Die Reise ins Innere - Spirituelle Dimensionen der islamischen Pilgerfahrt

Artikel 26.01.2022 Redaktionsteam

Der vorliegende Beitrag gibt Einblick in die spirituellen Dimensionen der islamischen Pilgerfahrt. Nach einer Einführung in die Thematik wird der spirituelle Nutzen des Pilgerns im Islam anhand ausgewählter Situationen und Gefühlslagen von Pilgern aus Reiseberichten erörtert.


Die Pilgerfahrt im Islam

Pilger- und Wallfahrten gehören zu den ersten und ältesten Reisen in der Geschichte der Menschheit und sind Bestandteil vieler Religionen der Welt.

So unternehmen auch Millionen von MuslimInnen jedes Jahr die Pilgerfahrt, genannt Hadsch, was wortwörtlich etwa „das Hinstreben zu einem Ziel“ bedeutet.1 Die Pilgerfahrt erfolgt jährlich in den ersten zehn Tagen des islamischen Monats ū l-ḥiǧǧa, nach genau festgelegten Regeln und Ritualen, zu den Pilgerstätten Mekka mit der Kaaba, den Hügeln aṣ-Ṣafā wa-l-Marwa, Medina, Muzdalifa, Minā, ʿArafāt und weiteren Orten, wo man in den Ihram, den rituellen Weihezustand zum Hadsch, eintritt.2

Die Pilgerfahrt ist die letzte der fünf Säulen des Islams, deren Durchführung für MuslimInnen zumindest einmal im Leben obligatorisch ist. Den ausschlaggebenden Koranvers dazu findet man in Koran 3:97: „[…] (Es ist) die Stätte, auf der Abraham einst stand; und wer immer sie betritt, findet inneren Frieden. Darum ist die Pilgerfahrt zum Tempel eine Pflicht, Gott geschuldet von allen Leuten, die fähig sind, sie zu unternehmen […]“3

In diesem Vers wird ersichtlich, dass Gott nur jene Gläubigen zur Pilgerfahrt verpflichtet, die dazu fähig sind, womit jene gemeint sind, die gesundheitlich und finanziell dazu in der Lage sind. 

Spiritualität und Islam

Bevor auf die Spiritualität der islamischen Pilgerfahrt eingegangen wird, sollte zuerst die Frage geklärt werden, was unter Spiritualität im Allgemeinen zu verstehen ist; „Spiritualität bedeutet im weitesten Sinne eine Form von Geistigkeit als Gegensatz zum rein rationalen Denken und einer materiellen Körperlichkeit. […] Spiritualität bezeichnet das Bewusstsein, dass die menschliche Seele ihren oder der menschliche Geist seinen Ursprung einer göttlichen oder transzendenten Instanz verdankt oder zu einer absoluten höheren Wirklichkeit in Beziehung steht. […]“4

Spricht man nun von Spiritualität im islamischen Kontext, scheint diese Definition des österreichischen Psychologen Werner Stangl passend, die besagt, dass die menschliche Seele oder der menschliche Geist ihren Ursprung einer göttlichen Instanz verdanke, also im islamischen Fall Gott. Außerdem stehe diese Seele zu einer absoluten höheren Wirklichkeit (nach islamischem Verständnis Gott) in Beziehung und Verbindung.

Die Durchführung der Pilgerfahrt ist den MuslimInnen im Koran, dem göttlichen Wort, verordnet und bietet folglich die Möglichkeit, dass beim Hadsch eine geistige Verbindung des Menschen zu Gott entsteht.

Der Anblick der Kaaba: zwischen Freude, Tränen und Überwältigung

Für die meisten MuslimInnen stellt daher die Pilgerfahrt nicht nur eine Reihe körperlicher Pflichten, sondern auch oft den Höhepunkt ihres spirituellen Lebens dar. Denn abgesehen von der Erfüllung eines Gebotes Gottes mit allen dazugehörenden Ritualen, hat die Pilgerfahrt auch einen spirituellen Nutzen. So soll laut dem erwähnten Koranvers das Verweilen bei der Kaaba inneren Frieden bringen, wobei hier nicht einmal auf ein bestimmtes Ritual hingewiesen wird, das Dasein und der Anblick reichen bereits aus. 

