Schwangerschaftsabbruch, künstliche Befruchtung und Adoption im Islam
In der heutigen Zeit rasanter und weitreichender Entwicklungen im Bereich der Biotechnologie sind auch muslimische ÄrztInnen, JuristInnen und TheologInnen gefordert, sich an den notwendigen, bioethischen und medizinethischen Diskursen zu beteiligen. Es gilt, ethische Prinzipien zu entwickeln und ethische Konflikte zu lösen angesichts der vielfältigen Möglichkeiten der "biologischen und technischen Manipulation menschlichen Lebens".1 Auf der Basis koranischer und prophetischer Aussagen etwa zur göttlichen Vorsehung, zum Verhältnis von Körper und Seele, zur Entwicklung des Embryos im Mutterleib, zu Milchgeschwistern, zum Erbrecht und so fort suchen islamische Gelehrte im Analogieschluss Antworten auf aktuelle Fragestellungen wie jene nach Schwangerschaftsabbruch, künstlicher Befruchtung und Adoption.2
Schwangerschaftsabbruch und Abtreibung
Betreffend die Zulässigkeit eines Schwangerschaftsabbruchs aus islamischer Sicht ist die Festsetzung jenes Zeitpunkts zentral, an welchem der menschliche Embryo eine Seele erhält. In der Zeit des 11. bis 19. Jahrhunderts existierten im islamischen Recht zwei Konzepte parallel, die einerseits von einem Schutzrecht des Embryos ab der Befruchtung ausgingen, andererseits ein solches ab dem 120. Tag festsetzten. Seit den 1980er Jahren, als viele medizinische Neuerungen, insbesondere Reproduktionstechnologien entwickelt wurden, einigte man sich mehrheitlich auf die These, wonach die Beseelung am 120. Tag nach der Befruchtung stattfindet, was etwa 17 Wochen entspricht. Es gibt jedoch auch Gelehrte, die für den 40. bzw. 45. Tag plädieren, entsprechend sechs Schwangerschaftswochen. Sie begründen dies damit, dass frühe embryonale Entwicklungsstadien ein "Leben auf dem Weg zum Menschsein"3 darstellten. Das Vorhandensein der Seele kann freilich nicht empirisch bewiesen werden, sondern basiert auf Offenbarungswissen. Doch aufgrund des Entwicklungsstandes des Gehirns um den 120. Tag geht man von der Existenz eines Willens aus, was mit dem Vorhandensein einer Seele in Verbindung gebracht wird. Dies wiederum impliziert eine "individuelle Personalität"4. Mit der Seele erhält der Mensch somit seinen Status als solchen. Ab diesem Zeitpunkt besteht nach islamischem Recht ein absoluter Schutzstatus, davor ist dieser zwar vorhanden, jedoch in eingeschränkter Form. Folglich ist eine Abtreibung vor dem 120. Tag aus Sicht der meisten Gelehrten möglich, wobei aber zwischen medizinischen und sozialen Indikationen unterschieden wird. Erstere wie eine schwere Behinderung oder eine Erbkrankheit sind mehrheitlich akzeptiert, letztere problematisch. Sollten Gesundheit oder Leben der Mutter aufgrund der Schwangerschaft bedroht sein, ist eine Abtreibung auch nach dem 120. Tag erlaubt.5
Zum Vergleich soll kurz die rechtliche Situation in Österreich dargestellt werden. Grundsätzlich ist Abtreibung in Österreich strafbar (§ 96 StGB). Vor der 16. Schwangerschaftswoche jedoch bleibt eine Abtreibung, bei ärztlicher Durchführung, auf Verlangen der Frau und ohne Indikation, straffrei, nach dieser Frist nur bei Indikation. Weiters ist eine Abtreibung straffrei, wenn dadurch eine "Gefahr für das Leben oder eines schweren Schadens für die körperliche oder seelische Gesundheit der Schwangeren"6 abgewendet werden kann, wenn