Vegetarismus im islamischen Kontext
Vegetarismus stellt eine Ernährungsform dar, in der auf Fleisch und Produkte vom getöteten Tier verzichtet wird.1 Aktuell erfreut sich diese Ernährungsweise, insbesondere in der speziellen Form des Veganismus, steigender Beliebtheit, was am zunehmenden Angebot an veganen Produkten im heimischen Lebensmittelhandel deutlich spürbar ist. Beim Veganismus wird gänzlich auf tierische Produkte verzichtet, wohingegen Vegetarier Produkte von lebenden Tieren wie Milchprodukte, Honig und teilweise Eier akzeptieren, sogenannte Halbvegetarier auch Fisch.2 Die Gründe, weshalb Menschen als Vegetarier leben, sind vielfältig und meist ethischer, gesundheitlicher, ökologischer oder religiöser bzw. spiritueller Natur.
Die Idee des Vegetarismus ist an sich uralt und ursprünglich mit religiös-asketischen Motiven verknüpft. Sowohl in Indien um 1500 v. Chr. als auch tausend Jahre später, als der Philosoph und Vegetarier Pythagoras (gest. nach 510 v. Chr.) seine Schule gründete, spielte unter anderem der Glaube an eine Seelenwanderung als Begründung für Fleischverzicht eine Rolle. In der Neuzeit gab es zunehmend eine mit moralischen Aspekten argumentierende Anhängerschaft einer vegetarischen Ernährungsform unter Intellektuellen. Der Gesichtspunkt der Tierrechte spielte – neben asketischen Motiven – im modernen Vegetarismus eine besondere Rolle bei sich vermehrt im angelsächsischen Raum bildenden christlichen Gruppen. Ab dem 19. Jh. war die vegetarische Idee verstärkt im Bildungsbürgertum vertreten, wobei mit der Gründung der Vegetarian Society 1847 in London der Begriff vegetarianism (abgeleitet von lat. vegetare, dt. beleben) erst etabliert wurde.3
Vegetarische Ernährung wirkt sich positiv auf die Gesundheit aus, da sie Übergewicht und Bluthochdruck vorbeugen kann.4 Wissenschaftlichen Studien zufolge hat sie zudem signifikante positive volkswirtschaftliche Effekte, indem sowohl im Gesundheitssystem als auch im Kampf gegen Klimaschäden entstehende Kosten eingespart werden. Würde die gesamte Weltbevölkerung zu Vegetariern, würde im Zuge der Nahrungsmittelproduktion bis zum Jahr 2050 nur noch ein Drittel der derzeitigen Menge an Treibhausgasen emittiert.5 Das Szenario eines ausschließlich von Vegetariern besiedelten Planten Erde ist freilich eine Utopie. Ihr Anteil beträgt in den meisten Ländern zwei bis drei Prozent, nur in Indien sind es etwa dreißig.6 Dennoch führt aus Sicht des Klimaschutzes langfristig an einer weltweiten Reduktion des Fleischkonsums und der damit verbundenen exzessiven Form von Tierhaltung kein Weg vorbei. Dies hätte überaus positive Auswirkungen auf den Wasserhaushalt der Erde, die Emission von Treibhausgasen – hier spielt besonders der Ausstoß von Methan in der Rinderzucht eine enorme Rolle7 – und in Form wieder verfügbarer Landflächen, die als Wald effektiv CO2 absorbieren könnten.8
Die Themen Klimawandel, Umwelt- und Tierschutz werden seit einigen Jahren zunehmend auch von muslimischer Seite aufgegriffen. Den Diskurs hierüber führen besonders junge gebildete sowie häufig neue Muslime aus europäischen, aber auch muslimisch geprägten Ländern,9 und zwar hauptsächlich im Internet auf diversen Websites und Blogs.10 Die Rolle des Menschen als Sachwalter von Gottes Schöpfung (ḫalīfat Allāh), deren perfektes Gleichgewicht er nicht stören darf, und die Verantwortung, die der Mensch für die ihm anvertraute Erde trägt, spielen in der Argumentation für die Notwendigkeit muslimischer Umweltschutzaktivitäten eine besondere Rolle.11 In diesem Kontext wird öfters eine vegetarische Ernährung als erstrebenswerte Alternative auch für Muslime thematisiert.
