Beschneidung im Islam
Einleitung
ḫitān ist der arabische Terminus für die religiös motivierte männliche Beschneidung im Islam.1 Hiermit ist das Abtrennen der Vorhaut beim männlichen Glied gemeint. Der Brauch der religiösen Beschneidung im Islam geht auf vorislamische und jüdische Wurzeln zurück.2 Eine Grundlage für die Beschneidung findet sich unter anderem in der Thora (tawrāt), das als bindendes Gebot von höchster Bedeutung im Judentum gilt. Die frühesten Belege für die Beschneidungspraxis lassen sich auf das Jahr 4300 v. Chr. in Ägypten datieren.3 Im Koran wird die Beschneidung nicht explizit erwähnt.4 Es gibt jedoch einige Koranverse, welche auf die im frühen Arabien verbreitete Beschneidungspraxis hindeuten könnten. Zu diesen Stellen gehören jene Verse, in denen der Gläubige aufgefordert wird, dem vorbildhaften Weg Abrahams (Ibrahim) zu folgen.5 Der Stammvater Abraham soll nämlich der erste Prophet gewesen sein, der diesen Beschneidungsakt vollzog. So heißt es in Koran 16:123: „Folg der Religion Abrahams, eines Hanīfen, er war kein Heide (w. keiner von denen, die (dem einen Gott andere Götter) beigesellen).“6
In der Sunna dagegen wird die Beschneidung an einigen Stellen eindeutig thematisiert und hervorgehoben. Nach Abū Huraira (gest. 680 n. Chr.) ist überliefert, dass Muhammad (gest. 632 n. Chr.) geboten habe: „Zu der natürlichen Veranlagung (fiṭra) eines Menschen gehören fünf Dinge: Die Beschneidung, die Intimrasur, das Schneiden der Finger- und Fußnägel, das Auszupfen der Achselhaare und das Schneiden des Schnurrbarts.“7 Es gibt unterschiedliche Standpunkte bezüglich der Beschneidung des Gesandten Muhammad. Nach einer Überlieferung wurde der Gesandte bereits beschnitten geboren. Ein anderer Hadith berichtet von einer Beschneidung des Gesandten an seinem siebten Lebenstag. Laut weiteren Überlieferungen kam Muhammad selbst ohne oder nur mit einer sehr kurzen Vorhaut zur Welt.8 Es soll hier darauf hingewiesen werden, dass diese Hadithe bezüglich Muhammads Beschneidung unter den meisten Hadithwissenschaftlern und Theologen umstritten sind und als schwach (ḍaʿīf) eingestuft werden.
Die islamischen Rechtsschulen und ihre Auffassung
In der islamischen Rechtswissenschaft (fiqh) werden die menschlichen Handlungen in fünf Rubriken (al-aḥkām al-ḫamsa) unterteilt, welche den jeweiligen Grad der moralischen Verpflichtung (taklīf) beleuchten. Diese fünf Kategorien lauten wie folgt: verpflichtend (farḍ, wāǧib), empfohlen (sunna), erlaubt (ḥalāl), verpönt (makrūh) und verboten (ḥarām).9
In den vier sunnitischen Rechtsschulen (maḏāhib) herrscht keine einheitliche Beurteilung bezüglich der Obliegenheit der Beschneidung.10 Die schafiitische und hanbalitische Rechtsschule sehen in der Beschneidung eine religiöse Pflicht (farḍ). In diesem Zusammenhang räumen sie dem Gläubigen keinen individuellen Handlungsspielraum ein.11 Ihre Ansicht leiten sie aus den schon vorher erwähnten Versen im Koran (16:123, 2:124, 2:138) und diversen Hadithen ab.12 Die hanafitische und malikitische Rechtsschule sehen die Beschneidung als eine äußerst empfohlene Handlung (sunna) an, welche mit dem Zusatz al-mūʾakkada versehen ist.13 Sunna al-mūʾakkada bedeutet bestätigte Sunna. Dadurch soll erläutert werden, dass es sich um eine mit Nachdruck empfohlene Prophetentradition handelt, zu welcher Muhammad seine männlichen Anhänger anspornte. Die schiitischen Muslime betrachten die Beschneidung einheitlich als Pflicht (wāǧib) jedes Gläubigen an.14 Darüber hinaus wird die Beschneidung auch bei den Aleviten (ʿalawī) und Drusen (durūz) praktiziert.15
