"Generation Haram" und die neue Religionspädagogik als Lösung?

Artikel 07.10.2021 Redaktionsteam

Dieser Beitrag widmet sich einer preisgekrönten Reportage von Melisa Erkurt über muslimische Wiener Jugendliche mit Migrationshintergrund, deren Einstellungen von einem starren, unhinterfragten und patriarchalisch geprägten Islamverständnis geprägt zu sein scheinen. Zugleich wird die Situation der Jugendlichen hinsichtlich ihrer Akzeptanz in der Gesellschaft und fehlender Perspektiven deutlich. Es stellt sich die Frage nach Auswegen und danach, welche Rolle die islamische Religionspädagogik dabei spielen kann.


Bereits seit einigen Jahren organisiert das Magazin biber ein Schulprojekt mit dem Namen Newcomer zur Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund, welches im Rahmen des Journalistenpreises Integration 20161 mit einem Sonderpreis für herausragende Leistungen zur Integrationsförderung im Journalismus gewürdigt wurde.2 Im Rahmen dieses Projekts gestaltet ein dreiköpfiges Team aus der biber-Redaktion jeweils eine Woche lang den Unterricht in sogenannten „Brennpunktschulen“ in Wien (NMS, AHS, BHS), welche von einem besonders hohen Anteil von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund und aus sogenannten bildungsfernen Elternhäusern besucht werden. Sehr viele der Jugendlichen haben einen muslimischen Hintergrund. In dieser Projektwoche erhalten die 14- bis 19-Jährigen im Rahmen von Text- und Fotoworkshops praktische Einblicke in das journalistische Handwerk und verfassen eigene Beiträge, die inzwischen laufend online im biber Schülerblog sowie zweimal jährlich in einem Schüler-Spezial-Magazin in gedruckter Form publiziert werden.3 Zudem wird viel diskutiert, beispielsweise über Rollenbilder, und auch Exkursionen zu Firmen oder Zeitungsredaktionen stehen am Programm. Das Newcomer-Projekt soll den Jugendlichen, welche meistens kaum Zukunftsperspektiven sehen, neue Möglichkeiten aufzeigen und Wertschätzung sowie Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten vermitteln.4

Aufgrund ihrer Erfahrungen in diesem Projekt verfasste die Journalistin und AHS-Lehrerin Melisa Erkurt, die selbst in Folge des Bosnienkrieges als Kind nach Österreich geflüchtet ist, eine Reportage mit dem Titel „Generation Haram“, welche 2017 bei den Österreichischen Journalismustagen zur Story des Jahres gekürt wurde. In diesem Artikel werden alarmierende, religiös motivierte Einstellungen seitens der männlichen muslimischen Jugendlichen thematisiert.5

Erkurt hat während der Projektwochen festgestellt, dass unter den muslimischen Jugendlichen ein einigermaßen unerwartetes Modewort kursierte. Ständig wurden Verhaltensweisen oder Kleidungsstile, hauptsächlich der weiblichen Mitschülerinnen, mit „Haram!“-Rufen kommentiert, wie beispielsweise ein tiefer Ausschnitt. Nicht nur von den Jungs, auch von den Mädchen selbst wurden haram-Kommentare, auch in Form von Wortspielen, abgegeben, wie etwa: „Machst du kein haram, ist alles tamam (in Ordnung)“6. Haram bezeichnet etwas, das nach islamischem Recht verboten ist und eine Sünde darstellt. Im Gespräch mit den Jugendlichen erfuhr Erkurt, dass diese Kommentare spaßhalber gemeint waren, im Kern aber sehr wohl ernst genommen wurden. Es handelte sich offenbar um mehr als nur eine harmlose Provokation mittels eines Wortes. Eine Schülerin meinte: „Sie wissen immer, was für uns Mädchen haram ist: Shisha rauchen, Ausschnitt zeigen – neulich hat einer in Biologie haram gerufen, als unsere Lehrerin über die Menstruation gesprochen hat.“7 Laut Auskunft einer Lehrperson sei es zu einem Rückgang der muslimischen Teilnehmerinnen am Schwimmunterricht gekommen, nicht etwa, weil den Mädchen vom Elternhaus die Teilnahme verboten wäre, sondern da die Schülerinnen die Kommentare und Folgen seitens der männlichen Klassenkollegen fürchteten, wie beispielsweise im Internet veröffentlichte Fotos der Mädchen aus dem Schwimmbad. Erkurt stellte auch fest, dass die Mädchen in Anwesenheit der Jungs sich kaum zu Wort meldeten, wenn im Rahmen der Workshops diskutiert wurde, was sich aber änderte, sobald sie allein mit ihnen sprechen konnte.8