eine ernste Gefahr der schweren geistigen oder körperlichen Schädigung des Kindes besteht oder die Schwangere zum Zeitpunkt der Zeugung unmündig, d.h. jünger als 14 Jahre, war.7 Zusammenfassend kann man festhalten, dass das islamische Recht bzw. die islamischen Gelehrten immer schon sehr flexibel an das Thema Schwangerschaftsabbruch - wie auch an andere Themen - herangingen. Ausgehend vom selben, koranisch basierten Entwicklungsschema des Embryos bzw. Fetus konnten die Gelehrten unterschiedlicher Rechtsschulen zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen gelangen. Allen gemeinsam war und ist stets der Gedanke, dass der Fetus mit zunehmendem Alter ein zunehmendes Schutzrecht genießt. Unter Berücksichtigung der jeweiligen individuellen Umstände wurde und wird die Entscheidung bezüglich eines Schwangerschaftsabbruchs letztendlich immer für den Einzelfall getroffen.8
Künstliche Befruchtung
Die einfachste Art künstlicher Befruchtung besteht in der Intrauterinen Insemination (IUI), bei welcher die Samenzellen mithilfe eines Katheters direkt in die Gebärmutter übertragen werden und somit der Weg der Samenzellen lediglich mechanisch verkürzt wird.9 Bei der In-Vitro-Fertilisation (IVF) - im Jahr 1978 erstmals erfolgreich durchgeführt - erfolgt die Befruchtung der Eizelle im Labor. Zwecks Erhöhung der Chance auf eine Schwangerschaft werden nach erfolgter Hormonbehandlung der Frau mehrere Eizellen entnommen, befruchtet und eine bis drei davon in die Gebärmutter übertragen.10 Beide Verfahren sind islamrechtskonform, solange sie innerhalb einer aufrechten Ehe zur Behandlung unerfüllten Kinderwunsches erfolgen. Bedingung ist, dass sowohl Ei- als auch Samenzellen von den Ehepartnern stammen müssen. Samenspende, Eizellenspende sowie Leihmutterschaft sind nicht erlaubt.11
Aus ethischer Sicht stellt sich die - noch vor einigen Jahrzehnten unvorstellbare - Frage, wie mit den überzähligen, nicht in die Gebärmutter eingesetzten, befruchteten Eizellen, den sogenannten Zygoten, umgegangen werden soll. Diese sind im Zuge der sich entwickelnden Stammzellenforschung "zu höchst wertvollem Rohstoff geworden"12. Aus islamrechtlichen Quellen ist kein "eindeutiger ontologischer Status eines Embryos in seiner ersten Entwicklungsphase direkt ersichtlich"13. Analog zu Überlegungen in Bezug auf Abtreibung beginnt der Embryonenschutz aufgrund der Schutzwürdigkeit potentiellen Lebens nach strengster Auslegung mit Eintreten der Schwangerschaft, wobei der Beginn derselben mehrheitlich mit der Einnistung in die Gebärmutter (Nidation) definiert wird.14 Die grundsätzlichen Möglichkeiten des Umgangs mit überzähligen Zygoten sind jene der Embryonenspende, der Verwendung zur wissenschaftlichen (Stammzellen-)Forschung sowie das Absterbenlassen. Die Embryonenspende ist islamrechtlich verboten.15 Abweichende Meinungen gibt es dennoch, so betrachtet der schiitische Rechtsgelehrte Ḥasan al-Ǧawāhirī das Austragen eines überzähligen Embryos durch eine andere Frau als dessen biologische Mutter als begrüßenswert, da so sein Leben gerettet werde.16