Gemäß breitem Konsens ist die Beschneidung für konvertierte erwachsene Männer zwar nicht obligatorisch, wird jedoch nachdrücklich empfohlen und dementsprechend oftmals vorgenommen. Falls man bereits beschnitten ist, muss man sich keiner zusätzlichen zweiten Beschneidung unterziehen, wie es im orthodoxen Judentum üblich ist. Ausnahmen werden nur erlaubt, wenn die Zirkumzision mit gesundheitlichen Risiken und möglichen bleibenden Komplikationen verbunden ist oder die Vorhaut kaum vorhanden bzw. gering ausgeprägt ist, sodass die betreffende Person de facto schon als beschnitten gilt.16
In muslimischen Kreisen gibt es vereinzelt Gegner der Beschneidung. Ihrer Meinung nach stehe diese Praxis im Widerspruch zum Koran. Sie gehen davon aus, dass Gott den Menschen perfekt erschaffen hat und diese körperliche Unversehrtheit unter allen Umständen gewahrt werden muss.17
Brauchtum und Praxis in der muslimischen Welt
Die Knabenbeschneidung ist auch gegenwärtig ein wesentlicher Bestandteil der islamischen Ritualkultur und wird von nahezu allen Muslimen praktiziert. Die islamische Gemeinschaft ist zudem weltweit die größte religiöse Gemeinschaft, welche die Beschneidung kennt.18 Die Zirkumzision wird ebenfalls von anderen Religionen und Kulturen ausgeübt. Vergleichbar wäre hier die von Juden praktizierte Brit Mila. Die Beschneidung wird selbst von säkularen Juden berücksichtigt, da sie als eine wichtige Komponente jüdischer Identität angesehen wird.19
Die Religionszugehörigkeit des ausführenden Operateurs oder Facharztes ist für die klassischen muslimischen Rechtsgelehrten irrelevant.20 Der Beschneidungsakt darf auch von Frauen vorgenommen werden. Die Operation wird heutzutage im Regelfall im Krankenhaus durchgeführt, meistens in Privatkliniken, die darauf spezialisiert sind. Eingriffe zu Hause, welche durch einen Barbier oder eine Hebamme ausgeführt werden, kommen glücklicherweise immer seltener vor, da es schlichtweg zu gefährlich ist und oftmals zu schweren gesundheitlichen Problemen führen kann.21 Der Zeitpunkt der Beschneidung variiert stark und ist zumeist abhängig von Region, Kultur und Rechtsschule. Eine Begründung hierfür wäre, dass eine einheitliche zeitliche Festlegung nicht vorgegeben ist.22 In Saudi-Arabien beispielsweise wird die Säuglingsbeschneidung praktiziert. Sie erfolgt in der Regel zwischen dem siebten und zwölften Tag nach der Geburt und ist zugleich mit der Namensgebung verbunden.23 In der Türkei sowie in den Balkanländern erfolgt die Beschneidung im Laufe von vier bis dreizehn Jahren.24 In Ägypten werden die Jungen im Alter von fünf oder sechs Jahren beschnitten.25 In Indonesien liegt das Alter der Jungen bei der Beschneidung zwischen fünf und achtzehn Jahren. Im Allgemeinen gilt jedenfalls, dass die Knabenbeschneidung ab dem siebten Lebenstag und bis spätestens dem Beginn der Pubertät stattfinden soll.26