Alles in allem vertreten diese jungen, männlichen Muslime ein Islamverständnis, das keinen Platz für Freiheit und Selbstbestimmung lässt, sondern geprägt ist von übernommenen, traditionell-patriarchalischen und nicht hinterfragbaren Ansichten. Erkurt hat im Dialog mit den Jugendlichen jedoch festgestellt, dass es hier nicht um echte religiöse Überzeugungen, gepaart mit fundiertem Wissen über die Religion geht, sondern vielmehr um pubertierende Jugendliche, die sich unsicher fühlen, von der Gesellschaft abgestempelt und ausgegrenzt werden, die oftmals weder in der deutschen Sprache, noch in jener der Herkunftsländer der Eltern wirklich zu Hause sind, und denen scheinbar keine Zukunftsperspektiven offenstehen. Sie zeichnet das Bild von unsicheren jungen Menschen, die ein enormes Redebedürfnis haben, gepaart mit dem Wunsch, ernstgenommen zu werden und Teil der Gesellschaft zu sein. Provokatives Verhalten – indem sie etwa in der Öffentlichkeit das Bild der gefährlichen, radikal-islamischen jungen Männer bedienen oder sich als Sittenwächter der Mädchen aufspielen – bietet ihnen die Möglichkeit, sich zumindest ein bisschen mächtig zu fühlen.9 

„Sie haben erkannt, dass die Leute Angst vor dem Islam haben. Sie stellen ihren Handyklingelton in „Allahu Akbar“ („Gott ist groß“) Rufe um und genießen die verängstigten Blicke der anderen in der U-Bahn, wenn ihr Handy klingelt. […] Der Islam steht für sie für die Macht über die Ängste der anderen und sie wollen mächtig sein in einer Gesellschaft, in der sie sowieso schon als Verlierer gelten, die sie abgeschrieben hat, die ihnen eh nichts mehr zutraut außer den Weg in den Dschihad.“10

Ob und inwieweit das hier gezeichnete Bild generell repräsentativ für männliche, muslimische Jugendliche in Österreich ist, ist fraglich. Jedoch ist es ein Faktum, dass es deutliche Defizite betreffend Integration und Förderung von jungen Menschen mit Migrationshintergrund gibt. Ansonsten könnten viele den Ausweg in einer Rückbesinnung auf den Islam sehen, den sie häufig nur aus dem Internet kennen, wo sie auf radikal-islamische Prediger treffen, die ihnen den vermeintlich richtigen Weg zeigen. Der Weg zur Radikalisierung ist dann zwar nicht unvermeidbar, stellt aber eine reale Gefahr da, wenn sonst niemand da ist, der andere Perspektiven aufzeigt. Daraus folgt, dass neben der dringend benötigten, finanziellen Förderung von Sozialarbeit und Jugendprojekten auch und insbesondere sowohl Einsicht als auch Einsatz von muslimischer Seite notwendig sind, wenn wir wollen, dass junge österreichische Muslime und Musliminnen ein Islamverständnis entwickeln, welches keineswegs im Widerspruch zu einem aktiven, selbstbestimmten Leben inmitten dieser Gesellschaft steht, ja welches vielmehr eine aktive Rolle als Teil dieser Gesellschaft fördert.

Ein solches Islamverständnis müsste etwa im Islamischen Religionsunterricht gefördert werden, wobei natürlich nur ein Teil der Jugendlichen mit diesem erreicht werden kann. Wichtig ist daher auch die außerschulische religiöse Bildung, die etwa in den Moscheegemeinden vermittelt wird. Grundlage schulischer wie außerschulischer religiöser Bildung, welche das soeben geschilderte Islamverständnis vermittelt, stellt die islamische Religionspädagogik dar, wie sie aktuell im deutschsprachigen Raum konzipiert wird. Diese kann und muss den Anstoß zum Aufbrechen und Verändern der weitverbreiteten, (angeblich) nicht-hinterfragbaren, patriarchalisch geprägten Ansichten und Normen geben. Insbesondere soll sie die junge Generation dabei unterstützen, sich als mündige und verantwortungsvolle Mitglieder der hiesigen, pluralistischen Gesellschaft wahrzunehmen. Allerdings kann die Religionspädagogik nur innerhalb eines begrenzten Maßes wirken. Für die Kinder und Jugendlichen ist es – wahrscheinlich sogar vorrangig – wichtig, in der Gesellschaft als wertvolle, hier beheimatete Mitglieder wahrgenommen und akzeptiert zu werden, denen alle Chancen offenstehen, sei es hinsichtlich Bildung oder aktiver Partizipationsmöglichkeiten. Und dies, nicht trotz, sondern unter Anerkennung ihres Migrationshintergrundes und ihrer Zugehörigkeit zum Islam. In diesem Fall kann in der Folge auch die islamische Religionspädagogik ihre größtmögliche Wirkung entfalten.

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