Generell herrscht die Meinung vor, dass im Zuge von Unfruchtbarkeitsbehandlungen nur so viele Eizellen wie unbedingt notwendig befruchtet werden sollen, um einen Überschuss von vornherein möglichst zu vermeiden, auch wenn der Zygote "kein expliziter schariatrechtlicher Schutz zukommt"17. Überzählige Zygoten sollten eher sich selbst überlassen werden und somit absterben, als aktiv vernichtet zu werden. Teilweise wird die Verwendung befruchteter Eizellen in der wissenschaftlichen Forschung als erlaubt betrachtet, woran allerdings Bedingungen geknüpft sind: Die Zygoten müssen aus einer medizinisch notwendigen Unfruchtbarkeitsbehandlung stammen, dürfen also nicht extra zwecks Forschung gewonnen werden. Die Forschung muss allen Menschen bzw. bestimmten Gruppen von Patienten dienen, nicht lediglich Einzelpersonen. Behördliche Bewilligung sowie das Einverständnis der Eltern sind ebenfalls Voraussetzung.18
Adoption
Adoption (at-tabannī) ist nach islamischem Recht verboten. Dies wird auf einen Offenbarungsanlass bezogen, der mit dem Propheten Muhammad und Zaid bin Harīṯah zusammenhängt. Muhammad hatte seinen Sklaven Zaid in vorislamischer Zeit öffentlich zu seinem Sohn und Erben erklärt. Als Zaid sich von seiner Ehefrau Zaynab bint Ǧaḥš, einer Cousine Muhammads, scheiden ließ, heiratete sie Muhammad selbst. Dies führte zu Kritik, da nach dem Koran (4:23) die Heirat mit einer ehemaligen Schwiegertochter verboten war. Daraufhin wurden Koranverse offenbart (33:37-40 und 33:4-5), die die Rechtmäßigkeit dieser Ehe bestätigten, dem Propheten jeglichen männlichen Nachkommen absprachen und klarmachten, dass adoptierte Söhne nicht leiblichen Söhnen entsprächen. Nach Koran 33:5 sollen die Adoptivsöhne nach ihren wahren Vätern benannt werden.19 Üblicherweise wird angenommen, dass Adoption in vorislamischer Zeit weitverbreitet gewesen sei bei rechtlicher Gleichstellung von Adoptivsöhnen mit leiblichen Söhnen, und dass diese Praxis mit dem Islam beendet worden sei.20 Ella Landau-Tasseron widerspricht dieser Annahme und weist außerdem darauf hin, dass sowohl in vorislamischer Zeit als auch nach der Entstehung des Islam Adoption, Vaterschaftsanerkennung und auch das Fälschen von Abstammungslinien vorkamen, obwohl im Islam letzteres verurteilt wird, Adoption verboten ist und Vaterschaftsanerkennung beschränkt möglich, aber mit Bedingungen verknüpft ist. Diese drei Praktiken werden in den islamischen Quellen und Abhandlungen von Gelehrten aber oftmals vermischt, was auch mit der Uneindeutigkeit der verwendeten Begriffe zusammenhängt. Vaterschaftsanerkennung und Milchverwandtschaft scheinen teilweise zur Umgehung des Adoptionsverbots benutzt worden zu sein, um Personen in den Familienverband aufzunehmen, da in beiden Fällen eine legale Verwandtschaft entsteht.21
Zur Versorgung von Waisen bietet das islamische Recht statt einer Adoption die Möglichkeit einer Bürgschaft (al-kafālah) in Form einer Patenschaft oder Pflegschaft. Es entsteht kein Erbschaftsanspruch, doch kann ein Erbe auch testamentarisch festgelegt werden. Im Jahr 2015 gehörten unter den muslimisch geprägten Ländern nur Tunesien und die Türkei zu jenen, die Adoption erlauben. Im Westen hingegen werden häufig auch von muslimischen Paaren Kinder adoptiert oder aber als Pflegekinder aufgenommen.22 Hinsichtlich der islamrechtlichen Vorgabe, Adoptivkindern nicht den Namen der Adoptiveltern zu geben, besteht in Österreich kein Problem, da es nicht automatisch zu einer Namensänderung kommt. Allerdings sind Adoptivkinder gegenüber den Adoptiveltern erbberechtigt, was mit den islamrechtlichen Vorgaben kollidiert.23