Religiöse Minderheiten im Islam
Die Stellung religiöser Minderheiten in der islamischen Welt wird in Öffentlichkeit und Medien hauptsächlich in Zusammenhang mit der Benachteiligung oder Verfolgung von Christen1 thematisiert. Jedoch war der Status von Nichtmuslimen in islamischen Herrschaftsgebieten im Verlauf der Geschichte stets sehr unterschiedlich und auch geographisch uneinheitlich. Einerseits wird oft und gern an die weitreichende Toleranz gegenüber Juden und Christen im muslimischen Spanien in der Zeit des achten bis 15. Jahrhunderts erinnert. Andererseits werden ebenso häufig Koranverse mit „Nichtmuslimen gegenüber abgrenzend oder sogar feindselig und kriegerisch formuliert[en]“2 Inhalten zitiert, womit auf die untergeordnete Stellung von Juden und Christen aufmerksam gemacht wird. Beiden Positionen kann ein Wahrheitsgehalt nicht abgesprochen werden, dennoch repräsentieren sie jeweils nur eine einseitige Perspektive.3
Der deutschen Islamwissenschaftlerin Johanna Pink zufolge gilt es bei der Diskussion des Themas Religiöse Minderheiten im Islam jedenfalls zu bedenken, dass „[i]n keinem Fall […] man den Quellen des Islams oder den Praktiken vormoderner muslimisch geprägter Gesellschaften gerecht werden [kann], indem man sie aus dem Blickwinkel heutiger Vorstellungen von Toleranz und Menschenrechten beurteilt.“4 Wohingegen „aus gegenwärtigen muslimischen Debatten […] diese Vorstellungen – unabhängig davon, ob die jeweiligen Akteure sie positiv oder negativ beurteilen – nicht mehr wegzudenken sind.“5
Dies bedeutet in der Folge, dass wir frühere Umgangsweisen von Muslimen mit Nichtmuslimen ebenso wie islamrechtliche Positionen diesen gegenüber nicht an unseren heutigen Standards und unserem menschenrechtlichen Verständnis zu bewerten brauchen. Wohl aber dürfen und müssen wir die heutige islamrechtliche und gesellschaftliche Praxis in muslimischen Ländern sowie die gegenwärtige Exegese der islamischen Quellen an diesem menschenrechtlichen Maßstab messen.
Untersucht man die Stellung von Nichtmuslimen im Koran, ist stets der kontextuelle und historische Zusammenhang zu beachten. Denn in den relevanten koranischen Aussagen „widerspiegeln sich die verschiedenen Phasen des Verhältnisses und der Auseinandersetzungen zwischen der sich formierenden islamischen Gemeinschaft (umma) und den anderen Gruppierungen, namentlich Christen und Juden.“6
Gemäß den religiösen Quellen des Islams, insbesondere des Korans, gelten Anhänger monotheistischer Religionen als Leute des Buches (ahl al-kitāb), also Schriftbesitzer (Schrift im Sinne von Offenbarungsschrift), deren Status sich strikt von jenem der Polytheisten (sog. Götzendiener) unterscheidet.7
Ursprünglich wurden unter Schriftbesitzern Juden und Christen sowie Sabier verstanden, doch angesichts vorhandener gesellschaftlicher Realitäten schloss man später auch Zoroastrier (im Iran) sowie Hindus und Buddhisten (in Südasien) in diese Kategorie mit ein.8 Als Angehöriger der ahl al-kitāb galt man als sog. Schutzbefohlener (ḏimmī). Dieser Status garantierte Schutz von Leib, Leben und Eigentum sowie freie Religionsausübung. Im Gegenzug musste eine Kopfsteuer (ǧizya9) gezahlt werden sowie bestand die Verpflichtung zur Loyalität.10 In der anfänglichen Zeit der arabisch-muslimischen Eroberung riesiger nichtmuslimischer Gebiete existierten weder rechtsverbindliche Hadith-Sammlungen noch eine Rechtsmethodologie. Das Verhältnis zwischen Muslimen und Nichtmuslimen wurde also noch nicht systematisch, sondern mithilfe von (regional üblichen) Abkommen mit den jeweils eroberten Städten geregelt. Ab dem achten bzw. frühen neunten Jahrhundert entstand im Kontext vorhandener gesellschaftlicher und politischer Praktiken ein bis ins 19. Jahrhundert in unterschiedlichem Ausmaß gültiges „normatives Ideal“11. Hierzu schreibt Pink:
„In ihm spiegelte sich neben spätantiken Vorbildern und einzelnen Elementen von Koran und Sunna möglicherweise auch die hierarchische soziale Ordnung des Sassanidenreiches wider, in der die Zugehörigkeit zum niedrigsten Stand durch Kleidung in der Öffentlichkeit, erlaubte und verbotene Reittiere, das Verbot des Waffentragens und ähnliche Statusmarkierungen deutlich wurde; anstelle der Bauern wurde nun den Nichtmuslimen dieser niedrigste Stand zugewiesen. Es handelte sich bei den ḏimma-Regeln also nicht um einseitige, seit der Entstehung des Islams etablierte und geradlinig aus Koran und Sunna abgeleitete Dekrete, sondern um Praktiken, die sich über Jahrhunderte entwickelten, zum Teil auf Aushandlungsprozessen zwischen Eroberern und Eroberten beruhten und viele Elemente der eroberten Gesellschaften übernahmen.“12
Für die sog. Schutzbefohlenen galten u. a. folgende Regelungen: neben der Zahlung der Kopfsteuer war es verboten, Muslime zu missionieren, sakrale Gebäude neu zu errichten, Waffen zu tragen, Pferde zu reiten und höhere Häuser als jene von Muslimen zu bauen. Religiöse Rituale und Symbole mussten unauffällig befolgt bzw. durften nicht zur Schau gestellt werden. Kleidervorschriften sollten die Unterscheidung von Muslimen und Nichtmuslimen möglich machen. Gleichzeitig war aber beispielsweise die Ehe eines muslimischen Mannes mit einer nichtmuslimischen Frau möglich, ebenso konnten intrareligiöse Angelegenheiten wie Ehe- und Familienrecht ohne islamrechtlichen Einfluss geregelt werden.13
Im Lauf der Zeit wurde das ḏimma-System verändert bzw. angepasst. Im multiethnischen und -religiösen Osmanischen Reich bildete das Millet-System (von arab. milla, Religionsgemeinschaft, Nation) einen wichtigen Rahmen innerhalb der Organisation des Staates.14 Nichtmuslime hatten eine relativ sichere Stellung, was zu deren wachsendem Anteil an der Bevölkerung ab dem 16. Jahrhundert führte. Zunehmende Institutionalisierung führte dazu, dass im 19. Jahrhundert siebzehn verschiedene orthodoxe, katholische, protestantische und jüdische Konfessionen anerkannt waren. Im Zuge von Reformen wurde 1856 die ǧizya, also die Kopfsteuerpflicht, abgeschafft.15
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass der Status als Schutzbefohlener (ḏimmī) ein untergeordneter, aber relativ gesicherter war. Vorschriften wurden oft flexibel gehandhabt, was zu mal mehr, mal weniger starken Einschränkungen führte. Es kam auch zu gewaltsamen Verfolgungen, diese stellten aber nicht die Regel dar. Nichtmuslime waren generell nicht von der muslimisch dominierten Gesellschaft ausgeschlossen, sondern konnten auch, teilweise hohe, öffentliche Ämter bekleiden. Im Alltag sowie in Wissenschaft, Medizin und überregionalem Handel spielten Nichtmuslime eine wichtige Rolle. Ihre Bewegungsfreiheit war – anders als zeitweise in Europa – nicht eingeschränkt.16
