Der Prophet Muhammad als Mensch
Der Prophet Muhammad gehört ohne Zweifel zu den wichtigsten Persönlichkeiten der Weltgeschichte. Sein großer Einfluss auf die Menschheitsgeschichte ist unbestritten. Besonders für die MuslimInnen besitzt seine Persönlichkeit als Verkünder und Erläuterer der göttlichen Botschaft eine große Vorbildfunktion. Im Koran heißt es: „Wahrlich, im Gesandten Gottes habt ihr ein gutes Beispiel für jeden, der (mit Hoffnung und Ehrfurcht) dem Letzten Tag entgegensieht und unaufhörlich Gottes gedenkt.“1 Darüber, dass Prophet Muhammad eine Vorbildwirkung besitzt und den Idealtypus eines vollkommenen Menschen (al-insān al-kāmil) darstellt, sind sich MuslimInnen aller Strömungen, Richtungen und Rechtsschulen einig. Auch der vorbildliche Charakter seiner Handlungen und Aussagen ist weitgehend unbestritten, da er als das Siegel der Propheten (ḫātam an-nabiyīn)2 gilt. Seine Tradition, die Sunna, zählt neben dem Koran zu der zweiten Hauptquelle des Islam.
Trotz der Übereinstimmung über die bedeutende Rolle des Propheten, haben sich unterschiedliche und teilweise widersprüchliche Zugänge zu seiner Person und seiner Mission entwickelt. Diese Zugänge können in drei Gruppen unterteilt werden.
Die erste Gruppe zeichnet sich dadurch aus, dass der Prophet so sehr verehrt wird, dass ihm sogar übermenschliche Charaktereigenschaften zugeschrieben werden. Im Gegensatz zu der ersten Gruppe, reduzieren die Protagonisten der zweiten Gruppe den Propheten lediglich auf die Rolle des Botschafters bzw. Übermittlers der Offenbarung. Die Mittelposition zwischen diesen Vorstellungen ist diejenige, in der Prophet Muhammad sowohl als Mensch als auch als Prophet wahrgenommen und als eine Barmherzigkeit Gottes3 angesehen wird.4 Es sei erwähnt, dass wir hierbei stets mit einer Grundspannung „zwischen religiös-normativer und historischer Betrachtungsebene der Person Muhammads“5 zu tun haben. In Anbetracht dieser Tatsache ist es nicht verwunderlich, dass entsprechend der weltanschaulichen und zeithistorischen Kontextualisierungen die Muhammad-Rezeption stets zu unterschiedlichen Urteilen gelangt und daher von Faszination, Kritik oder gar Ablehnung geprägt ist.6 Umso wichtiger erscheint ein differenzierter Zugang zum Propheten Muhammad, der es ermöglicht zwischen seinen persönlichen Meinungen und Haltungen und denen, die Teil seiner Mission sind, zu unterscheiden. Genau daran will dieser Beitrag anknüpfen.
Dabei soll zwischen Muhammad, dem Propheten, und Muhammad, dem Menschen, unterschieden und anhand einiger weniger Beispiele die menschliche Komponente aufgezeigt werden.
Der Prophet als Mensch im Koran
Der Koran beinhaltet wenige direkte Informationen über das Leben des Propheten. Diese wenigen Hinweise reichen jedoch aus, um zu verstehen, welches Prophetenbild der Koran bemüht ist zu vermitteln. Dabei geht es u.a. auch darum, dass die menschliche Komponente des Propheten7 nicht ausgeblendet bzw. vergessen wird. Daher finden sich im Koran einige Beispiele, die unserer Auffassung nach genau dafür gedacht zu sein scheinen, um die menschliche Komponente des Propheten zu unterstreichen, und um zu vermeiden, dass ihm aufgrund seiner Rolle, Merkmale zugeschrieben werden, die sein menschliches Wesen und alles das, was damit verbunden ist, ausblenden würden.
In diesem Zusammenhang wird im Koran ein Ereignis geschildert, das sich noch zu einem sehr frühen Zeitpunkt der Offenbarung abgespielt hat. Darin hat sich der Prophet eines Tages mit den führenden Mitgliedern und Oberhäuptern der Mekkaner unterhalten und ihnen – in der Hoffnung sie für seine Botschaft zu gewinnen – den Islam erklärt. Mitten in diesem Gespräch kommt der blinde ʾAbdullāh ibn Umm Maktūm (gest. 636) mit dem Wunsch, ihm einige Passagen des Korans zu erläutern. Da die Oberhäupter eine Unterbrechung des Gesprächs zugunsten eines Blinden jedoch sehr missbilligt hätten und der Prophet dieses Gespräch mit ihnen als wichtig ansah, wandte er sich von dem Blinden ab und runzelte dabei die Stirn.8 Daraufhin wurde die Sura ʾAbasa offenbart, in der es heißt: „Er runzelte die Stirn und wandte sich ab, weil der Blinde zu ihm kam! Doch bei allem, was du wußtest, (o Muhammad,) er wäre vielleicht an Reinheit gewachsen oder er hätte (an die Wahrheit) erinnert werden können und ihm hätte durch diese Erinnerung geholfen werden können. Was nun den angeht, der sich für selbstgenügend hält – ihm hast du deine ganze Aufmerksamkeit gegeben, obwohl du nicht verantwortlich bist für sein Versagen, Reinheit zu erlangen; aber was den angeht, der voller Eifer zu dir kam und in Ehrfurcht (vor Gott) – den hast du mißachtet!“9
Dass der Koran diesen göttlichen Tadel durch einen Vers verewigt, zeigt u.a., dass es ein Anliegen Gottes zu sein scheint, deutlich zu machen, dass auch Prophet Muhammad, wie alle anderen Propheten, nur ein Mensch ist und daher in Situationen die von der Offenbarung nicht gedeckt sind, wie im erwähnten Fall, vor Fehlverhalten nicht gefeit ist.