Von muslimischer Seite wird Vegetarismus jedoch vielfach als unislamische, moderne westliche Neuerung oder gar als verboten und Sünde abgelehnt, da Fleischverzehr weder im Koran noch in den Hadithen verboten wird und laut Koran 5:87 dem Menschen nicht erlaubt ist, zu verbieten, was Gott erlaubt hat. Zudem wird der Mensch zu verschiedenen Anlässen wie dem Opferfest sogar angehalten, ein Tier zu schlachten.12 Dass der Prophet Fleisch gegessen hat, ist unbestritten, jedoch stand Fleisch eher ausnahmsweise auf dem Speiseplan.13 Überhaupt führte er eine genügsame Lebensweise, Völlerei gehörte generell nicht zu seiner Ernährungspraxis, unabhängig davon, ob fleischhaltig oder nicht. Auch wird berichtet, dass der zweite Kalif ʿUmar b. al-Ḫaṭṭāb (gest. 644) das Fleischessen an zwei aufeinanderfolgenden Tagen verbot, weil davon eine Sucht ausginge wie vom Wein.14 Somit kann zumindest ein maßvoller Fleischkonsum, also eine Art Teilzeit-Vegetarismus als im Islam nicht nur erlaubt, sondern erstrebenswert angesehen werden, was im Gegensatz zur gegenwärtig üblichen Praxis in vielen muslimischen Gemeinschaften steht.15
Muslimische Vegetarismus-Befürworter sehen die heutige, in vieler Hinsicht problematische Form der Massentierhaltung als unvereinbar mit im Islam vorhandenen Kriterien an, die eine artgerechte Tierhaltung und Fütterung, einen barmherzigen Umgang mit den Tieren sowie das Vermeiden unnötigen Leidens vor und während dem Schlachten zum Inhalt haben.16 Teile der muslimischen Konsumentenschaft machen sich heute vermehrt Gedanken über die Art der Aufzucht der Tiere sowie ihren Transport zum und die Behandlung im Schlachthof. Um Fleisch als Halal-Fleisch zu akzeptieren, reicht vielen das Zertifikat für eine rituelle Schlachtung, worunter üblicherweise eine betäubungslose Schlachtung mittels Kehlschnitt unter Nennung der basmala verstanden wird, nicht mehr aus. Denn es sagt nichts über die der Schlachtung vorangehenden Umstände die Tiere betreffend aus.17 Auch gesundheitliche Motive werden als ein Argument dafür angeführt, kein Fleisch zu essen. Die in der Massentierhaltung eingesetzten Antibiotika und Hormone haben auch Auswirkungen auf den Menschen.18 Fleisch von Tieren, die mit Futtermitteln gefüttert wurden, die Überreste von Tieren enthalten, kann nicht als halal gelten, da Muslimen das Fleisch von fleischfressenden Tieren untersagt ist. All diese Umstände lassen manche Muslime zum Schluss kommen, vegetarisch zu leben sei nicht nur aus islamischer Sicht erlaubt, sondern geboten. Andere interpretieren die Erlaubnis zum Fleischessen im Koran in der Weise, dass die Entscheidung darüber dem Menschen überlassen ist. Die islamischen Quellen würden aber nirgends positive Wirkungen des Fleischessens andeuten.19
Klassische islamische Rechtsgelehrte haben sich nicht mit ethischen Fragen im Zusammenhang mit Tieren als Nahrungsquelle an sich befasst. Die heutige Situation jedoch, in der die Mehrheit der Muslime, bis auf wenige Ausnahmen, nicht von dieser Nahrungsquelle abhängig ist, erfordert einen neuen Diskurs der Gelehrten hinsichtlich der Frage, wie heute Halal-Ernährung definiert werden kann und soll. Die negativen Auswirkungen von Massentierhaltung sowohl ökologischer als auch sozialer Art sowie von übermäßigem Fleischkonsum auf den menschlichen Körper machen ein Überdenken der traditionellen muslimischen Essgewohnheiten notwendig, in denen Fleischverzehr bis auf wenige Ausnahmen im Sufismus nicht hinterfragt wurde.20 In Übereinstimmung mit den islamischen Quellen kann Vegetarismus weder als die im Islam eigentlich gebotene Ernährungsform definiert werden, noch, wie eingangs erwähnt, als unislamische Neuerung oder verboten abgelehnt werden, sondern stellt eine mögliche Alternative dar. Wichtig wäre heute vor allem, dass sich im kollektiven muslimischen Bewusstsein ein Umgang mit Ernährung etabliert, der sowohl gesundheitliche als auch ethische und ökologische Aspekte beinhaltet, und dass erst diese Ernährungsform als halal betrachtet wird.