit meist darum geht, Schulden zu begleichen oder sich dessen zu bedienen, was einem zusteht, meint iḥsān mehr zu geben und weniger zu nehmen.2 Daher gilt die gerechte Tat bzw. das gerechte Handeln als eine Pflicht (wāǧib) der MuslimInnen, wohingegen das Verwirklichen des iḥsān empfohlen (mandūb) wird.3
Im Qur'an wird der Begriff iḥsān in mehr als siebzig Versen erwähnt. Meist werden Eigenschaften und Tugenden mit dem iḥsān-Begriff in Verbindung gebracht, welche einen muḥsin auszeichnen:
- Jemandes Sünden und Fehler vergeben, nachsichtig sein und seine Wut beherrschen:
- „[…] Aber verzeihe ihnen und übe Nachsicht: wahrlich, Gott liebt die, die Gutes tun.“4
- „[…] und ihren Ärger unter Kontrolle halten und ihren Mitmenschen vergeben, weil Gott die liebt, die Gutes tun;“5
- Zum Wohle des Menschen spenden und großzügig sein:
- „Und gebt (freizügig) für Gottes Sache aus, und laßt nicht eure eigenen Hände euch in Vernichtung werfen; und tut beharrlich Gutes: siehe, Gott liebt die, die Gutes tun.6
- Demütig sein und das Übermaß vermeiden:
- „[…] und eßt von seiner Speise, wie ihr möchtet, reichlich; aber tretet demütig ein in das Tor und sagt: ›Nimm Du von uns die Last unserer Sünden hinweg‹, (woraufhin) Wir euch eure Sünden vergeben werden und die, die Gutes tun, reichlich belohnen werden.“7
- „[…] Vergib uns unsere Sünden und den Mangel an Mäßigung in unseren Taten! […] – woraufhin Gott ihnen die Belohnungen dieser Welt gewährte wie auch die gefälligsten Belohnungen des kommenden Lebens: denn Gott liebt die, die Gutes tun.“8
- Rechtschaffen und geduldig sein:
- „[…] Er antwortete: »Ich bin Josef, und dies ist mein Bruder. Gott ist uns fürwahr gnädig gewesen. Wahrlich, wenn einer sich Seiner bewußt und geduldig in Widrigkeit ist – siehe, Gott fehlt nicht, es denen, die Gutes tun, zu vergelten!«“9
In den beiden Hauptquellen Koran und Hadith wird der Begriff iḥsān neben den guten Handlungen auch mit Gott in Verbindung gebracht. In diesem Fall impliziert dies die Makellosigkeit der Schöpfung Gottes und Seine Eigenschaft, seinen Dienern gegenüber großzügig zu sein und sie mit allem zu versorgen:10
- „Er hat die Himmel und die Erde in Übereinstimmung mit (einer inneren) Wahrheit erschaffen, und hat euch geformt – und euch so gut geformt; und bei Ihm ist eurer Reise Ende.11
- „Suche statt dessen durch das, was Gott dir gewährt hat, das (Gute des) kommenden Lebens, ohne dabei deinen eigenen (rechtmäßigen) Anteil in dieser Welt zu vergessen; und tue (anderen) Gutes, wie Gott dir Gutes getan hat; und suche nicht Verderbnis auf Erden zu verbreiten: denn, wahrlich: Gott liebt nicht die Verbreiter von Verderbnis!“12
Der Gabriel-Hadith (ḥadīṯ Ǧabrāʾīl)
Der sogenannte Gabriel-Hadith gehört innerhalb der sunnitischen Religiosität zu den bedeutenden Hadithen, da in ihm die Lehre der fünf Säulen des Islams erläutert wird. Der Hadith wird in unterschiedlichen Varianten mit verschiedenen Überliefererketten (isnād) überliefert. Dennoch wird in allen Versionen dasselbe Geschehen erläutert:
Es wird berichtet, dass ein unbekannter Mann dem Propheten Muhammad und seinen Gefährten begegnet sei. Der Unbekannte setzte sich zu ihnen und befragte den Propheten über den Islam. Dieser erzählte ihm von den fünf Säulen des Islams: eine Muslimin oder ein Muslim sollte bezeugen, dass es keine Gottheit außer Allah (Gott) gibt und dass der Prophet Muhammad sein Gesandter ist. Eine Muslimin oder ein Muslim sollte ebenfalls die Gebete verrichten, während des Monats Ramadan fasten, die Zakat spenden, und die Pilgerfahrt vollziehen, sofern es die Gesundheit des Menschen und die finanzielle Lage zulässt. Der unbekannte Mann bestätigte dem Propheten, dass er in der Tat die Wahrheit aussprechen würde. Dies verblüffte die Gefährten des Propheten.
Der unbekannte Mann fragte den Propheten danach, was unter dem Begriff īmān gemeint sei. Der Prophet antwortete darauf, dass der īmān durch den Glauben an Gott, an Seine Engel, an Seine Bücher, an Seine Gesandten, an den Tag des Jüngsten Gerichts, daran, dass das Gute und Schlechte von Allah erschaffen wurde, sowie durch den Glauben an die Vorherbestimmung definiert wird. Erneut bestätigte der Unbekannte die Antworten des Propheten.