„Der Anblick war ergreifend. Unmittelbar. Ohne Betrachtung oder Reflexion. Die einfache Form der Kaaba, das schwarze Brokat – die Kiswah, schön wie ein Brautschleier – […] Die Atmosphäre von Erregung und Beglückung, aufgeladen mit den Lebensträumen, die sich in diesen Augenblicken verwirklichten. Und ohne nachzudenken, ohne mich vorbereitet zu haben, kam in mir ein bestimmter, klarer Wunsch auf, und meine Augen füllten sich mit Tränen“5, so Ilija Trojanows persönliche Erfahrung seines ersten Anblicks der Kaaba. Über das Gefühl der Freude, positiven Fassungslosigkeit und vor allem der Überwältigung erzählen viele andere, die zum ersten Mal die Kaaba erblickten oder ihr Gebet während des Hadschs verrichteten. So berichtet auch Michaela Mihriban Özelsel: „Ich weine schon wieder, mehr und mehr. Unter all den Tränen muss ich lachen, als mir in den Sinn kommt, dass ich ja mein sonst gewohntes Augen-Make-up gar nicht trage: Nichts kann verschmieren! Auch gut zu sehen, dass mein emotionaler Ausbruch in dieser Gruppe keinen sonderlich zu stören scheint: Viele Augen sind genauso nass wie meine – wie auch gerade im Hier und Jetzt wieder.“6

Eine Versammlung Gleicher

Zudem stärkt die Pilgerfahrt das Gemeinschaftsgefühl unter den muslimischen Gläubigen. Sie ist nicht nur eine individuelle Pilgerschaft, sondern auch eine Versammlung Gleicher, eine Beschwörung der Umma, der muslimischen Gesellschaft.7 Monate vorher bereitet man sich, meist in Gruppen und Organisationen, auf die anstehende Pilgerfahrt vor und, am Ziel angekommen, erfolgen die meisten Etappen der Pilgerfahrt in Gemeinschaft. Dadurch entstehen auch oft Freundschaften, weil man Rituale sowie Emotionen miteinander teilt.

Ein Punkt, welcher ebenso das Gemeinschaftsgefühl stärkt und das eigene, egozentrierte Denken vermindert, sind die einfachen weißen Gewänder (ebenso wie der Weihezustand Ihram genannt), die Männer während der Pilgerfahrt tragen. Frauen dürfen ihre Pilgerkleidung selbst aussuchen, wobei sie mehrheitlich zu ähnlichen weit geschnittenen Kleidern in gedeckten Tönen greifen. Das ähnliche Aussehen der Pilger, die während der Pilgerfahrt alle dieselben Riten erfüllen, verdeutlicht die Gleichheit aller Menschen vor Gott. Ein Beispiel dafür liefert folgende Aussage: „Könnte man die ganze Welt zur Gebetszeit mit einem Blick erfassen, so würde man die konzentrischen Kreise der Betenden erkennen, die sich zur Kaaba hin ausrichten. Beim Gebet bildet die Umma […] ein islamisches Ornament.“8 Dieses „beeindruckende Bild von Millionen von Körpern, die sich nun im Gleichklang bewegen“9 bezieht sich auf das gemeinsame Gebet der Pilger, verstärkt bildlich den Ausdruck der Umma und erscheint nach außen ästhetisch wie ein Ornament, da eine große Anzahl von Betenden gleichzeitig dieselben Bewegungen verrichtet.

Das Bitten um Vergebung am Berg Arafat

Das wohl zentralste Ereignis der Pilgerfahrt ist das Verweilen am Berg Arafat bzw. das Stehen vor Allah am 9. Tag des ū l-ḥiǧǧa. Tausende von Menschen wenden sich hier Gott zu und bitten den ganzen Tag um Vergebung für ihre Sünden. Diese Praxis soll an Adam und Eva erinnern, die sich, nachdem sie aus dem Paradies vertrieben worden waren, an dieser Stelle auf der Erde wiederfanden. Über diesen bedeutungsvollen Tag berichtet Trojanow wie folgt: „Wir nutzen die Zeit, die allerletzten Minuten vor dem Sonnenuntergang, um noch einmal um Vergebung zu flehen, um Gottesfurcht zu beten, um einen leichten Tod, eine positive Bilanz am Tag des Gerichts und die Erfüllung der Gebete ein Leben lang.“10 