Nach Ansicht der Mehrheit der Gelehrten gibt es im Islam kein zusätzliches Ritual zur klassischen Beschneidung. Es gibt jedoch vereinzelte Stimmen, die eine solche Zeremonie forderten. In der heutigen Praxis folgt der klassischen Beschneidung des Öfteren eine symbolische Beschneidungszeremonie.27 Die Beschneidung eines Jungen spielt für die muslimische Familie eine große Rolle und ist mit einer mehr oder weniger großen Feier verbunden, abhängig von den finanziellen Möglichkeiten und Präferenzen der Familie. In der Türkei wird das Beschneidungsfest (türk. Sünnet Düğünü) pompös gefeiert, wobei viele Verwandte und Freunde eingeladen werden.28 Der beschnittene Junge wird für diesen speziellen Anlass mit einer aufwändig hergestellten Art Uniform und passender Kopfbedeckung eingekleidet. Ein langer Umhang und ein Zepter symbolisieren, dass er an diesem Tag als Prinz bzw. Held gefeiert wird.29 Er wird zudem reichlich mit Geschenken und Süßigkeiten über die erlittenen Schmerzen der Beschneidung hinweggetröstet.30 Auf der Balkanhalbinsel und im Maghreb werden teilweise ähnliche Beschneidungsfeste zelebriert. In Saudi-Arabien und Ägypten werden die beschnittenen Jungen nach ihrer Beschneidung durch die Straßen geführt, mit Musik begleitet und von ihren Familienmitgliedern sowie Außenstehenden bejubelt.31
Medizinische Aspekte der Beschneidung
Die Zirkumzision wird nicht nur aus religiösen Gründen durchgeführt, sondern ebenfalls aus medizinischen, kulturellen und auch ästhetischen. Medizinisch gesehen, ist die Beschneidung eines Jungen die irreversible Entfernung eines zum Körper gehörenden Teils, der sogenannten Vorhaut.32 Dieser Eingriff kann sowohl in lokaler Betäubung als auch in Vollnarkose durchgeführt werden. Indikationen wie eine Vorhautverengung (lat. Phimose), immer wiederkehrende Entzündungen an der Vorhaut und Eichel (lat. Balanitis) oder Entzündungen der ableitenden Harnwege (lat. Urethritis, Cystitis) können eine Beschneidung gesundheitlich rechtfertigen.33 Es gibt unterschiedliche Formen der Beschneidung. Je nach Art und Stil der Zirkumzision wird die Vorhaut des männlichen Glieds entweder ganz oder nur teilweise entfernt. Man unterscheidet demnach zwischen vier Kombinationen: high and tight, high and loose, low and tight und low and loose.34 Obwohl nicht vorgeschrieben ist, in welchem Stil die Beschneidung bei muslimischen Jungen ausgeführt werden soll, werden grundsätzlich die Stile high and tight und low and tight angewendet.
Die Zirkumzision bietet diverse gesundheitliche Vorteile, darunter die einfacher durchzuführende Reinigung des männlichen Gliedes. Sie kann auch vor sexuell übertragbaren Infektionskrankheiten wie Genital-Herpes oder Tripper schützen.35 Außerdem haben beschnittene Männer beispielsweise ein um über 60 Prozent niedrigeres Risiko, sich mit dem HI-Virus anzustecken. Dies ist auch einer der Gründe, weshalb die WHO in Ländern, in denen HIV weit verbreitet ist, die Beschneidung von erwachsenen Männern und von Jungen ausdrücklich empfiehlt. In der Regel sind Komplikationen bei einer Zirkumzision sehr selten. Dennoch kann es hin und wieder, wie bei jedem ärztlichen Eingriff, zu unerwarteten Schwierigkeiten kommen. Mögliche Komplikationen können leichte Schmerzen, Schwellungen, Entzündungen, allergische Reaktionen, Blutungen aus dem Narbenbereich und Verletzungen der Harnröhre sein.36