Mit Ende des Osmanischen Reiches und dem Beginn der englischen und französischen Kolonialzeit änderten sich die politischen und sozialen Verhältnisse. Die Bildung von unabhängigen Nationalstaaten führte zu Fragen hinsichtlich des Verhältnisses von muslimischen und nichtmuslimischen Bürgern desselben Staates sowie allgemein zur Haltung des Islams gegenüber anderen Religionen. Das Verhältnis des Islams zum Judentum wurde in der Folge stark durch die Gründung des Staates Israel und durch antisemitische Feindbilder geprägt, die teilweise aus Europa übernommen wurden.17 Mit Ausnahme von etwa Saudi-Arabien haben die meisten muslimisch geprägten Staaten eine säkulare Verfassung, welche die Gleichheit aller Bürger und die Religionsfreiheit garantiert. Anerkannte Religionsgemeinschaften haben in vielen islamisch-geprägten Staaten das Recht auf eigene Schulen und die Anerkennung religiöser Feiertage. Häufig sind etwa christliche Bildungseinrichtungen, die oft aus westlichen Quellen finanziert werden, für ihr überdurchschnittliches Niveau bekannt. In Ländern der Arabischen Halbinsel (Saudi-Arabien, Golfstaaten…), in denen keine autochthonen Christen, aber viele nichtmuslimische Gastarbeiter leben, ist die Lage problematischer. Immerhin wurde im Frühjahr 2008 in Doha für die zahlreichen katholischen Arbeitsmigranten eine Kirche neu erbaut und eingeweiht, welche vom qatarischen Herrscher finanziert wurde. Seither ist Saudi-Arabien das einzige islamische Land ohne Kirche.18 Von echter Religionsfreiheit kann jedoch in keinem dieser Länder gesprochen werden.
Fazit
Fragt man nach dem Verhältnis des Islams zu nichtmuslimischen Religionen, so fällt auf, dass stets zwischen monotheistischen und polytheistischen Religionen unterschieden wurde und wird. Bereits in der Frühzeit des Islams wurden Juden und Christen als Teilhaber einer gemeinsamen Tradition mit Abraham (arab. Ibrahim) als Stammvater anerkannt. An dieser Einstellung, mit welcher beispielsweise seit Beginn an auch die Möglichkeit zur muslimisch-jüdischen bzw. muslimisch-christlichen Ehegemeinschaft19 verbunden war, änderte sich auch nichts, als die Arabische Halbinsel bereits völlig unter muslimischer Herrschaft stand.20 Andere Religionen betreffend sieht die Sache damals wie gegenwärtig etwas anders aus. Andere Religionen betreffend sieht die Sache damals wie gegenwärtig etwas anders aus. Um (nach deren eigenem Verständnis) nichtmonotheistische Religionen anzuerkennen, „werden […] Ansätze einer monotheistischen Religion oder von Offenbarungen gesucht, die eine Toleranz rechtfertigen. Dabei wird das Selbstverständnis der Religionen allerdings meist nur unzureichend berücksichtigt.“21
Ein solcher Zugang verringert natürlich die Chance auf einen ehrlichen Dialog der Religionen auf Augenhöhe, wohingegen die muslimische Seite gerade diese Anerkennung auf Augenhöhe umgekehrt für sich – und auch zu Recht – stets einfordert bzw. den Mangel daran beklagt. Zukunftsfähig wird auf Dauer nur der „Weg des unvoreingenommenen Kennenlernens und einer grundsätzlichen Bejahung der Differenzen“22 sein, bei gleichzeitigem Abschied seitens aller Beteiligten von einer Denkweise, die von den eigenen „monotheistischen Konzeptionen als Prämisse“23 ausgeht. Dieser Weg wird bislang nur von einer Minderheit muslimischer Theologen und Theologinnen wie auch Laien beschritten, obwohl auch ein solch offener, auf der grundsätzlichen Gleichheit und Würde aller Menschen basierender Zugang mithilfe koranischer Aussagen gestützt werden kann. Abschließend soll nicht unerwähnt bleiben, dass ein solcher Zugang auch relevant und notwendig ist, wenn es um die Frage nach dem Verhältnis zu atheistisch oder agnostisch denkenden Menschen geht. Diese können als Teil unserer gesellschaftlichen Realität nämlich auch von muslimisch-theologischer Seite nicht ignoriert werden.24