Die Steinigung des Teufels und der eigenen nafs

Am zehnten und offiziell letzten Tag der Pilgerfahrt begeben sich die PilgerInnen von Muzdalifa nach Mina, um mit mindestens sieben Steinchen den Teufel an den drei Säulen zu „steinigen“. Diese Praxis soll an die Versuchung Ibrahims erinnern, der vom Teufel aufgefordert wurde, Gottes Befehl zu widersprechen. Mit jedem Wurf rufen die PilgerInnen „Allah ist am Größten“, was in diesem Fall aufzeigen soll, dass Gott allein die wahre Macht hat, nicht der Teufel, der die Menschen von Gottes Weg abbringen will. Spirituell gesehen kann die Steinigung des Teufels symbolisch auch als die „Steinigung“ des eigenen Egos, der nafs, gesehen werden. Özelsel geht dabei vor allem auf die eigenen Wünsche ein, die sie in ihrem bisherigen Leben hatte, welche sie aber nicht immer glücklich gemacht haben. So wünscht sie sich, während sie die Säulen mit den Steinen bewirft, nur noch Gott zu wollen.11 Sie wünscht sich, nicht zu wünschen, und zitiert damit den islamischen Mystiker Bayazid Bistami (gest. 875).

Fazit

Die islamische Pilgerfahrt nach Mekka, der Hadsch, ist ein bedeutungsvolles Ereignis im Leben muslimischer Gläubiger, denn die Rituale bzw. allein schon das Betrachten und Erleben des heiligen Ortes an der Kaaba löst überwältigende Gefühle aus. Doch aufgrund der heutigen Menschenmassen empfinden es MuslimInnen oft als schwierig, die erstrebte Spiritualität zu erleben, und sie erhoffen sich angesichts des Gedränges, des beengten Raumes beim Beten und egoistischer Verhaltensweisen mehr Harmonie und Rücksicht unter den Gläubigen vor Ort. Dennoch hat die islamische Pilgerfahrt ihre große Bedeutung sowie ihren traditionellen Ablauf bewahrt, einerseits, weil sie zu den fünf Säulen des Islams gehört, und andererseits, weil in ihren Ritualen ein spiritueller Nutzen für die Gläubigen enthalten ist. Die meisten Pilger sind während der Pilgerfahrt emotional sehr beeindruckt und oftmals von Gefühlen überwältigt. Durch die vielen Gebete stehen sie fast durchgehend seelisch in Verbindung zu Gott. Sie bitten sehr oft um Vergebung und sehen die Chance, ihren Charakter zu verbessern. Idealerweise behalten sie diesen positiven Zustand bei, wenn sie nach der Pilgerfahrt wie neugeboren nach Hause zurückkehren.

1 Vgl. Aḥmad A. Reidegeld: Handbuch Islam. Die Glaubens- und Rechtslehre der Muslime, Kandern: Spohr 2005, S. 589.

2 Vgl. A. A. Reidegeld 2005, S. 589.

3 Vgl. Muhammad Asad [Übers.]: Die Botschaft des Koran: Übersetzung und Kommentar, Ostfildern: Patmos-Verl. 2017, Koran 3:97.

4 Werner Stangl: »Spiritualität«, in: Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik, 2022, https://lexikon.stangl.eu/16595/spiritualitaet, abgerufen am 20.01.2022.

5 Ilija Trojanow: Zu den heiligen Quellen des Islam. Als Pilger nach Mekka und Medina (= Malik National Geographic, Band 569), München: Malik 2015, S. 29.

6 Michaela M. Özelsel: Pilgerfahrt nach Mekka. Meine Reise in eine geheimnisvolle Welt, Frankfurt am Main: Hans-Jürgen Maurer 2014, S. 23.

7 Vgl. I. Trojanow 2015, S. 15.

8 Ebd., S. 31.

9 M. M. Özelsel 2014, S. 86.

10 Ebd., S. 97.

11 Vgl. M. M. Özelsel 2014, S. 96.

Özelsel, Michaela M.: Pilgerfahrt nach Mekka. Meine Reise in eine geheimnisvolle Welt, Frankfurt am Main: Hans-Jürgen Maurer 2014.

Trojanow, Ilija: Zu den heiligen Quellen des Islam. Als Pilger nach Mekka und Medina (= Malik National Geographic, Band 569), München: Malik 2015.

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