Anschließend fragte er den Propheten, was unter dem Begriff iḥsān gemeint sei. Der Prophet beantwortete die Frage wie folgt: iḥsān bedeutet, dass man seine guten Taten stets vollzieht und Allah dient, als ob Er sichtbar sei. Denn obwohl Er für uns Menschen unsichtbar erscheint, sieht Gott uns.
Es folgten weitere Fragen, und als der unbekannte Mann sich verabschiedet hatte, klärte der Prophet seine Gefährten über dessen Identität auf. Es sei der Engel Gabriel gewesen, welcher sie über die grundlegenden Glaubensprinzipien und Begriffe gelehrt habe.13
Der persische Gelehrte al-Fīrūzābādī (gest. 1414) ist der Meinung, dass iḥsān die Essenz des Glaubens und des Geistes darstelle und somit die höchstmögliche Entwicklungsstufe, welche ein/e Gläubige/r durch sein gutes Handeln erreichen könne. Im Gabriel-Hadith wird deutlich, dass iḥsān mit dem taqwā-Begriff, der das Gottesbewusstsein meint, eng verbunden ist. Vor allem die Muʿtazila schenken dem Textabschnitt, in dem die Handlung eines Gläubigen im Sinne des iḥsān beschrieben wird, besondere Beachtung.14
Die beiden Begriffe taqwā und iḥsān werden in mehreren Suren erwähnt und in einen semantischen Zusammenhang gebracht. Als Beispiel bietet sich zum einen die Sure Al-Māʾida, Vers 93 an:
„Jene, die Glauben erlangt haben und rechtschaffene Taten tun, laden keine Sünde auf sich, indem sie zu sich nehmen, was immer sie mögen, solange sie sich Gottes bewußt sind und (wahrhaft) glauben und rechtschaffene Taten tun und fortfahren, sich Gottes bewußt zu sein und zu glauben, und immer mehr sich Gottes bewußt werden und beharrlich Gutes tun: denn Gott liebt die, die Gutes tun.“15
Ein weiteres Beispiel lässt sich in der Sure an-Nisāʾ, Vers 128 finden:
„[…] Aber wenn ihr Gutes tut und euch Seiner bewußt seid – siehe, Gott ist fürwahr all dessen gewahr, was ihr tut“16
Der iḥsān-Begriff wird in den beiden Beispielen in Verbindung mit dem taqwā-Begriff verwendet, um die große Bedeutung des iḥsān-Begriffs hervorzuheben.
Der persische Historiker und Gelehrte aṭ-Ṭabarī (gest. 923), beschäftigte sich mit dem Vers 90 der Sure an-Naḥl:
„SIEHE, Gott gebietet Gerechtigkeit und das Tun des Guten und Großzügigkeit gegenüber (den) Mitmenschen; und Er verbietet alles, was schmachvoll ist, und alles, was der Vernunft zuwiderläuft, wie auch Neid; (und) Er ermahnt euch (wiederholt), auf daß ihr (all dies) im Gedächtnis behalten möget.“17
Aṭ-Ṭabarī deutet in diesem Vers die Gerechtigkeit als die tauḥīd-Lehre und den iḥsān-Begriff als die Geduld, welche sich in Bezug auf die Befolgung der Gebote und Verbote Gottes und beim Ertragen von Erschwernissen zeigt.
Der persische Philosoph und Geschichtsschreiber Ibn Miskawayh (gest. 1030) befasste sich mit der Beziehung zwischen der Liebe und der sozialen Dimension. Er kam zu dem Schluss, dass gerade die Absicht zum tugendhaften und guten Handeln bei einem Menschen ihn weiter darin bestärkt, dieses fortzuführen. Dies wird als zātī iḥsān, das reine Wesen des iḥsān, bezeichnet.
Der persische Theologe al-Ġazzālī (gest. 1111) griff Ibn Miskawaihs Vorstellung auf und entwickelte die Beziehung zwischen iḥsān und der Liebe weiter. Er ist der Meinung, dass Güte und Schönheit nur von Menschen mit moralischer und ästhetischer Sensibilisierung wahrgenommen werden könnten.18
Zusammenfassend verhelfen Wachsamkeit (murāqabā), Liebe und Gottesbewusstsein (taqwā) dem Menschen, vor dem Hintergrund des iḥsān auf vorzügliche Weise zu handeln. Im Sinne des iḥsān zu agieren heißt, eine Art Schutzschild zu haben, welches vor schlechtem Verhalten bewahrt und zu positivem Handeln führt. Im Licht des eingangs Erwähnten wäre es somit wünschenswert und notwendig, das iḥsān-Konzept wieder mehr ins heutige kollektive muslimische Bewusstsein zu rücken. Dabei soll nicht ein Bewusstsein von Gottes ständiger Präsenz im Sinn einer Überwachung im Vordergrund stehen, sondern vielmehr das vorzügliche und schöne Handeln um der Liebe und Schönheit Gottes willen, der – wie überliefert wird – selbst schön ist und das Schöne liebt. Ein solches Handeln würde einen positiven und konstruktiven Beitrag für die Gesellschaft leisten, in der wir alle leben.