Weitere ähnliche Beispiele sind folgende Verse: „Und, siehe, sie (die irregegangen sind,) bemühen sich, dich von all (der Wahrheit) wegzulocken, die Wir dir eingegeben haben (o Prophet), mit der Absicht, dich etwas anderes in Unserem Namen erfinden zu lassen – in welchem Fall sie dich sicherlich zu ihrem Freund gemacht hätten! Und hätten Wir dich nicht fest (im Glauben gemacht), du hättest ihnen ein wenig zuneigen mögen“.10 Die hier erwähnte Offenbarung beziehe sich, so Muhammad Asad, auf ein Kompromissangebot seitens der Mekkaner, bei dem Muhammad einige ihrer Gottheiten anerkennen sollte und im Gegenzug hätten sie ihn als Propheten anerkannt und ihn zum Führer gemacht. Der Prophet lehnte dieses Angebot zwar ab, erntete aber die Ermahnung Gottes, weil er möglicherweise in Anbetracht der schwierigen Lage, in der sich die muslimische Gemeinde zu dieser Zeit befand, nicht energisch und entschlossen genug reagierte.11
Eine weitere Warnung erhielt der Prophet als er beim Feldzug von Tabūk (630), eine voreilige Entscheidung traf und einige seiner Gefährten, auf ihren Wunsch hin, von der Verpflichtung zur Teilnahme am Feldzug freisprach.12 Dazu heißt es im Koran: „Möge Gott dir verzeihen (o Prophet)!“13
Der Prophet als Mensch in den Traditionsüberlieferungen
Parallel zu den koranischen Aussagen liegen uns auch Überlieferungen vor, die die menschliche Seite der Person Muhammads hervorheben. Im ṣaḥīḥ al-Buḫārī wird überliefert, dass der Prophet eines Tages das Gebet nicht vollständig verrichtet habe, und die Gefährten darüber im Zweifel waren, ob beim Gebet etwas Neues geschehen sei oder ob der Prophet lediglich etwas vergessen hatte. Als sie ihn darauf ansprachen, sagte er: „Wäre etwas Neues im Gebet geschehen, so hätte ich es euch von selbst mitgeteilt. Doch ich bin nur ein Mensch wie ihr, der auch vergisst, wie ihr vergesst. Wenn ich etwas vergesse, so erinnert mich daran.“14
Als weiteres Beispiel gilt die Schlacht bei Badr, als der Prophet seine eigene Strategie änderte, nachdem seine Gefährten ihm von seiner eigenen abrieten. Sie schlugen ihm eine andere Strategie vor, nachdem sie vom Propheten erfahren hatten, dass die von ihm vorgeschlagene seine persönliche Präferenz war und nicht durch eine göttliche Offenbarung festgelegt wurde. Daraufhin folgte er dem Rat seiner Gefährten.15
Die erwähnten Ereignisse sind nur einige unter vielen Beispielen, die zu diesem Thema zu finden sind, in dem die menschliche Komponente des Propheten Muhammad deutlich zum Ausdruck gebracht wird.
Schluss
Dass im Koran aber auch in den Überlieferungen Ereignisse festgehalten werden, die auf die menschliche Natur des Propheten hinweisen, kann nicht mit Zufall erklärt werden. Daher muss sich jeder Muslim darüber Gedanken machen, was damit beabsichtigt wird und wie dies in der Praxis umgesetzt werden kann. In unserem Kontext erscheint es sinnvoll darauf aufmerksam zu machen, dass von dieser koranischen Vorgehensweise abgeleitet werden kann, dass nicht alles was der Prophet getan und gesagt hat als religiös verbindlich oder relevant zu betrachten ist. Wie bereits aufgezeigt gibt es viele überlieferte Ereignisse, die auf diese Tatsache hinweisen und indirekt davor warnen, alles, was über den Propheten überliefert wird, als eine allgemeinverbindliche Norm zu betrachten und zu versuchen, ohne den Entstehungskontext zu berücksichtigen, diese im eigenen Kontext anzuwenden.16 Dieser eher undifferenzierte Zugang zu der Person des Propheten Muhammad, der diese Nuancen ausblendet, hat zu vielen Missverständnissen geführt, unter denen die MuslimInnen auch heutzutage noch leiden. So schreibt Annemarie Schimmel, dass die Verehrung des Propheten mit der Zeit solche Ausmaße erreichte, dass sich Literaturgattungen entwickelten, die sich eigens mit seinem Aussehen und seinen Eigenschaften beschäftigen.17 Eines dieser, unter den MuslimInnen, allseits bekanntes Werk liegt uns auch im Deutschen unter dem Titel „So war der Prophet. Die Wesensart des Propheten Muhammad (al-Schamāʾil al-Muhammadiyya)“ von at-Tirmiḏī (gest. 892) vor. Darin wird über das Haar (ab S. 43), die Haarpflege (ab S. 46), das Haarefärben (ab S. 52), die Kleidung (ab S. 57), die Sandalen (ab S. 67), den Ring (ab S. 76), den Turban (ab S. 88), das Sich-Aufstützen des Propheten (ab S. 102) und vieles mehr geschrieben.18
Auch wenn es verständlich ist, dass man über solch eine bedeutende Figur auch die kleinsten Details erfahren will, darf dies nicht dazu führen, dass ausgeblendet wird, dass auch der Prophet ein Mensch war, der gegessen, geschlafen, getrunken und gearbeitet hat, auch wenn er sich von anderen Menschen durch seine Eigenschaften und seine Mission unterschieden hat.